Was unser Essen über uns aussagt - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Was unser Essen über uns aussagt

Lesedauer: 3 Minuten

Du bist, was du isst: Das sei keine Binsenweisheit, sondern eine Tatsache, sagt der Wissenschaftler Daniel Kofahl. Er betrachtet durch die Soziologenbrille, was auf unserem Teller landet.

Der Volksmund hat also recht: Wir sind, was wir essen. Die bekannte Lebensweisheit stimme gleich in mehrerer Hinsicht, sagt der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl: «Physiologisch betrachtet, ist unser Körper tatsächlich die Nahrung, die er sich einverleibt hat. Auch aus soziokultureller Sicht sind wir mit unserem Essen eins, weil wir uns als Gesellschaft darüber identifizieren – mit bestimmten Tischsitten, Lebensmitteln und Ritualen vom Nachmittagstee bis zum Sonntagsbraten.» Kofahl lehrt an der Universität Wien und der Deutschen Akademie für Kulinaristik, ausserdem leitet er ein wissenschaftliches Büro für Agrarpolitik und Ernährungskultur. 

Wie Ernährung zum Kult wurde

Der Soziologe weiss: Die Art und Weise, wie wir Ernährung auffassen und umsetzen, wird von der Kultur, in der wir aufwachsen und leben, vorstrukturiert. «Das gilt selbst dann, wenn wir von der Tradition abweichen», sagt Kofahl. Denn auch Veränderungen betrachteten wir immer im Kontext der von unserer Gesellschaft legitimierten Ernährungsweise: «Dann wird zum Innovator, Rebellen oder Kranken, wer es anders macht.»

Abweichler gibt es immer mehr, und der Konsens darüber, was und wie gegessen werden soll, bröckelt. Dies sieht Kofahl als natürliche Folge der Tatsache, dass Essen heute nicht mehr allein dazu dient, den Hunger zu stillen.

Es drängt sich der Eindruck auf, das Essen diene nicht mehr der Nahrungsaufnahme, es sei Medizinersatz.

Unsere Beziehung zum Essen sei dadurch einfacher und zugleich komplizierter geworden. «Frühere Generationen hatten Mühe, etwas auf den Tisch zu bringen», sagt Kofahl, «wir in den reichen Industriegesellschaften haben dafür heute ein Entscheidungsproblem.»

Der Überfluss lässt uns die Wahl, und die zwingt uns abzuwägen: Was wollen wir essen?
Und vor allem: was nicht? Im Dschungel der Möglichkeiten, so scheint es, dient uns vor allem das Ideal des vitalen Körpers als Kompass. Wir beurteilen Lebensmittel nach ihrer gesundheitsfördernden Wirkung und geraten dabei in allerlei Verstrickungen. Es drängt sich der Eindruck auf, Essen sei von der Nahrungsaufnahme zum Medizinersatz avanciert.

Reden übers Essen: keine Luxuserscheinung

In einer Gesellschaft, die Jungbleiben zur obersten Maxime erkläre, sei Gesundheit denn auch von zentraler Bedeutung, sagt Kofahl: «Sie ist jedoch sehr fragil und von vielen Faktoren abhängig, und nun hat sich herumgesprochen, dass einer dieser Faktoren die Ernährung sein könnte.» Zudem biete Essen in diesem Kontext ein dankbares Betätigungsfeld für Aktivismus, weil Veränderungen greifbar seien, sagt der Soziologe: «Es ist einfacher, seine Ernährung umzustellen, als den Job zu kündigen.» 

Dass wir uns so intensiv mit der Wirkung des Essens auf unseren Körper befassen, hat gemäss Kofahl aber auch viel mit einem gesellschaftlichen Widerspruch zu tun. «Es ist geradezu paradox, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der immer mehr Leute wohlbeleibt sind, das aber stigmatisiert anstatt kultiviert wird», sagt der Soziologe. «Dieser Konflikt führt dazu, dass wir uns intensiv mit unserer Ernährung auseinandersetzen.»

