«Handys haben nachts im Kinderzimmer nichts verloren» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

«Handys haben nachts im Kinderzimmer nichts verloren»

Lesedauer: 7 Minuten

Jugendliche fühlen sich heute deprimierter und einsamer als noch vor wenigen Jahren. Grund für diese Veränderungen ist das Smartphone, glaubt Jean Twenge. Die amerikanische Psychologin über die Generation Selfie – und was das Handy mit unseren Kindern macht. 

Frau Twenge, Sie sprechen in Ihrem aktuellen Buch von der «Generation Selfie». Wen meinen Sie damit?

Das sind alle, die zwischen 1995 und 2012 geboren wurden. Unsere Daten zeigen, dass wir es bei diesen Kindern – zumindest in den USA – tatsächlich mit einer neuen Generation zu tun haben.

Sie erforschen die Unterschiede zwischen den Generationen bereits seit 25 Jahren. Was ist so besonders an der Generation Selfie?

Mit meinem Team schaue ich mir regelmässig an, wie es den Teenagern  in den USA geht, wie es um ihren emotionalen Zustand bestellt ist …

«Je mehr Zeit ein Teenager am Smartphone verbringt, desto einsamer fühlt er sich.»

… Sie erwähnen in Ihrem Buch Faktoren wie Einsamkeit, Angst, Depression, keinen Sinn im eigenen Leben sehen, keine Freude am Leben haben und dergleichen …

… und dabei entdeckt man immer wieder kleine Veränderungen. Mal weist die Kurve ein bisschen nach unten, mal ein bisschen nach oben. Doch um das Jahr 2012 sah die Grafik auf einmal aus, als wäre jemand  von einer Klippe gesprungen. Die Entwicklung ging steil nach unten. So etwas hatte ich noch nie gesehen.

Was geschah dann?

Ich habe zunächst erwartet, dass sich dieser Trend bald umkehren würde. Das war aber nicht der Fall. Es ging sogar weiter abwärts.

Was unterscheidet die Generation Selfie denn von ihren Vorgängern, den sogenannten «Millennials»?

Es ist die erste Gruppe von Teenagern, die ihre gesamten Teenagerjahre mit dem Smartphone zugebracht hat. Und das hat massive Auswirkungen auf ihr Verhalten und ihre Einstellungen. Diese Kinder verbringen viel mehr Zeit im Internet, als Kinder das zehn Jahre zuvor getan haben.

Mit welchen Folgen?

Die Daten zeigen: Je mehr Zeit ein Teenager am Smartphone verbringt, desto unglücklicher und deprimierter ist er und desto einsamer fühlt er sich. Wir sehen auch einen Anstieg bei verschiedenen Risikofaktoren für einen Selbstmord.

Jean Twenge forscht und lehrt als Professorin für Psychologie an der San Diego State University. Sie hält heutige Teenager für eine eigene Generation, der sie den Namen «iGen» gegeben hat (dt. Übersetzung: «Generation Selfie»). Ihr aktuelles Buch «Me, my Selfie and I: Was Jugendliche heute wirklich bewegt» ist am 29. Mai in deutscher Übersetzung erschienen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern in San Diego.
Jean Twenge forscht und lehrt als Professorin für Psychologie an der San Diego State University. Sie hält heutige Teenager für eine eigene Generation, der sie den Namen «iGen» gegeben hat (dt. Übersetzung: «Generation Selfie»). Ihr aktuelles Buch «Me, my Selfie and I: Was Jugendliche heute wirklich bewegt» ist am 29. Mai in deutscher Übersetzung erschienen. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren drei Töchtern in San Diego.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Jugendliche heute das Gefühl haben, «nichts richtig zu machen». Die Werte haben sich innerhalb weniger Jahre so stark verschlechtert, dass sie von einem «Tsunami» sprechen. Ist wirklich das Smartphone für all das verantwortlich?

Gute Frage. Ich muss zugeben, dass alle bisher genannten Daten nur Korrelationen sind. Die Onlinezeiten schnellen nach oben, gleichzeitig verschlechtert sich die seelische Gesundheit. Man kann dennoch nicht mit Sicherheit daraus ableiten, dass das Smartphone wirklich die Ursache ist. 

Gibt es dazu denn keine Untersuchungen?

Doch, die gibt es. In Dänemark hat man zum Beispiel die Versuchsteilnehmer per Losverfahren in zwei Gruppen eingeteilt. Die eine Gruppe hat für eine Woche auf Facebook verzichtet, die andere nicht. Danach hat man nachgesehen, wie die  Probanden sich fühlen. Und die Gruppe, die während der Woche nicht bei Facebook war, fühlte sich hinterher weniger einsam, weniger unglücklich und weniger deprimiert. 

Das ist ziemlich beeindruckend: Bereits eine Woche ohne soziale Medien hat messbare Auswirkungen auf unser Wohlbefinden. Trotzdem ist klar, dass wir hier noch mehr Studien brauchen. Und noch ein zweiter Punkt ist mir wichtig: An vielen Langzeitstudien kann man ablesen, was zuerst da war – die negativen  Veränderungen im Wohlbefinden oder die verstärkte Nutzung der digitalen Medien. Die meisten dieser Untersuchungen zeigen, dass zuerst die Zeit im Internet zunimmt. Erst danach kommt das Gefühl, unglücklich zu sein.

