Mami ist im Himmel - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Mami ist im Himmel

Lesedauer: 5 Minuten

Kein Ereignis ist für ein Kind so traumatisch wie der Tod der eigenen Mutter oder des Vaters. Zwei Familien erzählen von dem Unfassbaren und wie sie den Weg zurück ins Leben gefunden haben.

Text: Evelin Hartmann
Fotos: Herbert Zimmermann/ 13 Photo

Mit einer Schwellung in der Schulter geht Karin Wehrli Gisi zum Arzt. Die Diagnose: Melanom, schwarzer Hautkrebs, mit Metastasen im ganzen Körper. Danach geht alles ganz schnell. Ein Versuch mit einer Misteltherapie löst hohes Fieber aus, die damals 38 Jahre alte Frau wird sofort ins Spital überwiesen. «Erich, kümmerst du dich um die Kinder?» «Natürlich», antwortet ihr Mann und kann nur noch zuschauen, wie sich seine Frau beruhigt in sich selbst zurückzieht. Zum Sterben.

Erich Gisi, 46, aus Wolhusen LU bleibt nach dem Tod seiner Frau im Sommer 2008 mit vier Kindern allein zurück. Sein Jüngster, Elia, ist gerade mal 2 Jahre, Noah 4, Simone 8 und Jonas 10 Jahre alt. In der Schweiz sterben jährlich etwa 1000 Väter und 400 Mütter von minderjährigen Kindern und Jugendlichen und hinterlassen mehr als 2000 Halbwaisen. Wie trägt man als Mutter oder Vater seine Kinder durch ein Tal, wenn man vor Schmerz selbst kaum noch gehen kann?

Dieser Verlust ist wie eingebrannt, aber es wird leichter mit den Jahren.

Erich Gisi

«Nach ihrem Tod habe ich mir einen Mantel übergezogen, durch den nichts zu mir durchdringt», erklärt Erich Gisi seine Strategie, um Normalität in seinen Tag zu bringen, der alles andere als normal war. Sein Arbeitgeber gibt ihm einen Monat frei, einen weiteren Monat kann er später nacharbeiten.

Auch in seinem Umfeld erfährt er grosse Solidarität. Eine Nachbarin hilft ihm im Haushalt, mit den Kindern. So muss er für eine Kinderbetreuung nicht zahlen und kann seine Arbeit in einem 50-Prozent-, später in einem 70-Prozent-Pensum wieder aufnehmen. Die Kinder brauchen ihn.

Während sich Jonas zurückzieht, weint Simone viel, will über die Mutter reden, nachts kommen die beiden Kleinen in sein Bett, suchen die Nähe des Vaters, der nun Vater und Mutter zugleich ist.

Erich Gisi mit seinen Buben auf dem Friedhof. Das Grab pflegt die Familie zusammen.
Erich Gisi mit seinen Buben auf dem Friedhof. Das Grab pflegt die Familie zusammen.

«Manchmal konnte ich diese Nähe nur schwer ertragen, ich habe ja auch getrauert», gibt Erich Gisi zu und: «Trauer ist kein Zug, der, einmal den Bahnhof verlassen, nicht wiederkommt, sie erwischt dich kalt, immer wieder, durch eine Bemerkung, ein Foto.» In einem Trauerseminar setzt er sich mit seinen Gefühlen auseinander. Es wird besser.

Und doch. Zu Elternabenden geht er allein. «Diskutiert das zu Hause einmal miteinander», fordert die Lehrerin die Mütter und Väter auf. Doch mit wem hätte Erich Gisi das besprechen sollen? Auch als Jonas in der Pubertät anfängt in der Schule zu rebellieren, steht Erich Gisi alleine da.

Die ersten Jahre nimmt er Hilfe an, wo er sie bekommen kann, aber mit der Zeit beginnt ihn das Mitgefühl auch zu stören. «Du bist schon ein ganz Armer», liest er in den mitleidigen Gesichtern. «Das bin ich nicht!», findet er. «Dieser Verlust ist wie eingebrannt, aber es wird anders, leichter mit den Jahren.»

Es ist der 2. August 2010, eine Hotelanlage in Tunesien. «Daniel wollte nur schnell unsere Handtücher zum Pool bringen, Liegen reservieren», erinnert sich Andrea Wiesmann an den Tag, der ihr Leben veränderte. Auf dem Ferienprogramm steht eine Kameltour, danach: Sonnenbaden am Pool.

Aber der Familienvater kommt nicht wieder. Nach einer Weile geht seine Frau los, nachschauen, der festen Überzeugung, ihn in ein Gespräch verwickelt zu treffen.

Andrea, Patrick und Jeremy (links) 
Andrea, Patrick und Jeremy (links) 

Stattdessen findet sie ihn auf einer Liege, die Augen geschlossen, das Gesicht kreideweiss. Eine deutsche Touristin kniet neben ihm. Sie nimmt Andrea Wiesmann in die Arme. Herzmassage, Mund-zu-Mund-Beatmung, dann der Notarzt.

Herzstillstand schreibt er in ein Formular, klappt seinen Medizinkoffer zu, verabschiedet sich. Um sie herum eine Traube aus Hotelgästen in Badehose und Bikini. «Aber Sie müssen ihn doch mitnehmen, ihm helfen.» – «Andrea, er ist tot.»

