Bibliothek 2.0: Rappen, schreiben und zocken - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Bibliothek 2.0: Rappen, schreiben und zocken

Lesedauer: 5 Minuten

Nur zwei Prozent der Deutschschweizer Jugendlichen gehen regelmässig in die Bibliothek, heisst es in der aktuellen JAMES-Studie. Die Bibliotheken selbst erzählen aber eine ganz andere Geschichte. Wie sie die Jugend zum Lesen animieren. 

Adrian und Leonard haben es sich gemütlich gemacht. Sie lümmeln auf grossen Sitzsäcken, Adrian mit «Greg’s Tagebuch» in der Hand. Er kichert ständig vor sich hin, so dass Leonard von seinem Comic aufschaut und im Flüsterton fragt, welche Stelle genau so witzig sei. Hinter den beiden Buben hocken Jugendliche vor den PCs, surfen im Internet und unterhalten sich mit gedämpfter Stimme. An den langen Regalen voller Bücher wandern Kinder und Jugendliche auf und ab. Den Kopf schräg geneigt entziffern sie die Schrift auf den Buchrücken, greifen ab und an eins heraus. «Das hier ist sooo super», sagt Lea und packt «Das Schicksal ist ein mieser Verräter» auf den Stapel Jugendromane, den ihre Freundin im Arm hält. Ein ganz normaler Nachmittag in einer Bibliothek in der Schweiz. 

Mädchen bleiben meist treue Mitglieder, wenn sie älter werden

Und dann kommt dieser Satz. Hans Ulrich Locher sagt, er habe ihn erschüttert: «Nur zwei Prozent der Jugendlichen in der Deutschschweiz nutzen regelmässig eine Bibliothek, in der Romandie sind es sechs Prozent, im Tessin zehn Prozent.» So steht es in der aktuellen JAMES-Studie geschrieben. JAMES ist eine Umfrage zum Mediennutzungsund Freizeitverhalten von 12- bis 19-Jährigen, die die Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) durchführt. Seit 2010 wird sie alle zwei Jahre im Auftrag der Swisscom erstellt. «Das stimmt absolut nicht mit unseren Zahlen überein und widerspiegelt den technikorientierten Ansatz der Studie. Diese Zahlen beziehen sich auf die «nonmediale Nutzung» der Bibliothek; dabei bezweckt der Besuch einer solchen Einrichtung in erster Linie die Nutzung von Medien», sagt Hans Ulrich Locher, Geschäftsführer der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft öffentlicher Bibliotheken (SAB) und von Bibliothek Information Schweiz. 

Kinder sind fleissige Bibliotheksnutzer. Die Buben bleiben dann aber oft in der Pubertät fern.

Gemäss der Erhebung des Bundesamtes für Statistik zum Kulturverhalten haben innert eines Jahres 64,3 Prozent der jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren mindestens einmal eine Bibliothek besucht. «Bei den 12-, 13- und 14-Jährigen liegen die Zahlen hoch und höher. Kinder und Jugendliche gehen umso mehr in die Bibliothek, je jünger sie sind», erklärt Locher. Mädchen bleiben meist treue Mitglieder, wenn sie älter werden, männliche Benutzer gehen den Bibliotheken auf dem Weg in die Pubertät eher verloren. Dennoch: Die Schweizer Bibliotheken haben im Jahr 20 Millionen Besucher. «Das sind zehn Mal mehr, als die Fussballnationalliga A hat», sagt Locher.

Bücher zu allen Themen – sogar am Sonntag

Bibliotheken seien die Kulturinstitutionen mit dem grössten Publikum in der Schweiz, und damit das so bleibe, müsse man viel tun. «Natürlich erreichen wir auch nicht alle Menschen, aber wir geben uns grosse Mühe. Sie finden bei uns Medien zu allen Themen der Welt, die sie sich denken können», sagt Locher. Und das in einigen Bibliotheken seit Kurzem auch sonntags. Ein Angebot, das insbesondere vom männlichen Publikum und von Alleinstehenden sehr positiv angenommen wird, der Zuspruch ist gross. Dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene, Männer und Frauen etwas finden, das sie anspricht, dafür werden Bibliothekare ausgebildet. Sie müssen literarische Spürnasen sein und das Angebot immer frisch halten, damit ihre Bibliothek interessant bleibt. 

