Cybermobbing: Das war doch nur ein Scherz! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Cybermobbing: Das war doch nur ein Scherz!

Lesedauer: 4 Minuten

Cybermobbing-Opfer leiden oft schwer – doch auch die Täter sind immer noch Kinder.

Bei meinen Vorträgen und Workshops spüre  ich immer wieder ein diffuses Unbehagen, sobald jemand der Teilnehmenden auf das Thema Cybermobbing zu sprechen kommt. Ich habe eine Weile gebraucht, bis ich den wahren Ursprung dieses unangenehmen Gefühls genauer verorten konnte. 

Ohne Zweifel löst digitales Mobbing bei Opfern verheerendes Leid aus. Mir geht es im Folgenden aber um etwas anderes: Für mich schwingt bei der Erwähnung des Wortes «Cybermobbing» unterschwellig immer eine Schuldzuweisung mit. So wird Buben und Mädchen unterstellt, solche Taten mit voller Absicht zu begehen. Als hätten wir es ausschliesslich mit kleinen Sadisten zu tun, die sich an der Verzweiflung anderer Menschen ergötzen. Das empfinde ich als ungerecht. 

Falsche Massstäbe verstellen den klaren Blick

Für die Opfer dramatische Folgen haben und mitunter ihr Leben zerstören. Die leidtragende Person benötigt Hilfe, Beistand und Schutz. 

Mir geht es in diesem Beitrag jedoch um einen anderen Aspekt: Bei einem Cybermobbing-Vorfall werfen Erziehende und Pädagogen jungen Tätern Leichtsinn, Unverantwortlichkeit und Unreife vor. Das halte ich für besonders unfair, weil Vorsicht, Verantwortung und Reife vorrangig zu den Massstäben zählen, die wir nicht bei Kindern, sondern nur bei Erwachsenen ansetzen sollten. Oder höchstens noch bei reflektierten Jugendlichen.

In den meisten Fällen von Cybermobbing handelt es sich um spontane Taten oder Scherze, bei denen kein Vorsatz im Spiel ist.

Bei Buben und Mädchen geht dies allerdings aus einem einleuchtenden Grund nicht: weil es Kinder sind. Viele Kinder vermögen – offline und online – nur selten alle Folgen ihres Handelns abzuschätzen – weil sie es noch nicht gelernt haben. Manche Jugendliche dagegen sollten bereits in der Lage sein, die Konsequenzen ihres Tuns zu bedenken. In der Theorie jedenfalls.

Vorsatz oder Streich

Es mag bei Cybermobbing durchaus auch junge Täter geben, die anderen bewusst vorsätzlich Qualen bereiten wollen. Das ist vollkommen inakzeptabel und muss adäquate Sanktionen nach sich ­ziehen. 

Für mich besteht dennoch in der Ahndung ein Unterschied darin, ob Vorsatz im Spiel ist oder nicht. Meiner Meinung nach gilt das jedoch keineswegs für die Mehrzahl solcher Vorkommnisse in der Adoleszenz. Bei Kindern und Jugendlichen handelt es sich in den meisten Fällen um spontane und unüberlegte Taten oder Scherze. Da werden Mädchen in der Whatsapp-Gruppe schroff beleidigt, Lehrkräfte heimlich ge­filmt oder ein blödes Foto eines Mitschülers mit hämischem Kommentar gepostet. 

Extra oder nicht extra gemacht – das ist oftmals die Frage bei Cybermobbing.  Bild: Pexels
Extra oder nicht extra gemacht – das ist oftmals die Frage bei Cybermobbing.
Bild: Pexels

Ich möchte diese Unbedachtheit und Naivität keineswegs rechtfertigen; vielleicht können wir aber etwas mehr Verständnis für die Motive aufbringen, wenn wir uns die eigene Schulzeit ins Gedächtnis rufen. Einem Schulkameraden etwa unbemerkt einen Reissnagel auf den Stuhl zu legen, war schon damals kein Akt von Klugheit und Umsicht. Der Scherz erreichte seinen Höhepunkt, sobald der Schüler mit einem Schrei aufsprang. Zeugen blieben ausschliesslich der Täter und die in der Nähe Sitzenden. Wurde die Angelegenheit der Lehrkraft gemeldet, erfolgte eine Strafe. 

