Warum sind wir ständig krank?

Erkältung, Grippe, Lungenentzündung: Auch in diesem Winter scheinen die eigenen und andere Kinder oft krank zu sein – häufiger als vor der Covid-19-Pandemie. Ist das tatsächlich so?
Nicht schon wieder! Aus dem Kinderzimmer tönt ein rasselnder Husten. Dabei war derjenige der vorherigen Erkältung kaum erst verschwunden. Hartnäckig hatte er sich über Wochen gehalten. Gefühlt sind im Winterhalbjahr ein kratziger Hals, eine laufende Nase und Husten unsere ständigen Begleiter. Von den Kindern, aber auch von uns Eltern.
Im Umfeld höre ich von Erwachsenen, die kaum je krank waren, die es nun lange ins Bett legt. Von vielen Lungenentzündungen. Von Husten, der nur mit Cortison-Spray wieder weggeht. Ich habe den Eindruck, dass wir seit der Covid-Pandemie öfter und hartnäckiger krank sind. Doch stimmt das wirklich?
Die Schutzmassnahmen infolge der Pandemie haben die Übertragung von Viren und Bakterien unterbrochen.
Christoph Berger, Infektiologe
Zeit, Fachpersonen zu fragen. Und tatsächlich, sie bestätigen diesen Eindruck. Es handelt sich um einen sogenannten Rebound- oder Nachholeffekt. «Durch die Schutzmassnahmen wie Maskentragen, Abstandhalten und Lockdowns haben wir die Übertragung praktisch aller Viren und Bakterien, die Atemwegserkrankungen auslösen, unterbrochen», erklärt Christoph Berger, Chefarzt der Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Universitäts-Kinderspital Zürich.
Im Winter 2020/2021 habe es beispielsweise keine Grippewelle gegeben. Seit dem Frühjahr 2022 sind die Erreger nach und nach zurückgekehrt. «Weil wir während der Pandemie nicht mehr mit diesen Viren und Bakterien infiziert wurden, sind wir weniger immun dagegen. Das führt dazu, dass wir nun öfter und teilweise auch schwerer erkranken.»
Immunität ist verloren gegangen
Nicole Ritz, Chefärztin für pädiatrische Infektiologie am Kinderspital Zentralschweiz in Luzern, erklärt: «Man kann sich das Immunsystem wie ein Gedächtnis vorstellen. Wenn es mit gewissen Erregern lange Zeit keinen Kontakt mehr hatte, weiss es nicht mehr so gut, wie es diese bekämpfen soll.» Christoph Berger vergleicht die Situation mit dem Ausschlagen eines Pendels: «Während der Pandemie waren die Ansteckungen fast auf null und seither schlagen sie nach oben aus.»
Haben wir wenigstens den Höhepunkt bereits erreicht? «Mittlerweile sind alle bekannten Erreger zurückgekehrt, daher dürfen wir davon ausgehen, dass sich die Situation bald normalisiert», sagt Christoph Berger. Nachdem die Schutzmassnahmen im Frühjahr 2022 aufgehoben worden waren, kam das Respiratorische Synzytial-Virus (RS-Virus) zurück. Löst es bei gesunden Kindern und Erwachsenen normalerweise lediglich eine Erkältung aus, können Babys und Kleinkinder unter zwei Jahren eine Bronchitis oder eine Lungenentzündung entwickeln. Daher waren die Kinderspitäler im Sommer und Herbst 2022 voll mit kleinen Patientinnen und Patienten – nicht wie sonst im Winter.
Seit Covid-19 haben wir eine sensibilisierte Wahrnehmung für das Kranksein.
Nicole Ritz, Kinderärztin
Meistens treten Atemwegserkrankungen vermehrt in der kalten Jahreszeit auf. Die Pandemie hat dieses Muster durcheinandergebracht. Das bestätigt Silvio Brugger, Leitender Oberarzt an der Klinik für Infektionskrankheiten und Spitalhygiene am Universitätsspital Zürich: «Die Art und Weise und das Tempo, mit dem die Erreger zurückkehren, ist sehr unterschiedlich. Das hängt auch damit zusammen, wie gut sie übertragbar sind.»
Eine starke Keuchhusten-Welle
Ende 2022 kehrten die Influenzaviren zurück und sorgten für eine grosse Grippewelle. Nach und nach kamen auch andere Viren und Bakterien zurück: die Streptokokken der Gruppe A, die unter anderem Scharlach auslösen, die Pneumokokken, aber auch die harmloseren Erkältungsviren. Anfang 2024 stiegen die Keuchhusten-Fälle an. «Wir sehen alle fünf Jahre eine Keuchhusten-Welle, aber jene im vergangenen Jahr war besonders stark», sagt Christoph Berger.
