Serien können süchtig machen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Serien können süchtig machen

Lesedauer: 4 Minuten

Sie sind immer und überall verfügbar: Wie Serien im Zeitalter des Streaming auch junge Zuschauerinnen und Zuschauer binden und worauf Eltern achten sollten.

Kaum etwas hat Eltern in den letzten Jahren in ihrer Erziehungsarbeit so stark verunsichert wie die digitalen Medien. Das Fernsehen zählt immerhin zu den Medien, mit denen wir uns noch gut auskennen. Im Gegensatz zu Smartphones und sozialen Netzwerken greifen wir hier auf eigene Kindheitserfahrungen zurück. Wir alle kennen das: Ein­zelne Wochentage waren fest mit bestimmten Serien konnotiert. Auf dem Pausenplatz tauschten wir uns mit Freunden über neuste Folgen aus, lachten und begeisterten uns – das schweisste zusammen. 

Wenn wir heute über die Fernsehserien unserer Kindheit sprechen, romantisieren wir im Rückblick die Handlung und ihre Helden. Kurz: Sobald es um lineares Fernsehen geht, sind wir Eltern echte Experten, oder besser: Wir waren es, denn dessen Tage sind bereits gezählt. 

Streaming ist schön, aber teuer

Längst haben Streamingdienste wie Netflix das klassische Fernsehen abgelöst und uns allen damit auch eine gewisse Befreiung gebracht: Endlich sind die lästigen Werbe­unterbrechungen passé. Ausserdem müssen wir uns weder an das Zeitdiktat der Sender, noch an ihr zementiertes Programmangebot halten. Wir – Eltern und Kinder – entscheiden jetzt selbst, was und wann wir etwas sehen. 

Dreiviertel der Schweizer Familien, so die JAMES-Studie 2020, verfügen über ein Streamingabo. Ein Drittel der Jugendlichen besitzt sogar ein eigenes Abonnement. Die Zahl dürfte heute sogar deutlich höher liegen. Denn neben Netflix buhlen weitere Anbieter wie Amazon Prime, Sky, Apple TV und Disney+ um die Gunst neuer Kunden. Für Eltern ist das in erster Linie auch eine Kostenfrage. Es fällt nicht gerade leicht, das beste Angebot auszuwählen. Und Kinder finden stets das Abonnement besonders reizvoll, das ihnen gerade nicht zur Verfügung steht. Dies dürfte allerdings nicht die einzige erzieherische Herausforderung sein. 

Weil Kinder und Jugendliche ihre digitalen Geräte ständig für die Kommunikation in Griffnähe ­haben, ist die Versuchung durch Streamingdienste allgegenwärtig.

Kinder und Jugendliche schauen heute nicht mehr im Wohnzimmer auf dem TV-Gerät fern, sondern auf ihren Laptops, Tablets oder Smartphones. Auf diese Weise entzieht sich der Konsum schnell unserer Kontrolle. Für Kinder und Jugendliche ist das jedoch auch nicht einfach. Weil sie diese Geräte ständig für ihre Kommunikation in Griffnähe haben und damit sogar oftmals für die Schule arbeiten, ist die süsse Verführung zu Streaming, Youtube oder Twitch – eine Art Echtzeitfernsehen des Internets – stets nur einen Fingertipp entfernt. Serien haben es ihnen dabei am meisten angetan. Ein Grund, warum so viele davon heute produziert werden: Sie binden in einem stark prosperierenden und hart konkurrierenden Markt die Zuschauer fest an ihren Sender oder ihre Marke.

Während Spielfilme ein einmaliges Erlebnis bieten, verfügen Serien eher über alltäglichen Charakter, der sich über Wochen und Monate ziehen kann. Nur weil eine Staffel zu Ende geht, muss die Geschichte noch lange nicht abgeschlossen sein. Die nächste Staffel kommt bestimmt und steht in Streamingdiensten – im Gegensatz zum linearen Fernsehen – komplett zur Verfügung. Die Bindung der (jungen) Zuschauer findet dabei auf dreierlei Art statt:

