Alle Kinder sollen gamen können
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Alle Kinder sollen gamen können

Lesedauer: 4 Minuten

Das Thema Inklusion hat in der Gaming-Branche einen schweren Stand. Doch es gibt Bemühungen, um auch Kindern mit Beeinträchtigung ein barrierefreies Spielvergnügen zu ermöglichen. Na also, geht doch!

Text: Thomas Feibel
Illustration: Petra Duvkova / Die Illustratoren

Tofu sitzt in der Klemme. Der Blindenhund hat sich auf einen Felsen mitten im Fluss gewagt und schafft es alleine nicht mehr herunter. Fünf Kinder brechen sofort zu einer schwierigen Rettungsmission in den Bergen auf. Das Besondere daran: Alle Protagonistinnen und Protagonisten des Games «The Unstoppables 2: Tofu in Gefahr!» haben eine individuelle Beeinträchtigung. Doch davon lassen sich die Freunde nicht aufhalten und nutzen ihre jeweiligen Stärken, um das Abenteuer trotz aller Hürden gemeinsam zu meistern.

Melissa zum Beispiel ist blind, sie gelangt jedoch mithilfe ihres Stocks an höher gelegene Gegenstände. Jan wiederum mag nicht sonderlich schnell sein, dafür besitzt der Junge Bärenkräfte und trägt Achim in seinem Rollstuhl Treppen hinauf.

Wie schon der erste Teil von «Unstoppables», der vor zehn Jahren erschienen ist, stammt auch diese App von «LerNetz», einem spezialisierten Unternehmen für medienbasiertes Lernen, und der Stiftung Cerebral, einer wohltätigen Organisation der Schweizer Behindertenhilfe. Um es deutlich zu sagen: Es gibt nur wenige digitale Angebote, die so gekonnt die Barriereproblematik für alle Kinder spielerisch erlebbar machen.

Das Bewusstsein schärfen

Inklusion und Barrierefreiheit bedeuten jedoch viel mehr, als lediglich Vorurteile und Berührungsängste gegenüber Menschen mit Behinderung abzubauen. Wichtiger sind strukturelle Lösungen, die letztlich zur Lebensqualität der gesamten Gesellschaft beitragen, indem sie das Bewusstsein für sozialen Zusammenhalt, Vielfalt und Respekt stärken.

Laut Bundesamt für Statistik leben knapp 1,8 Millionen Menschen in der Schweiz mit einer Behinderung, davon «rund 10 000 Kinder mit einer schweren Behinderung und weitere rund 44 000 mit einer leichteren Behinderung». Ihnen allen steht laut UN-Kinderrechts- und -Behindertenrechtskonvention – Letztere in der Schweiz seit 2014 in Kraft – das Recht auf Spielen zu.

Doch sobald es um Inklusion und Gaming geht, fehlt vielen Menschen oft das Verständnis. Vielleicht weil sie weder Kinder mit Beeinträchtigungen noch ihre Bedürfnisse kennen, vielleicht auch weil sie Videospielen selbst nur wenig abgewinnen können. Dabei ist die Antwort ganz einfach: Aufgrund einer Beeinträchtigung soll niemand ausgeschlossen werden. Alle Kinder, die gamen können, sollen auch mitspielen können. Nur stossen sie dabei immer wieder auf erhebliche Hürden in den vier Bereichen Hören, Sehen, Verstehen und körperliche Einschränkungen.

Der Schwerpunkt Inklusion und Gaming verfolgt aber neben einer verbesserten Zugänglichkeit noch ein weiteres Ziel: Kinder mit und ohne Beeinträchtigung sollen gemeinsam spielen.

Ein Vorzeigeprojekt

Kaum eine Initiative geht damit so vorbildlich voran wie «Gaming ohne Grenzen», ein Projekt der Fachstelle für Jugendmedienkultur NRW in Deutschland. Dort treffen sich seit 2020 Kinder und Jugendliche mit und ohne Beeinträchtigung, um den Games in Sachen Barrierefreiheit auf den Zahn zu fühlen. Damit sich Kinder ohne Behinderung bewusst machen können, wie es sich anfühlt, mit derlei Einschränkungen zu spielen, werden sie spielerisch durch trickreiche Hilfsmittel sensibilisiert. Um zum Beispiel motorische Barrieren zu simulieren, schränken sie den Bewegungsspielraum ihrer Finger mit Tapebändern ein.