Wo früher Karl May stand, stehen heute Vampirromane und Harry Potter.

Deshalb erneuern öffentliche Bibliotheken jedes Jahr etwa 10 bis 20 Prozent ihres Bestandes, verschenken oder verkaufen ihn. Nach fünf bis spätestens zehn Jahren wird der Bestand so komplett erneuert. «Das ist wichtig, denn während die Jugendlichen zu meiner Zeit noch Karl May gelesen haben, lesen sie heute Harry Potter und Vampirromane. So etwas muss man dann einfach dahaben», sagt Locher. Mit der Zeit gehen heisst auch, mit den neuen Medien gehen. Deshalb haben auch die E-Books Einzug gehalten in den Schweizer Bibliotheken. Die Nutzungsraten liegen laut Locher jedoch wie im Buchhandel auch noch im einstelligen Prozentbereich. 

Neue Medien sind allerdings kein Königsweg, um Jugendliche in die Bibliothek zu locken. «DVDs spielen praktisch keine Rolle mehr, Filme und Musik streamen die Jugendlichen zu Hause», sagt Danièle Kammacher, Vizedirektorin der Kornhausbibliotheken in Bern. Für E-Books interessieren sich Mittvierziger mehr als die ganz Jungen. «Die jungen Leute lesen ja meist übers Handy, und darauf ein ganzes Buch zu lesen, ist doch etwas mühsam», mutmasst Kammacher. Rund ein Viertel der Nutzer der Kornhausbibliotheken sind zwischen 13 und 25 Jahre alt. Neue Projekte in der jüngeren Vergangenheit haben dazu geführt, dass diese Zahl leicht gestiegen ist.

Der erste Kontakt läuft oft über die Schule

Es gibt eine Gruppe, für die ergibt sich der Bezug zur Bibliothek ganz automatisch, sagt Kammacher. Das sind Kinder, die aufs Gymnasium gehen, die als Hausaufgaben Aufträge bekommen, etwas zu einem bestimmten Thema zu recherchieren, verbunden mit einem Besuch in der Bibliothek. Spätestens aber bei Studienbeginn ergibt sich der Kontakt zu einer solchen Einrichtung automatisch. «Damit fallen jedoch all die jungen Menschen weg, die eine Berufsausbildung machen, und das ist eine grosse Menge», sagt Kammacher. 

Die Kornhausbibliotheken haben deswegen die Zusammenarbeit mit der Berner Gewerbeschule intensiviert. Jede Klasse von dort wird mit einer Führung und einem Leseprojekt mit der Institution Bibliothek vertraut gemacht. «Viele der Jugendlichen erfahren hier zum ersten Mal, wie sie ein Buch zu einem bestimmten Thema finden und ausleihen können, und viele bleiben dann begeistert hängen und werden zu regelmässigen Besuchern», sagt Kammacher. Damit die dranbleiben, gibt es im zweiten Stock der Kornhausbibliothek eine Lounge-Zone, Tablets, Games und eine grosse Jugendbibliothek sowie spezielle Lesungen oder englisches Storytelling für die jungen Besucher. Zudem lesen sie – wie in fast allen Schweizer Bibliotheken – gratis.

Jugendarbeitende helfen bei den Hausaufgaben und leihen den Kindern ein offenes Ohr.

In der JAMES-Studie stösst man auch auf erfreulichere Zahlen zum Leseverhalten von Jugendlichen. So ist es seit 2010 unverändert ein stabiles Viertel der Jugendlichen, die in ihrer Freizeit regelmässig Bücher lesen. «Die Tatsache, dass zwar die Nutzung digitaler Medien seit 2010 deutlich angestiegen ist, gleichzeitig das Lesen von Büchern aber stabil geblieben ist, finde ich ein gutes Ergebnis», sagt die Psychologin und Mitstudienautorin Isabel Willemse. «Jugendliche, die gerne lesen, tun dies auch weiterhin, trotz der ständigen Verfügbarkeit von digitalen Medien mit Internetzugang.»