Andrea Wiesmann möchte stark sein, während sie das erzählt. Fünf Jahre später, am Küchentisch im heimischen Dietikon ZH. Ihre Buben Jeremy, 13, und Patrick, 10, sitzen neben ihr. Einer links, der andere rechts. Patrick nimmt die Hand der Mutter, streichelt ihren Arm. Andrea Wiesmann sieht ihn an. «Ihr müsst mitkommen, es ist was mit Papa», habe sie damals gesagt und ihre Söhne durch die Hotelanlage geführt. Die Buben sind aufgeregt. «Psst, seid leise, die anderen Gäste schlafen noch.»

«Wie absurd», sagt sie heute, wenn sie an die Ermahnung zurückdenkt. «Ich war wie in Trance.» Ihr Zustand die nächsten Sekunden, Minuten, Stunden. Zwei Tage später fliegt die Familie nach Hause. Getrennt. Mutter und Söhne in einer Maschine, der Vater im Frachtraum einer anderen.

Wir können doch nicht umziehen, dann findet uns Papa nicht mehr.

Patrick Wiesmann

«Ich habe einfach funktioniert», erinnert sich Andrea Wiesmann an das erste Jahr ohne den geliebten Mann und Vater. Zu gross der Schock. Man stirbt im Alter, nicht mit 47. Aufstehen, die Kinder in den Kindergarten, die Schule bringen, kochen, schlafen – alleine in einer Wohnung voller Erinnerungen. An Weihnachten kommen die Schwiegereltern, es gibt Butterzopf und Citterio-Salami. Wie jedes Jahr. Sie gehen auf den Friedhof, danach ist Bescherung.

Die Witwe hält sich aufrecht, wird gestützt von Freundinnen, ihren Geschwistern, lieben Menschen. «Die Anteilnahme war riesig, fast schon zu gross», sagt sie. Das lag auch an Daniel, da ist sie sich sicher. Dem lebenslustigen Spassvogel, dem Metzgermeister bei Coop, dem Vereinsmenschen, der sich in Gesellschaft am wohlsten gefühlt hat. Seine Familie lässt man nicht allein mit dieser Last.

Hilfe für Betroffene

Der Verein Aurora für verwitwete Mütter und Väter in der Schweiz hilft mit Infos weiter und vermittelt Kontakte zu anderen Witwen und Witwern. Einmal im Monat bieten die verschiedenen Regionalgruppen Treffen für die hinterbliebenen Partner an, ausserdem gibt es Wochenendanlässe für die ganze Familie sowie einmal im Jahr eine Ferienreise. Beratung und Infos: www.verein-aurora.ch

«Aber im zweiten Jahr war das auf einmal vorbei. So, als ob die Trauer für alle anderen abgeschlossen war», erinnert sich Andrea Wiesmann. «Aber die Trauer kommt in Wellen», weiss sie heute, «sie schwappt über dir zusammen und zieht dich hinab.» Im Frühling 2011 nimmt sie die Hilfe einer Psychologin in Anspruch, reden hilft, weinen auch.

Und die Buben? Psychologen sagen, Kinder haben je nach Alter ein anderes Verständnis von Sterben und Tod. Bis etwa 8 Jahre erfassen sie die Endgültigkeit nicht. Sie leben in dem Gefühl, Mama oder Papa kämen wieder.

Der Verlust habe Patrick verändert, sagt seine Kindergärtnerin. Patrick wird anhänglich, will nur noch auf dem Schoss seiner Mutter sitzen, nicht mehr alleine schlafen. «Mama, wir können doch nicht in eine andere Wohnung ziehen, dann findet uns Papa nicht mehr.» An seinem ersten Schultag sitzt seine Mutter alleine neben ihm in der grossen Aula.

Im Zuhause erinnern viele Fotos an den Vater.
Im Zuhause erinnern viele Fotos an den Vater.

Jeremy ist der Grosse, der Vernünftige. «Wenn ich abends im Bett liege rede ich mit Papa», sagt er und legt seine Hand auf ein altes rotes Buch. «Leitfaden für Metzgerlehrlinge», steht darauf geschrieben. Sein grösster Schatz. Er hat es vom Vater – Jeremys Berufswahl steht fest.

Etwas Gutes tun soll sie sich, hat die Psychologin geraten. Andrea Wiesmann lächelt und weiss, dass sie das eher für ihre Buben tut. Nein sagen ist schwer, wenn der Vater gestorben ist. Sie schliesst sich dem Verein Aurora für verwitwete Mütter und Väter (siehe Box unten) an, und trifft auf Menschen, die ihr Schicksal teilen. Sie tauscht sich aus, kann die Kinder zu den Familienanlässen mitbringen, auch gemeinsame Ferienreisen werden angeboten. Das tut gut.

«Am Anfang denkst du, du bist ganz allein, hier merkst du, dass das nicht stimmt», bestätigt Erich Gisi. Nach Jahren hat er über den Verein auch wieder eine Partnerin kennengelernt. Die Frage «Wann darf ich mich wieder verlieben?» treibe viele Verwitwete um, weiss Sibylle Blum vom. Da hilft es jemanden zu treffen, der versteht, dass der verstorbene Partner immer präsent sein wird, dem man sich nicht erklären muss, weil er das Gleiche erlebt hat.

Und doch mache es genau das auch schwerer, nach vorne zu schauen. Andrea Wiesmann hat seit einem Jahr wieder einen neuen Partner. Das sei schön. Die Kinder akzeptieren ihn, aber den Vater könne er nicht ersetzen. Sie hat lange mit sich gehadert. Die Frage nach dem Warum trieb sie um. Aber es ist der Satz einer Freundin, der ihr Kraft gibt: «Daniel wäre nie gegangen, wenn er nicht gewusst hätte, dass du es alleine schaffst!»

Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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