Herr Stöckli, wie hilft man schüchternen Kindern? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Stöckli, wie hilft man schüchternen Kindern?

Lesedauer: 8 Minuten

Acht Prozent der Schulkinder sind übermässig schüchtern, und das über eine lange Zeit. Aus der ständigen Angst heraus, schlecht beurteilt zu werden, verhalten sie sich im Unterricht meist passiv – mit fatalen Folgen, sagt Georg Stöckli. Der Erziehungswissenschaftler über stumme Beobachter, überbehütende Eltern und besonders hartnäckige Hemmzwerge.

Interview: Evelin Hartmann
Bilder: Daniel Winkler / 13 Photo

Ein ständiges Wispern und Klappern erfüllt den grossen Saal, Studenten unterhalten sich, bestellen Kaffee und Gipfeli. «Oh, das habe ich mir anders vorgestellt», sagt Georg Stöckli, der den Lichthof der Universität Zürich als Ort für dieses Interview vorgeschlagen hatte. «Ansonsten stehen hier immer Tische und Stühle.» Heute jedoch wird hier für einen Stehapèro aufgetischt. Erziehungswissenschaftler und Journalistin wissen sich zu helfen, belegen einen der herumstehenden Bistro-Stehtische und führen das Gespräch im Stehen.

Herr Stöckli, viele Kinder sind schüchtern. Stellt dieses Persönlichkeitsmerkmal überhaupt ein Problem dar?

Es kommt darauf an, wie ausgeprägt das schüchterne Verhalten ist. Unter Schüchternheit versteht man grundsätzlich die Ängstlichkeit eines Menschen beim Knüpfen zwischenmenschlicher Beziehungen. Schüchternheit ist, solange sie kein Leiden verursacht, keine psychische Störung, sondern ein Ausdruck des Temperaments eines Menschen. Viele, besonders jüngere Kinder verhalten sich in unbekannten Situationen zurückhaltend, insbesondere, wenn ein Kind in den Kindergarten oder die Schule kommt. Das geht meist vorüber, wenn es sich an die zunächst neue Lehrerin und den Klassenraum gewöhnt hat.

Wann ist ein Kind zu schüchtern? 

Wenn der Erstklässler, um bei diesem Beispiel zu bleiben, obwohl er gerne Freundschaften schliessen würde, sich auch nach Wochen zurückhält und selten den Kontakt zu seinen Mitschülern sucht und sich im Unterricht kaum bis gar nicht mündlich beteiligt. Wissenschaftlich ausgedrückt: Wenn sein Vermeidungsverhalten ausgeprägter ist als sein Annäherungsverhalten.

Prof. Dr. Georg Stöckli war von 2009 bis 2015 Leiter der Forschungsstelle Kind und Schule am Institut für Erziehungswissenschaft der Universität Zürich.

Warum verhalten sich Kinder denn auf diese Art und Weise?

 Übermässig schüchterne Buben und Mädchen haben Angst, negativ bewertet, ausgelacht und lächerlich gemacht zu werden. Sie haben Angst, nicht zu genügen und den Erwartungen anderer nicht gerecht zu werden. «Ich genüge nicht als Person.» Diese Angst führt dazu, dass sich schüchterne Kinder in Gegenwart anderer unbehaglich fühlen, angespannt sind und Hemmungen haben, sich beispielsweise in ein Spiel einzubringen. Sie bleiben in der Rolle des stummen Beobachters.

Was steckt hinter dieser Angst? 

Ein stark angeschlagenes Selbstvertrauen. Die Vermeidung von sozialen Kontakten ist die Folge, ebenso wie eine mangelhafte Unterrichtsbeteiligung. Diese Kinder machen sich klein, sprechen, wenn überhaupt, nur ganz leise, haben keinen wirklich spürbaren Händedruck, meiden den Blickkontakt, und auf Fragen antworten sie schulterzuckend mit «ich weiss nicht». Was von Aussenstehenden oft negativ bewertet wird.

Nach dem Motto: «Wo nichts rauskommt, ist auch nichts drin.»

Schüchternen fehlt aber nicht einfach nur das richtige Skript für die sozialen Auftritte; das Problem liegt im Grunde tiefer. Oft kennen sie die passenden Dialoge und das, was man sagen könnte, sehr wohl, aber sie verzichten darauf, die Sätze und Bemerkungen auszusprechen, weil sie sich nicht dazu berechtigt und zu unbedeutend fühlen, ihre Meinung in eine Situation einzubringen. Oder sie fürchten, dass man ihnen widerspricht, was sie sofort beschämen würde.

Aber gibt es nicht auch schüchterne Menschen, die ihre Hemmungen gekonnt überspielen? 