In der Schweiz nutzen 98 Prozent aller Jugendlichen den Messenger von Whatsapp. Sollte man seinem Kind etwa das Handy wegnehmen und es von der Kommunikation mit seinen Freunden abschneiden?

So weit würde ich nicht gehen. In einer unserer neuesten Studien haben wir herausgefunden, dass genau jene Kinder am glücklichsten sind, die knapp eine Stunde pro Tag online sind. Das Internet gar nicht zu nutzen, dürfte also nicht die Lösung sein. Bei bis zu zwei Onlinestunden pro Tag scheint es auch keine nennenswerten negativen Auswirkungen zu geben. Erst ab drei, vier oder mehr Stunden zeigen sich die genannten Negativeffekte. Es  geht mir also gar nicht so sehr um das technische Gerät oder die sozialen Medien als solche. Es geht darum, was man alles nicht mehr tut, wenn man dauernd online ist. Man treibt weniger Sport, sieht seine Freunde nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. Und wir wissen aus vielen, vielen Studien, dass Sport und Zeit mit Freunden eine starke positive Auswirkung auf unsere psychische Gesundheit haben.

Was ist mit dem Faktor Schlaf? Sie schreiben, dass Kinder ihr Telefon sogar mit ins Bett nehmen.

Die Kinder schlafen heute weniger, als das noch 2010 der Fall war. Das Telefon ist das Letzte, was sie am Abend sehen, ihm gilt ihr erster Blick am Morgen. All das ist definitiv kein gutes Rezept für einen gesunden Schlaf.

«Die Onlinezeiten schnellen nach oben, gleichzeitig verschlechtert sich die seelische Gesundheit.»

Warum nicht?

Zum einen, weil der Bildschirm blaues Licht aussendet. Das hat Auswirkungen auf unseren Körper: Wir  produzieren weniger Melatonin, das Schlafhormon, das uns signalisiert, dass es jetzt Zeit ist, müde zu werden. Zum anderen sind die Inhalte, die wir auf dem Smartphone sehen, meist emotional aufwühlend – und auch das hat einen negativen Effekt auf die Schlafqualität.

Konkret gefragt: Was können Eltern tun?

Wenn die Kinder die Primarschule besuchen und noch kein Handy haben – warten Sie mit der Anschaffung so lange wie möglich. Das ist jedenfalls die Regel, nach der ich selbst als Mutter verfahre. In der fünften und sechsten Klasse kaufen viele Eltern ihrem Kind ein Handy, weil es auf einmal mit dem Bus oder Zug in die Schule fährt. Sie glauben, das Kind sei damit sicherer. Aber Generationen von Kindern haben ihren Schulweg auch ohne Handy bewältigt, und ich weiss nicht, warum das auf einmal anders sein sollte. Ich werde bei meinen Kindern jedenfalls so lange auf ein Handy verzichten, wie es nur irgendwie geht

Und wenn das Smartphone einmal da ist?

Dann sollte man die Zeit begrenzen, in der es genutzt werden kann. Im  Durchschnitt empfhele ich eine Dauer von zwei Stunden Bildschirmzeit pro Tag oder weniger. Ich spreche hier übrigens von der Freizeit der Kinder. Natürlich kann ein Kind zusätzlich für seine Hausaufgaben das Internet nutzen. Das halte ich für völlig in Ordnung. Am besten gibt man ihm dafür Zugang zu einem Laptop oder einem Desktop-Computer, damit es nicht durch seine Handy-Apps abgelenkt wird.

All das dürfte Eltern in der Schweiz leichter fallen als Eltern in den USA. In den Vereinigten Staaten sprechen wir von durchschnittlich sechs bis acht Onlinestunden pro Tag. In der Schweiz sind es nur etwa drei Stunden täglich.

Da wäre ich vorsichtig. Wenn man mit Umfragen arbeitet, dann variieren die Werte extrem – je nachdem, wie man seine Fragen stellt. Deshalb halte ich es für durchaus denkbar, dass die Kinder sich in ihrem Verhalten gar nicht so sehr unterscheiden. Vielleicht hat man sie nur unterschiedlich befragt. Und selbst wenn an den Daten etwas dran ist – ich gehe davon aus, dass die Dinge sich auch in anderen Ländern ähnlich entwickeln werden wie in den USA.

Im Hinblick auf andere Freizeitaktivitäten scheint die Schweiz ebenfalls besser dazustehen: Die Zeit, die Jugendliche mit Freunden verbringen, die Zeit, in der sie Sport treiben – beides hat sich laut der aktuellen JAMES-Studie seit 2010 nicht signifikant verändert. 

Auch da müsste ich mir die entsprechenden Fragebögen noch einmal genauer ansehen, um das sicher beurteilen zu können. Aber das klingt tatsächlich ganz anders als die Entwicklungen, die ich in den USA beobachtet habe.

