Frau Willemse, wie viel Smartphone ist zu viel? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Willemse, wie viel Smartphone ist zu viel?

Lesedauer: 4 Minuten

Allgemeingültige Regeln zum Medienkonsum gebe es kaum, sagt Medienpsychologin ­Isabel Willemse. Damit Kinder einen bewussten Umgang mit dem Smartphone lernen, ­seien Eltern doppelt ­gefordert: Sie müssten den eigenen Mediengebrauch ­reflektieren und die Kinder bei ihrer ­Nutzung aufmerksam begleiten. 

Frau Willemse, Studien zufolge schauen wir alle 11 bis 18 Minuten auf unser Smartphone. Sind wir eine ­Nation von Süchtigen?

Ich finde in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen süchtig und abhängig wichtig. Abhängig heisst, wir sind auf unser Smartphone angewiesen. Das passiert leicht, weil alles im Gerät steckt: Kalender, Fahrplan, Google. Wir nutzen das Smartphone für Dinge, die früher auf mehrere Medien verteilt waren. Das Wort Sucht wird mir zu inflationär gebraucht. Für eine Diagnose von Onlinesucht müssen mehrere Kriterien erfüllt sein. Der Kontrollverlust über den Gebrauch und das Vernachlässigen von wichtigen Dingen und Beziehungen sind zwei davon. 

Ist der unbewusste Griff zum ­Smartphone ein Warnzeichen für einen ­möglichen Kontrollverlust?

Es lohnt sich dann zumindest, die eigene Smartphone-Nutzung zu untersuchen, beispielsweise mithilfe von Kontroll-Apps. So finden wir heraus, wie viel und wofür wir das Gerät wirklich nutzen. Tatsächlich greifen viele in Leerzeiten, zum Beispiel beim Warten auf den Bus, automatisch zum Gerät. Hier sollten wir unseren Kindern etwas anderes vorleben. Langeweile ist wichtig, um eigene Ideen zu entwickeln.
Isabel Willemse ist Medienpsychologin und Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Onlinesucht an der ZHAW Zürich.
Isabel Willemse ist Medienpsychologin und Psychotherapeutin mit dem Schwerpunkt Onlinesucht an der ZHAW Zürich.

Wie viel Smartphone ist zu viel? Was sollen wir unseren Kindern hier ­vorgeben und vorleben?

Ich halte nicht so viel von pauschalen Zeitangaben. Grundsätzlich gilt: Wenn Eltern etwas anderes vorleben, als sie sagen, wird es für Kinder sehr schwierig. Erleben Kinder, dass ihre Eltern in Frustmomenten zum Handy greifen, werden sie diese Strategie übernehmen und gamen oder mit einer Freundin chatten, sobald die Hausaufgaben nerven.

Spätestens im Kleinkindalter wirkt der Bildschirm wie ein Magnet. Wie ­können Eltern damit umgehen?

Wir alle schauen bei bewegten Bildern hin. Kinder spüren zudem, dass das Smartphone eine wichtige Rolle im Leben der Eltern einnimmt. Also sind sie neugierig. Es hilft, den Kindern zu erklären, was man selbst gerade macht. Sie können so allenfalls auch emotionale Reaktionen auf den Inhalt besser einordnen. Zwischendurch ein paar Fotos oder Videos zusammen anzuschauen, finde ich unproblematisch – wenn dann das Gerät wieder weggelegt wird.

Jetzt haben wir schon mehrere ­Motive, zum Smartphone zu greifen, genannt.

Spass und Unterhaltung wären weitere. Und: Viele Jugendliche nutzen Videos, um etwas zu lernen. Etwa ein Musikinstrument.

Selbst darin kann man sich verlieren. Was, wenn man den Kindern nur ein Video zeigen wollte und sie dann viele weitere Lernvideos sehen wollen?

Das klingt in der Theorie gut. Aber was, wenn die Kinder trotz vorheriger Abmachung toben?

Ich würde vorschlagen, dass man zunächst mit den Kindern über das spricht, was sie gesehen haben. Dass man Fragen stellt, das Gelernte festigt. Wenn man dann das Gefühl hat, dass das nächste Video wertvoll ist – warum nicht? Aber am besten vereinbaren, dass danach Schluss ist. Und sich daran halten. Wichtig ist, dass man die Medienzeit mit Face-to-Face-Zeit und echten Erlebnissen kombiniert. Man könnte zum Beispiel ein Experiment nachmachen, das man im Video gesehen hat.
Je konsequenter man ist, desto klarer ist es auch für die Kinder. Meist ist das Toben von kurzer Dauer, das gilt es auszuhalten – was oft nicht einfach ist. Kinder, die Alternativen kennen, können rascher wieder zu diesen wechseln. Daher ist es wichtig, dass die Nutzung digitaler Medien schon früh nur eine Tätigkeit neben vielen «analogen» ist, mit denen sich Kinder in ihrer Freizeit beschäftigen.

