«Computerspiele bergen ein ähnliches Suchtpotenzial wie Alkohol und Nikotin»  - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Computerspiele bergen ein ähnliches Suchtpotenzial wie Alkohol und Nikotin» 

Lesedauer: 3 Minuten

Die meisten Jugendlichen haben einen gesunden Umgang mit Computerspielen. Wie Eltern ­reagieren sollten, wenn ihr Kind aber immer mehr Zeit vor dem Bildschirm verbringt, erklärt Franz Eidenbenz vom Zentrum für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte Radix.

Herr Eidenbenz, was können Eltern tun, wenn sie feststellen, dass ihr Kind Freunde und Hobbys vernachlässigt und nur noch gamen will?

Die Spielzeiten müssen geregelt und begrenzt werden. Das ist meist mit Konflikten verbunden. Die wichtigste Regel lautet: Eltern müssen dafür sorgen, dass ihre Kinder genug Schlaf bekommen. Und zwar indem sie die Computerspielzeit am Abend begrenzen. Wichtig ist auch, dass die Jugendlichen den Bildschirm eine halbe Stunde vor dem Einschlafen ausschalten. Denn Computerspiele sind aufregend und das Licht des Bildschirms hat viele Blau­anteile, die aktivieren und wach halten. Wenn die Kinder und Jugendlichen wieder ausreichend viel schlafen, bekommen sie eher alles unter einen Hut: Schule, Freunde, Hobbys, familiäre Verpflichtungen und das Gamen.

Franz Eidenbenz ist Leiter Behandlung des Zentrums für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte Radix in Zürich. Foto:zVg
Franz Eidenbenz ist Leiter Behandlung des Zentrums für Spielsucht und andere Verhaltenssüchte Radix in Zürich. Foto:zVg

Wann ist es an der Zeit, professionelle Hilfe zu holen?

Wenn eine Familie merkt, dass sie das Problem nicht alleine lösen kann, wenn die Eltern nicht mehr weiterwissen. Viele Mütter und Väter, die zu uns kommen, haben das Gefühl, sie hätten versagt, weil sie das Spielverhalten ihrer Kinder nicht alleine steuern konnten. Wenn sich jedoch Eltern Hilfe suchen, zeigen sie damit, dass es ihnen wichtig ist, wie es den Kindern geht, und dass sie bereit sind, etwas für die Zukunft ihrer Kinder zu tun. Meist ist es am besten, wenn sie mit dem Jugendlichen zusammen den ersten Schritt unternehmen. Anlaufstellen dafür sind regionale Sucht- oder Jugend­beratungsstellen. Sie können helfen und wenn nötig an eine weitere spezialisierte Stelle verweisen.

Wie gehen Sie im Zentrum Radix vor?

Beim ersten Treffen sitzen wir mit der Familie zusammen und schauen, wie sich das Problem darstellt: Wie oft spielt der Jugendliche? Welche anderen Tätigkeiten leiden darunter? Trifft er sich noch mit seinen Freunden? Macht er seine Hausaufgaben? Und so weiter. Dann fangen wir an, zusammen mit der Familie Regeln aufzustellen. Oft sind das Zeitbegrenzungen fürs Gamen. Manchmal reichen vier bis fünf Sitzungen, manchmal braucht es länger. Wichtig ist, dass die Familie mitmacht. Denn die Jugendlichen selber haben oft kein ausgeprägtes Problembewusstsein. Sie finden: Ich spiele ja nur ein bisschen, das machen andere auch. Wenn die Eltern dann sagen: «Wir haben ein Problem, und wir möchten es gerne zusammen lösen, und dafür ist es notwendig, dass du mitkommst», können die Jugendlichen das besser annehmen und verstehen. Sie machen dann für die Eltern mit.

Nun gibt es seit diesem Jahr die neue Diagnose «Internet and Gaming Disorder» im Diagnosemanual für psychologische Störungen. Was halten Sie davon?