«Bereits eine Woche ohne soziale
Medien hat messbare Auswirkungen auf unser
Wohlbefinden.»

Wenn man Jugendliche in der Schweiz befragt, wofür sie ihr Handy eigentlich nutzen, dann lautet die zweithäufigste Antwort: um zu sehen, wie spät es ist. Könnte man die Onlinezeit womöglich reduzieren, indem man seinem Kind zum Geburtstag eine Armbanduhr schenkt?

Das finde ich interessant. Ja, vielleicht hilft eine Armbanduhr. Was ich aber ganz sicher empfehle, ist ein Wecker. Nachts hat das Handy im Kinderzimmer nichts verloren. Ich halte immer wieder Vorträge vor Eltern. Und da sage ich: Wenn Sie nur eine einzige Botschaft mit nach Hause nehmen wollen, dann die – sorgen Sie dafür, dass Ihr Kind sein Handy auf gar keinen Fall mit ins Bett nimmt.

Wie will man das kontrollieren?

Man macht zum Beispiel eine Familienregel daraus, die für alle gilt. Man kauft eine gemeinsame Ladestation und stellt sie in den Keller oder an sonst einen Ort, der möglichst weit von den Schlafzimmern entfernt ist. Und die Eltern müssen sich genauso an diese Regel halten wie die Kinder. Und zwar nicht nur zum Schein: Teenager riechen Heuchelei von Weitem. Man kann auch zu einer technischen Lösung greifen und auf dem Smartphone eine App installieren, die dafür sorgt, dass sich das Telefon über Nacht ausschaltet.

Man soll seinem pubertierenden Teenager eine Eltern-App aufs Handy installieren? Ernsthaft?

Naja, im Idealfall hat man so eine App schon auf dem allerersten Smartphone installiert, das man seinem Kind zur Verfügung stellt. Es sollte von Anfang an dazugehören, das macht die Sache leichter. Und natürlich sind die Regeln für einen 13-Jährigen anders als für einen 17-Jährigen. Und selbstverständlich kommt es auch immer auf das einzelne  Kind an. Wenn ein Bub oder ein Mädchen sein Onlineverhalten nicht mehr selbst kontrollieren kann, dann halte ich so eine App für eine sehr vernünftige Massnahme.

Bei Mädchen hat sich die seelische Gesundheit deutlich stärker verschlechtert als bei Buben. Sie fühlen sich in stärkerem Masse einsam und ausgegrenzt, das Risiko für einen Selbstmord liegt bei ihnen ebenfalls höher. Warum?

Das wissen wir nicht genau. Buben verbringen ihre Onlinezeit stärker mit Computerspielen, Mädchen mehr in den sozialen Medien. Vielleicht gibt es da einen Zusammenhang. Im Moment untersuchen wir, ob das Internet insgesamt auf Mädchen schädlicher wirkt als auf Buben.

Was machen Mädchen in den sozialen Medien denn anders als Buben?

Sie nutzen sie nicht nur häufiger, sie verhalten sich dabei auch negativer. Buben tragen ihre Konflikte nach wie vor körperlich aus. Mädchen bevorzugen verbale Aggression – und die sozialen Medien sind dafür die perfekte Plattform. Schlecht über andere zu reden, sie auszugrenzen, das haben Mädchen schon immer gemacht. Aber durch die sozialen Medien sind die Folgen viel schlimmer geworden. Wir wissen aus unseren Zahlen, dass Mädchen mehr als doppelt so häufig Opfer von Cybermobbing werden als Buben.

«Warten Sie mit der Anschaffung
eines Handys für Ihr Kind so lange
wie möglich.»

Hinzu kommt: Wer bei der Geburtstagsfeier nicht eingeladen wird, kann seinen Klassenkameraden heute über die sozialen Medien praktisch in Echtzeit dabei zusehen, wie sie Spass haben, während man selbst allein zu Hause sitzt.

Die Generation Selfie hat dafür sogar ein eigenes Wort entwickelt: FOMO – fear of missing out, also die Angst, etwas zu verpassen. Ich halte das in der Tat für ein Rezept, sich noch einsamer zu fühlen.

Welche Rolle spielt die Persönlichkeitspsychologie? Es ist schon länger bekannt, dass Mädchen während der Pubertät oft an emotionaler Stabilität verlieren, was bei Buben nicht im selben Masse der Fall ist.

Das ist ganz sicher ein relevanter Punkt. Bei den Mädchen ist die Pubertät grundsätzlich eine kritische Phase für die Entwicklung ihrer psychischen Gesundheit. Und wenn wir gleichzeitig sehen, dass zwischenmenschliche Kontakte sich immer stärker ins Internet verlagern, dann kann man sich zumindest vorstellen, dass solche Veränderungen in besonders starkem Masse auf Mädchen wirken.


Weiterlesen:


Online-Dossier Medienkonsum

Dieser Artikel gehört zu unserem
Dieser Artikel gehört zu unserem Online-Dossier zum Thema Medienkonsum. Erfahren mSie mehr darüber, worauf Eltern bei der Medienerziehung achten müssen und informieren Sie sich zu den aktuellsten Erkenntnissen.