«Die sozialen Netzwerke sind die Rache der Kinder!» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Die sozialen Netzwerke sind die Rache der Kinder!»

Lesedauer: 5 Minuten

Daniel Miller beschäftigt sich als Anthropologe damit, wie Menschen die sozialen Netzwerke nutzen. Sein Ergebnis: Sie leben online ihre eigene Kultur. Und das macht die Netzwerke für Jugendliche so wichtig.

Herr Miller, Schweizer Eltern quält die Sorge, dass ihre Kinder vor dem PC vereinsamen, dass die sozialen Netzwerke «echte Kontakte» in den Hintergrund drängen.

Welch seltsame Idee! Der Clou ist doch, dass es eben soziale Medien sind. Es geht darum, mit anderen Leuten herumzuhängen, sich auszutauschen. Ich kann ohne Zweifel sagen: Soziale Netzwerke machen junge Menschen sozialer!

Während sie vor ihrem Bildschirm herumsitzen, anstatt draussen zu sein?

Sie haben Bildschirme, ja. Aber die Interaktion zwischen Jugendlichen müssen wir heute als eine Mischung aus On- und Offline-Kommunikation begreifen. Es gibt keine rein virtuelle Realität – sie ist nicht abgetrennt vom restlichen Leben. Im Normalfall geht die Unterhaltung mit Freunden und Schulkollegen einfach online weiter.

Und das geht nicht auf Kosten anderer Aktivitäten?

Kinder werden weiterhin ihre Hausaufgaben machen, aber sie wollen dabei die Webcam einschalten, um mit anderen zusammen zu sein. Das ist gar keine so grosse Ablenkung! Hin und wieder, wenn ihnen langweilig ist, werden sie «Hi» sagen, aber vor allem fühlen sie sich sicher, wenn sie Gleichaltrige um sich haben. Sie wissen dann, dass sie nichts verpassen.

Daniel Miller Anthropologe, ist Professor am University College London. Er beschäftigt sich mit Beziehungen von Menschen zu Dingen. Einige Studien sind auf Deutsch erschienen («Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook», Suhrkamp 2012, Fr. 22.90). Die Ergebnisse der erwähnten internationalen Vergleichsstudie zur Social-Media-Nutzung sollen im Februar 2016 veröffentlicht werden.
Daniel Miller
Anthropologe, ist Professor am University College London. Er beschäftigt sich mit Beziehungen von Menschen zu Dingen. Einige Studien sind auf Deutsch erschienen («Das wilde Netzwerk. Ein ethnologischer Blick auf Facebook», Suhrkamp 2012, Fr. 22.90). Die Ergebnisse der erwähnten internationalen Vergleichsstudie zur Social-Media-Nutzung sollen im Februar 2016 veröffentlicht werden.

Sie könnten sich doch treffen!

Das Problem ist, dass dies heute kaum noch möglich ist. Früher konnten die Kinder auf den Strassen zusammenkommen, viele Eltern wussten gar nicht, was sie da treiben. Aber heutzutage sind die Eltern besessen von der Idee, dass ihre Kinder draussen nicht sicher sind, dass sie von Pädophilen entführt werden und so weiter. Jetzt kontrollieren sie fast alles, was ihre Kinder tun. Jugendliche wollen aber mit ihren Freunden herumhängen – ohne elterliche Aufsicht. Also benutzen sie die Bildschirme, um zu interagieren. Soziale Netzwerke sind sozusagen die Rache der Kinder an Eltern, die sie zu sehr einengen.

Aber das Internet ist ja auch kein gefahrloser Raum.

Genau. Jetzt kommen die Eltern und sagen: Soziale Medien sind gefährlich! Dort sind die Pädophilen, die euch kriegen werden. Sie versuchen wieder Kontrolle über die Freiräume ihrer Kinder zu gewinnen. Wo auch immer die Kinder spielen – ob draussen oder im Internet –, die Eltern werden sagen, dass es unsicher ist. Es liegt einfach in der Natur der Eltern, dass sie ihre Kinder beschützen wollen. Die Medien vermitteln uns auch, dass die Kinder heute unsicherer sind, obwohl die Sicherheit insgesamt steigt. Was das Internet angeht: Die Hauptgefahr dort sind andere Kinder. Gerade die jungen Mädchen sind im Internet sehr gemein zueinander – und das in einem Alter, in dem sie häufig ein geringes Selbstbewusstsein haben.

Wie gefährlich ist dieses Cybermobbing für die jugendliche Psyche?

Problematisch ist, dass Eltern glauben, es gäbe auf der einen Seite klar die Opfer und auf der anderen die Täter. Sie begreifen nicht, was wirklich passiert: Die meisten sind gleichzeitig Täter und Opfer. Sie sind zum Beispiel «beste Freundinnen für immer» bis sie «schlimmste Feindinnen für immer» werden. Sie streuen Gerüchte und sagen gemeine Sachen zueinander. Das ist die Kultur unserer Jugendlichen, und Eltern sollten sich bewusst sein, dass ihr Kind ein Teil davon ist. Das ist ja nichts Neues. Kinder haben schon immer Sachen zueinander gesagt wie: «Ich bring dich um, weil du mir meinen Freund weggeschnappt hast». Neu ist, dass die Eltern auf Facebook und Co. plötzlich mitlesen. Das macht sie nervös. Wenn sie sich dann einmischen, wird das Problem allerdings noch grösser. Plötzlich müssen sich auch die Schulen darum kümmern. Dabei haben die doch schon genug zu tun.