Reden wir demnach zu oft übers Essen? «Das finde ich wiederum gar nicht», so Kofahl. «Essen ist etwas Notwendiges und Sinnliches zugleich, warum sollten wir nicht ausgiebig darüber nachdenken und diskutieren?» Dieses Phänomen sei keine Luxuserscheinung in reichen Gesellschaften, sondern ein Grundbedürfnis, das sich in allen Kulturen beobachten lasse: «Indem Menschen das Essen zu sich nehmen, von dem sie durch kollektiv geteiltes Wissen glauben, es sei das richtige, stellt ihr Körper schliesslich ein konkretes Produkt dieser Diskurse dar.»

So werde selbst in Stammesgesellschaften über das Essen geredet, bloss mit anderem Fokus. Da gehe es dann eben um Moral, Mythen und Religion.

In unserer Novemberausgabe beschäftigen wir uns mit Ernährungsmythen und der Frage: Was ist gesund für mich und meine Familie? Dafür stellen wir auch Familien vor, die diverse Ernährungsformen ausprobieren. Das Magazin ist ab 2. November am Kiosk. Und sie können es hier bestellen.
In unserer Novemberausgabe beschäftigen wir uns mit Ernährungsmythen und der Frage: Was ist gesund für mich und meine Familie? Dafür stellen wir auch Familien vor, die diverse Ernährungsformen ausprobieren. Das Magazin ist ab 2. November am Kiosk. Und sie können es hier bestellen.

Machtfragen und Statussymbole

Religiöse Aspekte des Essens spielen aber auch dort eine zunehmend grössere Rolle, wo viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen zusammenleben. Auch die Moralfrage ist nicht den Stammesgesellschaften vorbehalten. «Beim Essen und Trinken geben wir Auskunft über unseren ethischen Standpunkt», sagt Kofahl.

Umgekehrt beurteilten wir die Einstellung der anderen nach dem, was diese auf dem Teller hätten. So werde zum Beispiel billiges Essen in vielen Milieus sozial sanktioniert. Als Beispiel führt Kofahl das Hühnchen vom Discounter an: «Seine Konsumenten stehen im Verdacht, das eigene Wohl über das der anderen zu stellen: der Tiere, der Umwelt oder derer, die es unter widrigen Umständen produzieren müssen.»

Andere wiederum, sagt der Soziologe, werteten den Konsum von teuren Bioprodukten als Wichtigtuerei und Geldverschwendung. Eine Beziehung zum Essen ohne Statusdenken sei kaum realistisch, weil wir in einer Kultur lebten, die jeden nach seiner sozialen Position einordne. «Was aber möglich sein sollte», sagt Kofahl, «ist eine entspanntere Haltung. Das bedeutet, auch mal Fünf gerade sein zu lassen und sich bewusst zu machen, wie gut es einem geht.»

Beim Essen können Kinder das Machtverhältnis in der Familie umkehren – durch heimlichen Süssigkeitenkonsum oder Rebellion am Familientisch.

Essen bleibt auch immer eine Machtfrage, sowohl in der Gesellschaft als in der Familie: Wer darf Gebote und Verbote aussprechen? Eltern hätten zwar die Macht, ihre Kinder zu erziehen, sagt Kofahl, doch eigne sich gerade Essen besonders gut, um dieses Machtgefüge ins Wanken zu bringen, sei es durch heimlich genaschte Süssigkeiten oder offene Rebellion am Familientisch.

«Essen und Trinken vermitteln kulturelle Regeln und Normen», sagt Kofahl. «Es stellt sich daher automatisch die Frage nach Durchsetzung und Widerstand.» Was sich in der Weltgeschichte beobachten lässt, hat laut dem Soziologen auch am Familientisch Gültigkeit: «Machtfragen müssen nicht autoritär gelöst werden, es sind auch Kompromisse und aufklärerische Überzeugungsarbeit möglich.» Und vor allem müssten Eltern vorleben, was sie durchsetzen wollen: «Wer das nicht tut, ist unglaubwürdig.» 


Bild: Pexels.com


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