Herr Hüttenmoser, was macht ein Haus kinderfreundlich? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Hüttenmoser, was macht ein Haus kinderfreundlich?

Lesedauer: 3 Minuten

Ob eine Wohnung oder ein Haus kinderfreundlich ist, entscheidet sich draussen vor der Tür, sagt Pädagoge Marco Hüttenmoser.

Herr Hüttenmoser, Sie plädieren für kindergerechte Wohnumfelder. Was meinen Sie damit?

Provokativ gesagt: Wenn Sie in einer Villa im Park wohnen, die Kinder aber nicht hinauskönnen, ohne dass die Mutter oder der Vater mitgeht, dann nützt den Kindern das schöne Wohnumfeld nicht viel. 

Wie definieren Sie kinderfreundliches Wohnen?

Natürlich ist die Grösse der Wohnung wichtig, die Anzahl Zimmer sowie die Freiheiten, die die Eltern ihren Kindern drinnen geben. Viel entscheidender aber ist der Raum im Freien, den die Kinder nutzen können. Je mehr Kinder von Erwachsenen unbeaufsichtigt draussen mit anderen Kindern spielen können, desto besser entwickeln sie sich – motorisch, sozial, sprachlich. Sogar die Augenärzte betonen die Bedeutung der Zeit im Freien.

Wieso das?

Sie haben festgestellt, dass Kurzsichtigkeit bei Kindern wahrscheinlicher ist, je weniger Zeit sie im Freien verbringen. Möglicherweise, weil sie sich drinnen eher auf Dinge in der Nähe konzentrieren. 

«Unbeaufsichtigt lernen Kinder, Konflikte selber zu lösen.»

Marco Hüttenmoser

Kinder brauchen also Platz zum Spielen im Freien. Das spricht für den eigenen Garten.

Der private Garten ist kein idealer Spielplatz. Meist ist er zu klein für grobmotorische Spiele. Und für Velo und Trottinett eignet er sich auch nicht. Ausserdem sind keine anderen Kinder da, es sei denn, man lädt sie extra ein. Selbst dann sind die Kinder immer noch unter der Aufsicht von Erwachsenen, die bei Streit sofort einschreiten.

Sollen sie das nicht tun?

Unbeaufsichtigt lernen Kinder, Konflikte selber zu lösen. Das ist ein wichtiger Effekt des freien Kinderspiels. In einer Untersuchung haben wir festgestellt, dass die Kindergärtnerin Kinder als sozial kompetenter einstufte, die viel Zeit mit anderen Kindern im Freien verbringen.

Welche Faktoren bestimmen, ob Kinder unbeaufsichtigt im Freien spielen können?

Entscheidend ist, ob die Kinder alleine hinaus- und auch wieder hineingelangen können. Können jüngere Kinder nicht jederzeit wieder hinein, lassen sie die Eltern nicht unbegleitet hinaus. Hauptursache dafür, dass die Kinder nicht ins Freie dürfen, ist der Strassenverkehr. Was auch oft vergessen wird, sind geschlossene Haustüren.

Die lassen sich doch aufschliessen!

Viele Wohngebäude haben schwere Türen mit einem Schnappschloss. Wenn die Kinder sie überhaupt öffnen können, sind sie nachher ausgeschlossen. Selbst für einen Neunjährigen kann es noch zu schwierig sein, gleichzeitig den Schlüssel zu drehen und am Knauf zu ziehen. Wenn Mutter oder Vater jedes Mal mitmüssen, verbringen die Kinder signifikant weniger Zeit im Freien. Ausserdem sind sie dann wieder unter Aufsicht.

Wissen denn Eltern, was ihre Kinder brauchen?

Viele sind in der Hinsicht naiv. Wenn sie sich nach einer Familienwohnung oder einem Haus umsehen, überlegen sie vor allem, wie weit der Kindergarten oder die Schule entfernt ist. In Muri, wo ich wohne, sind in der Nachbarschaft mehrere Familien in neue Reihenhäuser eingezogen. Auf der anderen Strassenseite ist eine grosse Wohnsiedlung mit vielen Kindern, aber die Kinder aus den Reihenhäusern kommen kaum über die verkehrsreiche Strasse. 

Wer steht in der Verantwortung, etwas zu unternehmen?

Meiner Meinung nach ist es eine Aufgabe der Gemeinden, junge Paare zu informieren, wie wichtig das Wohnumfeld und die Erreichbarkeit geeigneter Orte zum Spielen sind und welche Rolle die Türen dabei spielen. Die meisten Eltern sind sich dieser Zusammenhänge nicht bewusst. 

Verdichtete Bauweise ist in aller Munde. An vielen Orten werden grosse Wohnsiedlungen gebaut. Wie kinderfreundlich sind diese?

Sie sind kinderfreundlich, wenn viele Kinder dort wohnen. Dann kommt es auch wieder drauf an, ob die Kinder selber hinauskönnen. Die Türen sind oft ein Problem, und wenn Familien weiter oben als in der vierten oder fünften Etage wohnen, wird auch das zum Hindernis. Schon ab dem dritten Stock sinkt die Zeit, welche Kinder im Freien verbringen, signifikant. Deshalb: Kinder gehören auf den Boden! 

«Wenn sie sehen, dass andere Kinder draussen spielen, wollen sie auch hinaus.» 

Marco Hüttenmoser

Wollen denn die Kinder überhaupt hinaus? Spielen sie nicht lieber am PC?

Wenn sie sehen, dass andere Kinder draussen spielen, wollen sie auch hinaus. Untersuchungen haben nachgewiesen, dass es nicht der Medienkonsum ist, der Kinder davon abhält, hinauszugehen – im Gegenteil: Der Bildschirm muss als Ersatz hinhalten, wenn draussen geeignete Orte fehlen, um mit anderen Kindern Zeit zu verbringen.

Bedeutet kinderfreundlich auch familienfreundlich? 

Wenn die Kinder selbständig draussen spielen können, ist das für die Eltern eine enorme Entlastung. Ausserdem haben die Erwachsenen deutlich mehr Nachbarschaftskontakte, wenn die Kinder viel im Freien unterwegs sind. Kinder lassen eine lebendige Nachbarschaft entstehen. So wirken sie auch integrativ. Zudem könnte man sich viele Förderkurse und Therapien ersparen, wenn die Kinder genügend eigenständige und bewegte Betätigung im Freien mit anderen Kindern hätten.

Zum Interviewten

Marco Hüttenmoser ist Pädagoge und Koordinator des Netzwerks Kind und Verkehr. Seit über 40 Jahren erforscht er die Zusammenhänge zwischen der kindlichen Entwicklung und ihrer Umwelt, besonders dem Wohnumfeld und dem Strassenverkehr. Er lebt mit seiner Frau in einem etwa hundertjährigen Haus in Muri AG.

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