Das ist richtig. Viele Schauspieler sind eigentlich extrem schüchterne Menschen, obwohl sie täglich vor Publikum auf der Bühne stehen. Aber dort spielen sie lediglich ihre Rolle. Extravertiertes Verhalten können sich Schüchterne mit zunehmendem Alter aneignen. Auch der Klassenclown hat letztlich nur eine Möglichkeit gefunden, sich vor anderen zu präsentieren. Er geht damit aber keine ernsthaften Kontakte ein.

Georg Stöckli war Leiter der Forschungsstelle Kind und Schule an der Uni Zürich.

Können diese Kinder keine Freundschaften schliessen? 

Sagen wir, es fällt ihnen sehr schwer, da ihr soziales Misstrauen so stark ausgeprägt ist. Das kleinste Anzeichen von Abneigung oder Zurückweisung von dem oder der Auserwählten wird als Ablehnung gedeutet und führt zum Rückzug. Deshalb haben schüchterne Kinder meist wenige Freunde, die ihnen sehr wichtig sind und von denen sie extrem viel erwarten.

Von wie vielen Kindern, denen es so ergeht, sprechen wir?

Im Kindergarten ist anfänglich ein Drittel der Buben und Mädchen auffällig schüchtern. In der Primarschule werden dann etwa 16 Prozent der Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs als schüchtern wahrgenommen. Mädchen und Buben sind dabei übrigens gleich oft betroffen. Diese Schüchternheit nimmt bei vielen Betroffenen mit der Zeit ab. Bei rund 8 Prozent bleiben die Hemmungen und die Angst vor Zurückweisung allerdings erhalten. Wenn diese Kinder im Jugendalter den Anschluss immer noch nicht finden, isoliert bleiben, dann stabilisiert sich ihre Schüchternheit. Dann bleibt man mit grosser Wahrscheinlichkeit auch als Erwachsener isoliert.

Wird Schüchternheit vererbt?

Während meiner Forschungstätigkeit habe ich beobachtet, dass in den meisten Fällen schon die Eltern schüchtern waren. Das war auch die Aussage der Mütter und Väter in unseren Kursen: «Ich war früher genauso.» Lassen Sie mich den Zusammenhang so erklären: Es gibt ein Hemmungs- und ein Annäherungssystem, und je nachdem, wie die Einschätzungen sind, wird entweder das eine oder das andere aktiviert. Bei Schüchternen ist die Schwelle tiefer und die Hemmungen werden früher aktiviert.

Wie muss man das verstehen? 

Der Amerikaner und Entwicklungspsychologe Jerome Kagan hat in den 80er-Jahren Babys Mobiles vorgehalten. Die einen waren interessiert, haben mit Greifen und Glucksen freudig reagiert, während sich andere weinend weggedreht haben. Für sie waren diese Reize zu viel. Diese Kinder haben eine so niedrige Reizschwelle, dass sie von Reizen, die von aussen kommen, recht schnell überfordert werden.

Und diese niedrige Reizschwelle ist die genetische Komponente? 

Ja, sie wird von den Eltern vererbt. Wie sich gezeigt hat, neigen besonders Kinder, die gegenüber fremden Personen eine tiefere Reizschwelle haben, zu späterer Schüchternheit. Ob es so weit kommt, hängt stark von der Erziehungsumgebung ab. Eltern, die früher selber schüchtern waren, reagieren häufig ängstlich und überbehütend und verstärken so die Hemmungstendenzen beim Kind. Schüchternheit kann gleichzeitig vererbt und anerzogen sein.

Die stellvertretende Chefredaktorin Evelin Hartmann im Gespräch mit Georg Stöckli.

Was gelingt Kindern mit einer höheren Reizschwelle besser? 

Es muss viel mehr passieren, um diese Kinder aus der Ruhe zu bringen. Sie können ihr Handeln besser strukturieren und ausrichten auf das, was wirklich passiert, während Kinder mit einer niedrigen Reizschwelle (vorschnell) auf Signale reagieren. Für Schüchterne ist es so, dass der «Blick des anderen» primär Beurteilung und damit Bedrohung signalisiert – nicht etwa Interesse und Wohlwollen.

Haben Schüchterne auch Stärken – die weniger schüchternen Menschen fehlen? 

Schüchterne Menschen werden oft als sehr empathisch beschrieben, sie sind gute Zuhörer und Beobachter. Und verstehen Sie mich nicht falsch, auch Hemmungen sind nicht nur negativ zu bewerten. Wenn es mehr Hemmungen gäbe, wäre unsere Welt sicher um einige Konflikte ärmer. Das Problem ist nur, dass diese Hemmungen in Situationen auftreten, die für das persönliche «Vorankommen » der schüchternen Person entscheidend wären.

So bleiben schüchterne Menschen hinter ihren Möglichkeiten zurück. Im Hinblick auf die Schule ist ein solches Verhalten fatal. 

