Amokläufe: Wie unsere Medien neue Täter schaffen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Amokläufe: Wie unsere Medien neue Täter schaffen

Lesedauer: 2 Minuten

Killerspiele, Migration, Männlichkeitsideale – unser Kolumnist, der Psychologe Fabian Grolimund, hat eine klare Meinung zur Frage, wer wirklich zu Amokläufen beiträgt.

Ich äusserte mich bis jetzt nie zu Themen in der Presse. Heute tue ich es, weil ich mich mit jedem Bericht mehr ärgere. Nach dem Amoklauf in München wird in den Medien wieder fleissig nach Gründen für solche Taten geforscht. Experten werden befragt und Journalisten basteln sich ihre Theorien zusammen. Sind es die Computerspiele? Die Migration? Eine falsch verstandene Männlichkeit, wie Bettina Weber in der Sonntagszeitung meint? Und was soll getan werden? Mehr Polizei? Mehr Aufklärung an den Schulen? Das Einzige, worüber in den Medien nicht geschrieben wird: Es sind die Medien selbst, die massgeblich zu Amokläufen beitragen.

Während über immer neue Details der Tat und über die Hintergründe ausführlich berichtet wird, und Millionen den Kopf schütteln, fühlen sich einige wenige inspiriert. Für sie sind die Täter Vorbilder, denen es nachzueifern gilt.

Während wir alle den Kopf schütteln, wenn wir die Zeitungsberichte lesen, sitzt in irgendeiner Wohnung ein Jugendlicher, der seit Jahren gemobbt wird. Vielleicht hat er mit dem Gedanken gespielt, sich das Leben zu nehmen und sieht plötzlich eine Möglichkeit, sich zu rächen und schneidet den Zeitungsbericht aus.

Wir schütteln den Kopf über die Details. Aber einige wenige fühlen sich von ihnen inspiriert.

In einer anderen Wohnung sitzt ein frustrierter Narzisst. Ein Niemand, der gerne jemand wäre und eine Möglichkeit sieht, berühmt zu werden oder seine «Botschaft» zu verbreiten. Vielleicht sieht er sich bereits selbst auf der Titelseite der Zeitungen. Er beginnt, sich erste Gedanken darüber zu machen und vage Pläne zu schmieden.

Fast allen Tätern ist etwas gemeinsam: Sie befassten sich vor ihren Taten lange und intensiv mit den Medienberichten über andere Täter. Sie liessen sich davon in eigenen Plänen bestärken und identifizierten sich mit den Tätern.

Breivik, der auf den Tag genau fünf Jahre vor dem Attentat in München 77 Menschen umbrachte, hat seinen eigenen Fanclub. Er erhielt nach seiner Tat Fanpost und Heiratsanträge. 

Mobbing, Computergames und ähnliches gab es alles schon vor dem Massaker an der Columbine High School. Doch erst seit diesem ersten Amoklauf an einer Schule und den detaillierten Berichten darüber häufen sich die Taten. Nachahmer fanden sich überall auf der Welt. 

Eric Harris, einer der beiden Täter, schrieb vor der Tat: «Wir werden Nachfolger haben, weil wir so verdammt göttlich sind.» Er wusste, dass er sich dabei auf die Presse verlassen kann.

Selbstmorde häufen sich, wenn die Medien berichten. Das nennt man den Werther-Effekt.

Die psychologische Forschung konnte mehrfach zeigen, dass sich Selbstmorde häufen, wenn in den Medien davon berichtet wird. Dieses Phänomen wird als Werther-Effekt bezeichnet. Der Name geht zurück auf Goethes Roman «Die Leiden des jungen Werther». Ein Buch, das nach seiner Veröffentlichung eine Welle von Selbstmorden auslöste, die dem Selbstmord von Geothes Hauptfigur glichen. Mehrere Auswertungen von Berichten über die Selbstmorde von Prominenten konnten Werther-Effekte nachweisen. Sogar der Film «Tod eines Schülers», der eigentlich als Aufklärungsfilm zum Thema Suizid gedacht war, führte bei beiden Ausstrahlungen zu einem deutlichen Anstieg der Selbstmorden. Dass sich die Menschen, die sich umbrachten, mit dem Protagonisten des Films identifizierten, lässt sich auch daran festmachen, dass es Menschen in einem ähnlichen Alter waren und diese auf die gleiche Weise Selbstmord begingen.

Ich bin mir fast sicher, dass sich ein ähnliches Phänomen bei Amokläufen ausmachen liesse, auch wenn es sich aufgrund der niedrigen Fallzahlen schlecht wissenschaftlich erforschen lässt. Wir könnten in diesem Fall von einem Columbine-Effekt sprechen.

Liebe Journalisten: Bitte seid euch bewusst, dass es nicht nur eine Pressefreiheit gibt, sondern auch eine Presseverantwortung. Habt bei eurer Berichterstattung auch diejenigen im Kopf, die zu Hause vor dem PC sitzen und nach Berichten über Amokläufer suchen, sich diese abspeichern, sich dadurch inspiriert und bestärkt fühlen. Füttert diese Leute nicht unnötig.

Fabian Grolimund
ist Psychologe und Buchautor. Gemeinsam mit ­Stefanie Rietzler leitet er die Akademie für Lerncoaching in Zürich. Er ist verheiratet, Vater eines Sohnes und einer Tochter und lebt mit seiner Familie in Fribourg.

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