Wo liegt der Unterschied, wenn dieses Fertigmachen online stattfindet?

Ich zitiere die von uns befragten Kinder. Erstens: Es geht nach der Schule weiter, Tag und Nacht. Zweitens: Es ist einfacher, online etwas Gemeines zu sagen, als wenn man der Person gegenübersteht. Drittens: Im Internet gibt es viele indirekte Beleidigungen, bei denen man sich angesprochen fühlt, obwohl man nicht gemeint war. Da steht: «Die hässliche Kuh, die sich für den Freund von anderen interessiert» – und jede denkt, es ginge um sie. Das klingt jetzt alles sehr schlimm. Mein Job als Wissenschaftler ist es, diese Perspektive geradezurücken.

Und wie machen Sie das?

Zum einen haben wir uns angeschaut, ob die möglichen Konsequenzen von Mobbing bei den Jugendlichen zugenommen hätten, also Magersucht, selbstverletzendes Verhalten und Selbstmord zum Beispiel. Bisher haben alle mir bekannten Statistiken gezeigt, dass dies nicht der Fall ist. Ausserdem haben wir Lehrpersonen gefragt, ob sich die Atmosphäre zwischen den Schülerinnen und Schülern verschlechterte. Sie sagen ganz klar: nein. Es passiert einfach online, was vorher offline passiert ist. Und dass es online passiert, hat auch Vorteile: Jetzt haben wir erstens Beweise, und zweitens ist das Mobbing weniger körperlich. Das gleicht auch einen Geschlechterunterschied aus: Früher waren Jungen gemeiner, weil sie den Mädchen körperlich überlegen waren. Mit den sozialen Medien haben die Mädchen an Stärke gewonnen – leider wenden sie diese auch gegeneinander an. Aber man kann online nicht nur fertiggemacht werden, sondern bekommt auch viel Bestätigung und Unterstützung.

Unterscheiden sich die Geschlechter auch, wenn es darum geht, im Internet Bestätigung zu bekommen? Bei der Schweizer James-Studie kam heraus, dass Jungen vor allem Videoinhalte schätzen, Mädchen eher Fotos.

Bei Twitter zum Beispiel geht es darum, lustig und originell zu sein, das gefällt den Jungs. Bei Instagram sind schöne Bilder wichtig, das mögen die Mädchen. Da passt die Mediennutzung gut zu den Geschlechterklischees. Die Jungen posten auch sehr gerne Videos – aber meist in Zusammenhang mit einem lustigen Textkommentar. Wohingegen es bei den Mädchen vor allem um Schönheit und ästhetische Fotos geht.

Sie haben von den Jugendlichen als Kultur gesprochen. Unterscheidet sich die Social-Media-Nutzung auch zwischen verschiedenen Ländern?

Wir haben mit neun Forschern in neun Ländern 15 Monate lang die Nutzung der sozialen Netzwerke angeschaut und verglichen. Das hat uns gezeigt, dass Menschen die Medien völlig unterschiedlich benutzen, je nachdem in welcher Gesellschaft sie aufwachsen. In manchen Ländern verändert das Internet sehr viel. Zum Beispiel können Frauen aus streng muslimischen Familien plötzlich auch ausserhalb des familiären Kontexts mit Männern sprechen. Für die Engländer hingegen ist Facebook ein praktisches Mittel, Menschen einerseits auf Distanz zu halten, ihnen aber andererseits auch nicht sagen zu müssen, dass man kein grosses Interesse an ihnen hat. Wir mögen unsere Beziehungen wie unser Wetter: lauwarm.

Was ist mit dem Thema Privatsphäre?

Wir haben oft Angst, dass wir durch Social Media Privatsphäre verlieren. In China zum Beispiel haben wir aber den Eindruck gewonnen, dass viele Fabrikarbeiter durch soziale Netzwerke an Privatsphäre gewinnen. Eine unserer Mitarbeiterinnen hat in der Fabrik bei den Arbeitern gelebt. Diese kommen häufig aus ländlichen Gegenden, haben früher ein Zimmer mit ihrer Familie geteilt, jetzt mit anderen Arbeitern. Erst mit den sozialen Medien können sie Dinge machen, von denen Familie und Kollegen nichts wissen. Kein Wunder, sieht man sie in jeder freien Minute an ihren Handys.

Zeigen Eltern weltweit ihre Kinderfotos im Internet?

Hier in England sind die Eltern in einem Zwiespalt: Sie wünschen es sich so sehr, ihre Kinderbilder mit aller Welt zu teilen. Also nicht viele, nur so 100 Bilder am Tag (lacht). Gleichzeitig haben die Eltern Angst. Das ist sehr englisch. In Indien oder China macht man sich keine Gedanken darüber, wer das Kind sieht. Denn ehrlich: Was ist denn dabei? Ich glaube, es gab noch kein Baby, das leiden musste, weil ein Foto von ihm gepostet wurde. Diese Angst ist nicht rational.

Wie befreien sich Eltern aus dem Zwiespalt?

Sie teilen ihre Kinderbilder in WhatsApp-Gruppen und geschlossenen Facebook-Gruppen mit anderen Eltern. Das funktioniert gut. Solange es nicht in einen Wettstreit um das beste und schlauste Kind ausartet.


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