Keuchhusten ist vor allem für Kleinkinder unter zwei Jahren und speziell für Babys unter sechs Monaten gefährlich. «Deshalb ist unser Hauptziel, dass wir bei den Babys und Kleinkindern eine hohe Impfrate haben», erklärt er. Da die Impfung ab zwei Monaten vorgenommen werden kann, ist es wichtig, die besonders gefährdeten Neugeborenen in den ersten drei Monaten zu schützen. Aus diesem Grund sollten sich Eltern noch vor der Geburt impfen lassen.
Für alle anderen gilt: «Wer akute Erkältungssymptome hat, besucht kein Baby oder trägt eine Maske.» Denn: Kinder, die geimpft sind, entwickeln nach Kontakt mit dem Keuchhusten-Bakterium meist keine Infektion oder nur leichten Schnupfen und Husten.
Die meisten Ansteckungen erfolgen durch Tröpfcheninfektionen. Das heisst, die Viren werden durch Niesen, Husten oder Sprechen übertragen. Das Fiese: Meistens ist man bereits ein bis zwei Tage vor Symptombeginn ansteckend. Am höchsten ist die Ansteckungsgefahr in den ersten Tagen der Erkrankung. Wie lange man infektiös bleibt, hängt vom Erreger und von der Stärke der Symptome ab.
Rhinoviren
Rhinoviren sind die häufigsten Erkältungsviren, die uns immer wieder erwischen. Der Grund dafür: Es gibt über 160 Typen davon. Sie sorgen für einen kratzenden Hals, gefolgt von einer laufenden Nase und Husten.
Adenoviren
Auch von den Adenoviren gibt es zahlreiche Typen. Viele lösen eine Erkältung aus, andere Magen-Darm-Infektionen oder Bindehautentzündungen.
Respiratorisches Synzytial-Virus
Das RS-Virus ist sehr ansteckend und verursacht Schnupfen, Husten, Fieber, Müdigkeit und oft auch Bindehautentzündungen. Gefährlich ist es für ältere oder immungeschwächte Menschen sowie Kinder unter zwei Jahren. Für Personen ab 60, Schwangere und Säuglinge gibt es einen Impfstoff.
Coronaviren
Sars-Cov-2 ist eines von mehreren Coronaviren, die Atemwegserkrankungen auslösen. Die meisten Coronaviren führen zu Erkältungskrankheiten mit Schnupfen, Husten, Kopfschmerzen und Fieber. Covid kann in seltenen Fällen immer noch sehr schwere Erkrankungen und chronische Folgen (Long Covid) nach sich ziehen.
Influenzaviren
Die Grippe wird durch Influenzaviren ausgelöst. Typische Symptome sind plötzlich auftretendes hohes Fieber, Schüttelfrost, Glieder- und Kopfschmerzen. Hinzu können Schnupfen, Halsschmerzen, Husten und Appetitverlust kommen. Kinder klagen auch über Übelkeit, müssen erbrechen oder haben Durchfall.
Keuchhusten
Keuchhusten wird durch ein Bakterium ausgelöst, das hochansteckend ist und Hustenanfälle auslöst. Diese können mehrere Wochen lang anhalten. Die Bakterien sind vor allem für Säuglinge gefährlich, weil sie zu Lungenentzündungen, Krampfanfällen und Schädigungen des Gehirns führen können.
Pneumokokken
Auch von den Pneumokokken-Bakterien gibt es zahlreiche Typen. Eine Erkrankung kann verschiedene Komplikationen nach sich ziehen wie Mittelohr-, Lungen- oder Hirnhautentzündungen oder eine Blutvergiftung.
Mykoplasmen
Mykoplasmen-Bakterien lösen insbesondere bei Kindern und Jugendlichen Lungenentzündungen aus. Der Verlauf ist meist schleichend und zeichnet sich durch Husten aus. In der Regel sind die Lungenentzündungen bei Behandlung mit Antibiotika unproblematisch.
Kurz nach dem Keuchhusten kehrten im Sommer 2024 die Mykoplasmen zurück. Diese haben insbesondere bei Kindern für Lungenentzündungen gesorgt. Bei seiner täglichen Arbeit spürt das der Kinderarzt Stefan Roth in Köniz BE: «In unserer Praxis sehen wir in letzter Zeit Kinder, die deutlich häufiger und schwerer krank sind. Dazu tragen auch die Mykoplasmen bei. Betroffen sind vermehrt auch ältere Kinder und Jugendliche.»
Situation mit Augenmass besprechen
Nebst dem Nachholeffekt sieht Nicole Ritz einen weiteren Grund für das Gefühl, dass wir mehr krank sind: «Die Pandemie hat uns geprägt. Wir haben seither eine sensibilisierte Wahrnehmung für das Kranksein.» Einem Kratzen im Hals, einem Hüsteln, das wir früher kaum wahrgenommen haben, messen wir nun mehr Gewicht bei. Manche machen sich Gedanken, ob sie jemanden anstecken könnten.