Es gibt unterschiedliche Meinungen dazu. Die Forschung zeigt, dass Computerspiele ein erhebliches Suchtpotenzial mit sich bringen und für einen Teil der Nutzer gefährlich sind. Die Gamesucht ist vergleichbar mit stoffgebundenen Süchten wie Alkohol oder Nikotin, auch was die Schwierigkeit betrifft, damit aufzuhören. Insofern ist die Diagnose gerechtfertigt. Für viele Eltern ist es zudem hilfreich, zu wissen, dass ihr Kind eine Sucht hat. Dann ist es nicht einfach faul und undiszipliniert, sondern in gewissem Sinn krank und hilfsbedürftig. 

Wieso können Spiele so süchtig machen?

Computerspiele sind darauf angelegt, den Konsumenten möglichst lange und oft bei der Stange zu halten. Sie werden so konstruiert, dass sie den Benutzer durch regelmässige und zufällige Belohnungen wie beim Glücksspiel in gewissem Sinne abhängig machen. Der Schwierigkeitsgrad der Spiele wird zum Beispiel mit verschiedenen Levels genau auf den Nutzer abgestimmt. Das bedeutet: Der Spieler ist nie unter- oder überfordert. Das kann ein Flow-Gefühl auslösen, das neben den Erfolgen süchtig machen kann. Zum Suchtpotenzial kommt die dauernde Verfügbarkeit durch mobile Geräte hinzu. Erstaunlich, dass die meisten Jugendlichen einigermassen vernünftig damit umgehen können. Sind sie jedoch in einer Krise oder durch persönliche Schwächen wie ein ADHS oder depressive Züge belastet, nimmt die Gefährdung zu und es kann sich eine Sucht entwickeln.

Was können Folgen einer Sucht sein?

Die Leistungsfähigkeit kann sinken, insbesondere in der Schule. Manch Betroffener muss eine Klasse wiederholen oder fliegt sogar von der Schule, schafft die Matura nicht oder bricht die Lehre ab. Zudem verpasst er während seiner Gamerzeit einiges in Sachen Gruppenerfahrungen im realen Leben und auch die wichtigen ersten Liebesbeziehungen. Das kann für das Leben dieser Jugendlichen dramatische Konsequenzen haben.

Gamen ist ein fantastischer, unterhaltsamer Zeitvertreib, der in den meisten Fällen unproblematisch und lehrreich ist.

Franz Eidenbenz

Gibt es einen gesunden Umgang mit dem Gamen?

Auf jeden Fall. Die allermeisten Jugendlichen haben einen sogenannten funktionalen Umgang damit. Das Gamen ist dann eines von verschiedenen Freizeitvergnügen, bei dem sie auch einiges lernen und trainieren wie Reaktionsgeschwindigkeit oder soziale Interaktion in einem Onlinekontext. Sie können sogar Führungserfahrungen machen, wenn sie mit einem virtuellen Team unterwegs sind. Zusammenfassend lässt sich sagen: Gamen ist ein fantastischer, unterhaltsamer Zeitvertreib, der in den meisten Fällen unproblematisch und lehrreich ist. Er birgt jedoch ein erhebliches Suchtrisiko, das in Krisensituationen zunimmt. Deshalb ist es wichtig, das Ausmass des Spielens im Auge zu behalten und falls nötig rechtzeitig zu handeln oder Hilfe aufzusuchen.

Welche Möglichkeiten haben Eltern von jüngeren Kindern, ihnen einen gesunden Umgang mit dem Gamen beizubringen?

Eltern sollten sich, schon bevor sie den Kindern ein Smartphone oder ein anderes internettaugliches Gerät erlauben oder schenken, darüber informieren, welche Regeln für die Kinder altersgerecht und sinnvoll sind. Entsprechend sollten sie diese vorgängig mit den Kindern vereinbaren. Die Administratorenrechte, das heisst der Hauptzugangscode zum Gerät, sollten bei ihnen liegen. Meist gibt es dennoch gewisse Konflikte, das ist normal. Aber letztlich liegt es in der Verantwortung der Eltern, altersgerechte Grenzen zu setzen.



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