Auch wenn viel in Bewegung ­geraten ist, gibt es ­immer noch viel zu viele Games, die Barrieren nicht berücksichtigen.

«Ich finde das Engagement von ‹Gaming ohne Grenzen› toll», sagt Bettina Wegenast, Präsidentin von PlayBern, einem inklusiven Game-Festival. «Ich würde mir so was auch für die Schweiz wünschen. Schliesslich nützt diese Initiative nicht nur Menschen mit spezifischen Behinderungen, sondern erweitert den Blick auf Games ganz allgemein.»

Das Festival, das jährlich in Bern stattfindet, verbindet die Themen «Games & Art», «Education» und «Accessibility» miteinander. Mit im Vorstand des Festivals ist auch der passionierte Gamer Pesche Buri, der wegen einer progressiven Muskel­erkrankung im Rollstuhl sitzt. «Inklusion bedeutet für mich», sagte er in einem Interview mit der Online­publikation «Hauptstadt», «dass Menschen mit einer Behinderung ganz einfach zur Normalität gehören.»

Hilfsmittel fürs Gamen auf dem Markt

Um besser spielen zu können, musste Pesche Buri sein Gamepad noch selbst modifizieren. Inzwischen liefert der Markt schon eine Reihe assistiver Zusatzgeräte wie den Xbox Adaptive Controller, das Logitech Adaptive Gaming Kit oder den neuen Sony Access Controller. Bei stärkeren Einschränkungen kommen unter anderem mit dem Mund bedienbare Joysticks wie der Quad Stick zum Zuge oder der Tobii Eye Tracker, der das Steuern mit Blicken ermöglicht. Computer, aber auch gängige Spielkonsolen erlauben – recht unterschiedliche – Acces­sibility-Einstellungen. Auch Tablets mit iOS und Android bieten schon lange Bedienhilfen an.

Wichtig für die Gamenden mit motorischer Einschränkung ist vor allem, dass sie die Belegung der Tasten an Tastatur und Controllern für ihre Bedürfnisse ändern können. Visuell wären verschiedene Anpassungen möglich, wie zum Beispiel die Berücksichtigung von Farbenfehlsichtigkeit, das Erhöhen des Kontrasts, das Vergrössern wichtiger Textpassagen oder die Möglichkeit, sich diese vorlesen zu lassen. Für Kinder und Jugendliche mit Höreinschränkungen bieten Untertitel eine gute Unterstützung, vor allem, wenn sie neben Dialogen auch Geräusche verschriftlichen.

Um Spiele heute barrierefrei für eine vielfältige Gaming-Community zu gestalten und allen uneingeschränkte Teilhabe zu ermöglichen, ist schon lange ein Umdenken in der Spieleentwicklung erforderlich. Auch wenn dazu in den letzten Jahren in der Branche viel in Bewegung geraten ist, gibt es leider immer noch viel zu viele Games, die Barrieren nicht berücksichtigen. Was nützen Untertitel, wenn die Schrift sich farblich nur schlecht auf dem jeweiligen Hintergrund lesen lässt?

Inklusion sollte darum eine noch massgeblichere Rolle in Konzeption und Gamedesign spielen. Ein Blick auf Artikel 23 der UN-Konvention zur Förderung behinderter Kinder schafft Klarheit: «Die Vertragsstaaten erkennen an, dass ein geistig oder körperlich behindertes Kind ein erfülltes und menschenwürdiges Leben unter Bedingungen führen soll, welche die Würde des Kindes wahren, seine Selbständigkeit fördern und seine aktive Teilnahme am Leben der Gemeinschaft erleichtern.» Das ist eine Verpflichtung!

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Thomas Feibel
ist einer der führenden ­Journalisten zum Thema «Kinder und neue Medien» im deutschsprachigen Raum. Der Medienexperte leitet das Büro für Kindermedien in Berlin, hält Lesungen und Vorträge, veranstaltet Workshops und Seminare. Zuletzt erschien sein Elternratgeber «Jetzt pack doch mal das Handy weg» im Ullstein-Verlag. Feibel ist verheiratet und Vater von vier Kindern.

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