Heute jedoch werden kleine und grosse Streiche mit Hilfe des Smartphones zusätzlich dokumentiert und über soziale Medien verbreitet. Das macht den entscheidenden Unterschied, den wir Kindern erklären müssen. Frühere Streiche haben nie solche Dimensionen erreicht, die das Opfer in einer unüberschaubaren Öffentlichkeit blamierten. Aber was soll bei Cybermobbing mit Tätern geschehen, die sich nur einen Jux erlauben wollten?

Jeder hat eine zweite Chance verdient

Ein krasses Beispiel: Ein 13-jähriger Schüler erhält auf seinen Wunsch hin das Nacktfoto einer gleichaltrigen Mitschülerin und sendet das Bild über Whatsapp an seine Kontakte. Das Mädchen bricht zusammen, muss die Schule wechseln und benötigt psychologischen Beistand. Eigentlich sollten wir davon ausgehen können, dass der Junge weiss, dass die Verbreitung dieses Fotos sogar strafbar ist. Aber er denkt ­keine Sekunde an die Folgen für das Opfer. Sein Blick ist allein auf seinen Erfolg im Netz gerichtet. 

Sollte dieser Täter von der Schule fliegen? «Nein», erklärt mir ein 12-jähriges Mädchen bei einem Workshop. «Er sollte eine ernste Verwarnung und eine zweite ­Chance erhalten.» Und warum? «Weil er nicht wollte, dass es dem Mädchen so schlecht geht.» Aber hätte er es nicht besser wissen müssen? «Er ist schliesslich immer noch ein Kind», beharrt das Mädchen. 

Digitale Bildung ist mehr als Technikverständnis

Wie also umgehen mit dem Thema Cybermobbing? Auf der Suche nach schnellen und einfachen Lösungen fordern Eltern von Lehrkräften beispielsweise, das Smartphone-Verbot an Schulen noch konsequenter umzusetzen als bisher. Aber das kann nicht die Lösung sein.

Taten, die mit voller Absicht verübt wurden, sind leider nie ganz zu verhindern. Ihnen liegen zumeist eine tiefe Unzufriedenheit, Frustration und andere schlechte Gefühle zu­grunde. Dagegen könnte die Schule etwas tun, in dem sie für eine gute und vertrauensvolle und angstfreie Atmosphäre sorgt. 

Um das Gros der aus dem Ruder gelaufenen Streiche zu verhindern, muss die Schule bereits bei Achtjährigen Präventionsarbeit leisten. Vorzugsweise, bevor sie ein eigenes Handy besitzen. Bringen wir sie mit einem einfachen Beispiel in die Diskussion: Jedes Kind findet ein Foto lustig, wenn darauf ein anderes Kind in der Umkleidekabine überraschend abgelichtet wurde. Aber kein Kind findet es lustig, wenn es selbst diese Person ist. 

Digitale Bildung ist nicht alleine der kompetente Umgang mit der Technik, sondern auch die Vermittlung unserer gesellschaftlichen ­Werte im Internetzeitalter. 

Letztlich geht es um die Frage, wie wir gut, achtsam, respektvoll und friedlich miteinander leben wollen. Das müssen wir alle unseren Kindern vorleben und zeigen.

Was Eltern ihren Kindern vermitteln sollten 

  • Den Unterschied zwischen einem Streich in der Schule und einem Streich im Internet erklären.
  • Unermüdlich das Mantra «Das Netz vergisst nichts» wiederholen. 
  • Den moralischen Kompass stärken und an den Gerechtigkeitssinn appellieren.
  • Wenn das Kind zum Täter wird, nicht vergessen: Es ist ein Kind.

Im Notfall 

  • Empörung zurückschrauben, nüchtern den Sachverhalt klären.
  • Wird das Kind Opfer von Cybermobbing, sprechen Sie es von Schuld frei.
  • Nicht hilflos sein, wissen, was zu tun ist. Screenshot anfertigen, den Betreiber des Dienstes informieren. Notfalls die Polizei aufsuchen.

Weiterlesen zum Thema Cybermobbing: 

  • Hetze im Netz
    Cybermobbing ist kein Kavaliersdelikt, sondern kann strafrechtlich verfolgt werden. Wie sollen Eltern vorgehen, wenn ihr Kind am Internetpranger steht?