Wie setzt man Zeitbegrenzungen, die funktionieren?

Indem man von Anfang an den Mediengebrauch limitiert. Kindern wird es leichter fallen, beim Smartphone nachzuvollziehen, was sie allenfalls vom TV kennen. Die Regeln müssen so einfach sein, dass Eltern sie wirklich umsetzen können. Zum Beispiel: eine Stunde vor dem Schlafengehen keine Bildschirme mehr – einerseits wegen des blauen Lichts, aber auch der Inhalte wegen, die oft eher anregend sind. Vielleicht wäre das eine Zeit, die Eltern mit ihrem Kind verbringen können, in der sie zusammen ein Spiel spielen, malen oder gemeinsam ein Buch lesen. Die Kinder in unseren Studien geben oft an, dass der Gebrauch weniger reglementiert ist, als die Eltern es sagen.

Wie kommt es dazu?

Zum einen wissen Eltern, dass von ihnen erwartet wird, Medienregeln zu haben. Zum anderen werden viele Regeln schlicht nicht umgesetzt. Dann sind sie für Kinder auch nicht existent. Regeln müssen konsequent eingehalten und transparent kommuniziert werden. Kinder sollten die Konsequenzen beim Regelverstoss kennen. So können sie das Risiko selbst einschätzen.

Beim digitalen Detox droht – ähnlich wie bei anderen Diäten – ein Jo-Jo-Effekt!

Sind feste Bildschirmzeiten für bestimmte Altersstufen ein ­veraltetes Modell?

Sie sind umstritten. Medien wirken unterschiedlich stark auf Kinder. Ich schlage vor: Wählen Sie eine limitierte Bildschirmzeit, die passend scheint. Dann begleiten und beobachten Sie Ihr Kind genau. Wird es passiv? Kann es mit den Inhalten umgehen? Kann es sich vom Bildschirm lösen? Bei Jugendlichen, etwa ab 16, würde ich statt Bildschirmzeiten eher medienfreie Zeiten definieren.

Wie oft sollten diese stattfinden?

Auch das lässt sich nicht pauschal beantworten. Hat der Jugendliche Hobbys, bei denen das Smartphone ohnehin aussen vor bleibt? Dann braucht er weniger vorgeschriebene medienfreie Zeit. Man kann zum Beispiel sagen, dass die Hausaufgaben und das Familienessen handyfrei sind und das Handy nachts in eine Box kommt. Wichtig ist, dass man Alternativangebote für die handyfreie Zeit schafft.

Wie bringt man Kindern bei, achtsam und bewusst mit Medien umzugehen?

Indem man ihnen Feedback gibt. Wenn zum Beispiel das Kind nach dem Spielen eines bestimmten Games aggressiv und schlecht gelaunt ist, fragen Sie es: «Merkst du, wie du reagierst? Warum spielst du trotzdem weiter?» Aber auch den positiven Aspekten sollte Aufmerksamkeit geschenkt werden, indem Eltern beispielsweise die Skills loben, die das Kind durch ein Strategiespiel gelernt hat. Wichtig ist, immer wieder über die Wirkung von Medien zu sprechen. Je älter das Kind ist und je früher es gelernt hat, über seine Erlebnisse zu sprechen, desto besser funktioniert die Selbstreflexion.
Wie finden Familien einen achtsamen Umgang mit Smartphone & Co., so dass sie dessen Vorteile geniessen können, ohne sich von ihnen abhängig zu machen? Diese Frage steht im Zentrum unseres 25-seitigen Dossiers «Generation Smartphone» in der Ausgabe 10/19. Sie können das Magazin jetzt bestellen.
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Digital Detox, also eine gewisse Zeit ohne Handy, ist in Mode. Was halten Sie davon?

Ich habe Mühe mit dem Wort Gift. Das Smartphone kann giftig werden, aber meist ist es etwas Nützliches. Es kann guttun, Momente des Verzichts einzubauen. Man lernt sich selbst und seine Handynutzung dabei gut kennen. Drehe ich um, wenn ich mein Handy zu Hause vergessen habe? Wichtig ist, dass man die handy­freie Zeit plant und kommuniziert. In unserer Forschung haben uns Jugendliche von Dramen berichtet, weil sie eine Weile nicht mehr bei Whatsapp antworteten. Und natürlich ist wichtig, dass man nach dem Detox nicht kompensiert und einfach länger am Handy hängt. Neue Studien zeigen, dass es dazu eine Tendenz gibt. Also besser nicht zu extrem und lieber nur über kürzere Zeiträume verzichten.

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