Stefan Roth plädiert dafür, die Situation mit Augenmass miteinander zu besprechen. Zum Beispiel, wenn die Kinder krank sind und ein Besuch der Grosseltern ansteht: «Vielen Grosseltern ist es wichtiger, die Familie zu sehen, und sie nehmen ein gewisses Risiko in Kauf.» Grundsätzlich gelte aber: «Wer krank ist, bleibt zu Hause.»
Gute Bakterien töten schlechte ab
So weit, so klar. Doch eine Frage bleibt: Hat das Coronavirus vielleicht nicht doch etwas in unserem Körper ausgelöst, ihn vielleicht geschwächt? Es gibt Medienberichte, die darauf hindeuten.
Auch hier sind sich die befragten Fachpersonen einig: Kurzfristig ja, langfristig nach bisherigen Erkenntnissen nein. Nicole Ritz erklärt: «Während und nach vielen Virusinfektionen sind wir einige Zeit anfälliger für weitere Infektionen, zum Beispiel weil die Nasenschleimhaut teilweise zerstört wird.»
Diese ist in der Regel die Eintrittspforte für Atemwegsinfektionen. Daher kann es auch nach der Ansteckung mit grundsätzlich harmlosen Erkältungsviren zu einer sogenannten Superinfektion durch Bakterien kommen, die dann schwere Krankheitssymptome verursachen und antibiotisch behandelt werden müssen, wie Infektiologe Silvio Brugger ausführt. «Wie lange wir nach einer viralen Infektion anfälliger sind, ist bislang schlecht untersucht. Wir sind derzeit dabei, dies zu erforschen.» Erste Hinweise deuten darauf hin, dass es von der individuellen Besiedelung der Nasenschleimhaut durch gute Bakterien abhängt.
Kranke Kinder brauchen vor allem zwei Dinge: Zeit und Zuwendung.
Stefan Roth, Hausarzt
Gute Bakterien in der Nase? Ja, tatsächlich. Wie im Darm hat jeder Mensch auch gute und krankmachende Bakterien im Mikrobiom der Nase. «Die guten Bakterien können die krankmachenden abtöten oder umerziehen, sodass sie unschädlich werden», erklärt Silvio Brugger.
Wird also weniger krank, wer viele der guten Bakterien hat? «So pauschal kann man das nicht sagen. Aber es gibt Hinweise, dass Kinder, die viele der guten Bakterien haben, seltener an Mittelohrentzündungen leiden und Erwachsene weniger oft eine Lungenentzündung bekommen, die durch Pneumokokken ausgelöst wird.»
Etwas tun, um das Wachstum der guten Bakterien zu fördern, kann man leider nicht. «Doch wir forschen daran, ob wir bakterielle Infektionen mit Nasensprays therapieren können, welche die guten Bakterien enthalten.» Um zur Ausgangsfrage zurückzukommen: Es sieht so aus, als erhole sich die Nasenschleimhaut von Menschen, die zuvor schon viele gute Bakterien hatten, schneller von Covid und anderen viralen Erkrankungen. Somit sind sie weniger lang anfällig für weitere Infektionen.
Vitaminpräparate sind nicht nötig
Das ist schön und gut, aber können wir auch etwas tun, um nicht gleich jede Erkältung einzufangen? Auch hier sind sich die Expertinnen und Experten einig: nicht rauchen, genügend und regelmässig schlafen, sich ausgewogen ernähren und sich ausreichend an der frischen Luft bewegen. Vitaminpräparate oder Nahrungsergänzungsmittel brauche es nicht. «Sie haben sich zu einem guten Geschäft für die Herstellerfirmen entwickelt», sagt die Pädiaterin Nicole Ritz. Dennoch relativiert sie: «Wer überzeugt ist, dass dieses oder jenes guttut, soll es nehmen. Die Überzeugung hilft, gesund zu bleiben.»
Und was, wenn es die Eltern oder Kinder erwischt hat? «Erkrankungen müssen ernst genommen werden», sagt Nicole Ritz, appelliert aber auch an die Geduld: «Manchmal muss man einfach abwarten und Tee trinken.» Hausarzt Stefan Roth meint: «Wer gerne Hausmittel wie Zwiebel- oder Essigwickel anwendet, soll das unbedingt tun.» Das Fieber solle man dann senken, wenn es dem Wohlbefinden des Kindes helfe. In die Arztpraxis gehörten Kinder, deren Allgemeinzustand schlecht ist und die nicht trinken. «Ansonsten brauchen kranke Kinder vor allem zwei Dinge: Zeit und Zuwendung.»