  • Bindung durch Dramaturgie: Serien haben einen längeren Spannungsbogen als Filme. In jeder Folge werfen sie Fragen auf, nach deren Beantwortung die Zuschauer dürsten. Oft gibt es kleine Cliffhanger mittendrin und dann den grossen Cliffhanger zum Schluss. 
  • Bindung durch Empathie: Drehbuchautoren sprechen von einer «empathischen Verknüpfung» mit den Figuren. Die Helden werden zu neuen Familienmitgliedern oder einer Freundesclique. Beim linearen Fernsehen kamen die einmal die Woche zu Besuch, nun können Kinder und Jugendliche sie jederzeit durch Einschalten zurückholen. Sie durchleben deren wöchentliche Wandlungen mit und schauen, wie sie zum Beispiel mit Konflikten umgehen. Auch zu den Markenwelten gibt es eine empathische Verbindung, etwa beim Star-Wars-Ableger «The Mandalorian».
  • Bindung durch Erwartung: Serien bieten auch eine Belohnung durch Vorwissen. Kinder und Jugendliche kennen den Kosmos einer Serie. Sie sind mit der Welt der Vampire, Meerjungfrauen oder der Liebesschmonzette vertraut. Bei einem Gruselszenario wollen sie sich erschrecken oder in einer Komödie zum Lachen gebracht werden.

Doch ganz gleich, welche Welten Kinder und Jugendliche in Drama-, Horror- oder Jugendserien durchwandeln, sie bleiben immer sicher. Selbst wenn es zu Mord und Totschlag auf dem Bildschirm kommt, fühlen sie sich in ihrem Zuhause in Sicherheit. Verstärkt wird dies in Gruppen, gemeinsames Schauen von Serien mit Freunden hat Eventcharakter. Das war schon bei uns seinerzeit so. Nur eines hat sich geändert: das Rezeptionsverhalten.

Was ist Binge Watching?

Der englische Begriff «Binge» (sprich Bintsch) steht für Gelage. «Binge Watching» beschreibt darum folgerichtig das exzessive Konsumieren von Fernsehserien. So ein Serienmarathon kann auch mal eine ganze Staffel dauern. Das Phänomen ist keine Erfindung der Streamingdienste, sondern gibt es spätestens seit dem Verkauf von Serien in DVD-Boxen. Allerdings befeuern heute Streaminganbieter die Serien-Masslosigkeit sogar technisch. Denn nach dem Ende einer Episode startet nur wenige Sekunden später mit sogenanntem Autoplay die nächste Folge. Es bedarf da schon einer starken Selbstregula­tion, um zu widerstehen.

Ist das schädlich? Nun, zunächst kennt jeder, der länger als drei bis vier Stunden am Stück fernsieht, selbst die Folgen. Man fühlt sich dumpf, die Augen brennen, der Kopf schmerzt. Forscher der University of Melbourne haben zudem herausgefunden, was jeder erfahrene Seriengucker schon weiss: Je mehr Folgen der Zuschauer sieht, desto schlechter kann er sich an das Gesehene erinnern. Das mag alarmierend klingen, ist es aber nicht, weil es sich ja in diesem Fall nur um Serien handelt und nicht um exzessives Lernen für die Schule. Allerdings kann das ­Binge Watching dazu führen, dass sich Kinder und Jugendliche nicht nur von Serien den Tagesablauf und ihr Freizeitverhalten bestimmen lassen, sondern dass das Dauerglotzen sie auch um ihren Schlaf bringt und sie an Bewegungsmangel leiden.

Fazit: Nichts spricht gegen ein Serienmarathon, wenn er die Ausnahme bleibt. Wie bei allen Medien gilt: Die Dosis macht das Gift.


Tipps für Eltern 

  • Ein Code (PIN) verhindert, dass Filme ab 16 oder 18 Jahren zugänglich sind. 
  • Streamingdienste bieten ­Sicherheitseinstellungen, Youtube den ­eingeschränkten Modus.
  • Verständnis: In der durchaus beängstigenden Coronakrise ist der Wunsch nach Ablenkung stärker. Kinobesuch findet kaum noch statt.
  • Auch mal zusammen schauen: Früher war Fernsehen etwas, das Familien zusammenbrachte. Heute sieht jeder getrennt auf eigenen Geräten fern.

Zum Autor:

Thomas Feibel 58, ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

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