Hausaufgabenhilfe in der Bibliothek 

Von zu wenigen jugendlichen Besuchern kann auch in der Stadtbibliothek Basel keine Rede sein. Anne-Lise Hilty, bei der Bibliothek zuständig für Kommunikation und Fundraising, belegt das mit Zahlen: Knapp 20 000 Jugendliche zwischen 15 und 24 Jahren gibt es in Basel- Stadt, rund 12 000 davon haben ein Konto bei der Stadtbibliothek. «Etwa 5000 davon sind aktive Nutzer, das heisst, sie haben in den vergangenen zwölf Monaten mindestens ein Buch ausgeliehen», sagt Hilty. Etwa 80 Jugendliche tummeln sich täglich in der Stadtbibliothek in einem fast abgeschlossenen, eigenen Bereich. «Jugendliche sind keine ganz einfache Gruppe», sagt Hilty. Und vor einiger Zeit ist das tatsächlich problematisch geworden. Jede Menge Pubertierende, die laut sich unterhaltend die Bibliothek unsicher machen, abhängen und viele Dinge tun, die nichts mit dem Ausleihen von Büchern zu tun haben.

Roboter, die Ostereier bemalen: Die Bibliothek geht mit der Zeit.

Die Bibliothek sah Handlungsbedarf und hat sich mit der Jugendarbeit Basel (JuAr Basel) zusammengeschlossen. Seit 2012 sind – zunächst über eine Stiftung finanziert – zwei Jugendarbeitende als feste Ansprechpersonen in vier Bibliotheken der Stadtbibliothek anzutreffen. Sie bieten Unterstützung bei Hausaufgaben und Bewerbungen, helfen beim Umsetzen von Ideen und Projekten, leisten PC-Support, leiten Gesellschaftsspiele an und leihen den Jugendlichen bei Sorgen und Nöten ein offenes Ohr. 

Darüber hinaus hat sich das Angebot an Veranstaltungen für Jugendliche enorm erweitert: Schreibclub, Filmworkshop, digitale Schnitzeljagd, es wird gerappt, gezeichnet, fotografiert. «Das geht alles weit übers Lesen hinaus, hat aber den Effekt, dass die Jugendlichen die Bibliothek mit einem positiven, spannenden Ort assoziieren, an dem es viele Möglichkeiten gibt», sagt Hilty. In der Kornhausbibliothek Bern können junge Autoren zwischen 12 und 16 Jahren in einem Forum ihre selbst geschriebenen Geschichten vorlesen. In Luzern gibt es gemütliche Sitzsäcke in einem eigenen Bereich für Kinder und Jugendliche, die zum langen Schmökern einladen. Die Pestalozzibibliothek Zürich arbeitet mit dem FabLab Zürich zusammen und lädt Kinder und Jugendliche ein, mit einem Egg-Bot Ostereier zu bemalen, mit 3-D-Druckern zu experimentieren und Selfies mit einem LED-Bildgenerator zu erzeugen. Die Botschaft lautet: Eine Bibliothek ist alles andere als ein dunkler Ort mit verstaubten Büchern. Und sie wird von den Schweizer Bibliotheken sehr überzeugt in die Welt getragen.


Zur Autorin

Claudia Füssler hat seit der 1. Klasse einen Bibliotheksausweis, egal, in welcher Stadt sie gerade lebt. Mindestens einmal pro Woche leiht sie sich neue Bücher und gibt das so gesparte Geld gerne für gutes Essen aus.
Claudia Füssler hat seit der 1. Klasse einen Bibliotheksausweis, egal, in welcher Stadt sie gerade lebt. Mindestens einmal pro Woche leiht sie sich neue Bücher und gibt das so gesparte Geld gerne für gutes Essen aus.