«Kneif mich, wenn ich wie ein Erstklässler mit dir rede» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Kneif mich, wenn ich wie ein Erstklässler mit dir rede»

Lesedauer: 3 Minuten

Mehrmals pro Woche fährt Sidona Gianella zu ihrer demenzkranken Mutter und begleitet sie zu Arztterminen, trifft Absprachen mit den Dienstleistern, die ihr die Bewältigung ihres Alltags ermöglichen. Oder sie hört ihr einfach zu. «Ich weiss nie, was mich erwartet, jeder Tag ist anders», sagt die Tochter. Ein Protokoll. 

Sobald mein Sohn in der Schule ist und ich dienstfrei habe, fahre ich zu meiner Mutter. Wenn kein Arzt- oder Coiffeurtermin ansteht, können wir uns erst einmal unterhalten. Meist sind es banale Dinge, über die wir reden. Doch dabei kann ich abtasten, in welcher Stimmung sie ist. Manchmal erzählt mir meine Mutter zwei- oder dreimal das Gleiche, und ich muss versuchen, unserer Unterhaltung eine Struktur zu geben. 

Ich mache uns einen Kaffee und versuche die Punkte anzusprechen, die ich heute mit ihr besprechen möchte. Bei manchen Themen blockt sie erst einmal ab. «Mama, es wird einmal die Woche eine Dame vom Roten Kreuz zu dir kommen, damit du nicht alleine bist, während ich arbeite.» In solchen Fällen brauche ich drei bis vier Besuche bei ihr und muss mich immer wieder zu dem kritischen Thema vortasten. «Ich habe gehört und verstanden, was du mir gesagt hast», sagt sie dann irgendwann.

«Meine Mutter hat eine seltene Form von Demenz. Ihr Zustand kann von einer Minute auf die andere wechseln».

Meine Mutter hat eine seltene Form von Demenz. Ihr Zustand kann von einer Minute auf die andere wechseln. «Kneif mich in den Arm, wenn ich wie ein Erstklässler mit dir rede», habe ich daher mit ihr vereinbart. In diesen klaren Momenten bin ich die Tochter, die mit ihr spricht, sie tröstet, ihr Mut macht, wenn sie ihren Gesundheitszustand realisiert. Ich sage ihr, dass sie nun, mit 77, einfach Leute hat, die für sie denken. Ist sie in ihrer eigenen Welt, ist es besser, ich wechsle in die Rolle der Betreuerin. Diese Distanz tut mir gut. So kann ich ihr helfen, ohne zu stark mitzuleiden. 

Ein Abschiednehmen auf Raten

Gegen das zunehmende Vergessen kann ich nichts tun. Es ist ein Abschiednehmen auf Raten.  Die meiste Zeit verbringen wir damit, ihre Termine in ihre Agenden einzutragen. Dafür hat meine Mutter einen grossen Wandkalender, einen Tischkalender und eine Handtaschenagenda. Die Agenden helfen ihr, sich zeitlich zu orientieren. Diese Fähigkeit möchte ich ihr so lange wie möglich erhalten. In alle drei trägt sie mit Bleistift ihre Termine ein und markiert sie jeweils mit einem Leuchtstift. Das Gedächtnistraining ist gelb, die Besuche der Spitex-Mitarbeitenden grün. 

«Manchmal wird alles zu viel. Dann fahre ich in die oberste Etage eines Parkhauses, schaue in den Himmel. Zehn Minuten nur für mich.»

Pro Besuch nehmen wir uns meist nur einen bestimmten Wochentag vor. Das kann bis zu fünf Stunden dauern. Oft kann sie nur zwanzig Minuten am Stück bei der Sache bleiben.Wenn ihre Konzentration nachlässt, schauen wir uns draussen Blumen an oder sehen nach ihrer Katze. 

Manchmal hat sie zwischendurch eine depressive Phase. Dann versuche ich sie zu trösten und abzulenken. In solchen Momenten fragt sie mich manchmal, ob sie nun ihre Koffer packen und in ein Heim ziehen muss. Natürlich möchte ich ihr das ersparen. Es ist schwer, sich abzugrenzen. Sobald ihr das Mittagessen gebracht wird, versuche ich mich zu verabschieden. «Wie, du gehst schon?», fragt sie manchmal, auch wenn wir schon Stunden zusammensitzen. Ich darf ihr nicht böse sein. 

«Gegen das zunehmende Vergessen meiner Mutter kann ich nichts machen. Es ist ein Abschiednehmen auf Zeit.»

Zu Hause wartet mein 14-jähriger Sohn. Ich weiss, dass er sich mehr Zeit mit seiner Mutter wünscht, er hat es mir gesagt. Ich merke, wie ich seine Bedürfnisse vernachlässige – und fühle mich oft schuldig deswegen. Meine Mutter, mein Sohn, mein Mann: Einer muss immer auf mich warten. Aber meine neue Stelle wieder aufgeben? Das möchte ich nicht. Die Arbeit im Seniorenheim ist ein wichtiger Ausgleich für mich und hilft mir, Grenzen gegenüber meiner Mutter abzustecken. Und sie gibt mir die Selbstbestätigung, die ich brauche. Denn von meiner Mutter kann ich keine Dankbarkeit mehr erwarten.

Hierzu ist sie aufgrund ihrer Erkrankung nicht mehr in der Lage. Sobald mein Sohn am Nachmittag Besuch von Freunden hat, kümmere ich mich um all das, was im Haushalt liegen geblieben ist. Und trotzdem habe ich immer das Gefühl, meiner To-do-Liste hinterherzuhinken. Manchmal wird alles zu viel. Dann muss ich für einen kurzen Moment aus meinem «festen Stundenplan » ausbrechen und irgendwo hinfahren. Nach dem Einkauf für eine Tasse Kaffee. Oder ich fahre in die oberste Etage eines Parkhauses und schaue in den Himmel. Zehn Minuten nur für mich, durchatmen, niemandem Rechenschaft ablegen. Dann bin ich wieder einsatzbereit.

Bild: pexels


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