Leider. Diese Kinder bleiben im Unterricht passiv, machen nicht mit und können somit nicht zeigen, was sie eigentlich im Stande sind zu leisten. Ihre Noten sind schlechter, als sie ohne dieses schüchterne Verhalten wären. Viele Lehrpersonen reagieren genervt auf diese Kinder, die sich nicht äussern. Andere Kinder und Jugendliche haben feine Antennen für eine solche Stimmung: «Er oder sie ist anders als wir.» In einem ungünstigen Umfeld kann dies bis zu Mobbing führen.

Mein Wunsch ist, dass Fachpersonen regelmässig mit diesen Kindern an ihren Schulen arbeiten.

Sie sprechen in Ihren Büchern von den «vergessenen Kindern». 

Damit Unterricht stattfinden kann, müssen erst einmal diejenigen Schüler ruhiggestellt werden, die stören. Dabei gehen die stillen, zurückhaltenden Kinder unter – oder sind sogar in ihrem passiven Verhalten erwünscht. Sie machen keinen Klamauk, sind ruhig. Das führt dazu, dass die Probleme dieser Kinder nicht gesehen werden. Was Schüchterne brauchen, ist eine Umgebung der Vertrautheit. Anders als zu Hause ist diese Vertrautheit in der Schule nicht gegeben, und durch die Klassengrösse sind die Lehrerinnen und Lehrer nicht in der Lage, eine Vertrautheit zu schaffen.

Dabei wäre es gerade in der Schule wichtig, dass es den Lehrpersonen gelingt, eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen.

Leider hören diese Kinder schon im Kindergarten von Lehrpersonen, dass sie sich besser beteiligen sollen, was nicht gerade zu einer Verbesserung führt. Wenn die Eltern dann auch noch solche Signale aussenden, wird es ganz schlimm: «Mach doch, sei doch, tu doch.» Das heisst für das Kind: «So, wie du bist, bist du nicht gut». Und das ist natürlich eine fatale Botschaft.

Was könnten Lehrpersonen stattdessen tun? 

Es wäre wichtig, dass Lehrerinnen und Lehrer mit den Kindern besprechen, wie sie sich im Unterricht besser beteiligen können, und einen Weg finden, wie sie das Kind unterstützen. So könnten beispielsweise anstehende Vorträge gemeinsam vorbesprochen werden. Man sollte dem Kind zu verstehen geben, dass auch andere Ängste haben, vor der Klasse zu sprechen, und dass das ganz normal ist. Man sollte ihm vermitteln, dass man es in seinem Wesen akzeptiert, aber es Schritt für Schritt weiterbringen möchte.

Eine zeitaufwendige Sache. 

So zeitaufwendig ist das nicht. Zwei bis drei Mal pro Woche am Ende des Unterrichts kurz mit einem schüchternen Kind Aufträge durchsprechen, das können Lehrpersonen leisten.

«Schüchterne Kinder bleiben hinter ihren Möglichkeiten zurück», sagt Georg Stöckli.

In Ihrer Funktion als Leiter der Forschungsstelle Kind und Schule an der Universität Zürich haben Sie das «Soziale Fitness-Training» entwickelt. Ein Programm, das schüchternen Kindern helfen soll, sich in der Schule zu öffnen und ihre Hemmungen hinter sich zu lassen. 

Während meiner Forschungszeit zu diesem Thema sind immer wieder Eltern mit der Frage auf mich zugekommen: «Was können wir nun gegen die Schüchternheit unseres Sohnes, unserer Tochter tun?» Da habe ich gemerkt, dass es mit der reinen Forschung nicht getan ist – und dieses Programm entwickelt, in dem wir mit den Kindern bei uns an der Universität gearbeitet haben, damit sie den Erwartungen, die an sie gestellt werden, gerecht werden können. Es braucht ja eigentlich nicht viel: sich gelegentlich melden, sich einbringen, mitmachen, in der Pause nicht abseitsstehen, sondern mit anderen etwas gemeinsam machen. Für diese Kurse sind Familien aus der gesamten Deutschschweiz zu uns gekommen. Leider werden Sie heute nicht mehr angeboten.

Unter anderem aus diesem Grund haben Sie in diesem Frühjahr das Buch «Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen und Schüler» herausgegeben …

… um es an Sozialarbeiter und Heilpädagogen an Schulen abzugeben. Mein Wunsch wäre es, dass diese Fachpersonen regelmässig mit schüchternen Kindern an ihrer Schule arbeiten.

Solange sie kein Leiden verursacht, ist Schüchternheit keine Störung.

Was kann ich als Vater oder Mutter eines schüchternen Kindes tun? 

Erst einmal sollten Sie Ihrem Kind zuhören. Aussagen wie «alle anderen in der Klasse sind blöd» deuten schon darauf hin, dass etwas nicht stimmt. Denn das kann nicht sein. Eine Schulklasse ist im Grunde der beste Ort, um Freunde zu finden, da man über einen längeren Zeitraum immer wieder mit denselben Menschen Zeit verbringt.

Sollte man sein Kind ermutigen, auf andere zuzugehen?

Es lohnt sich, als Mutter oder Vater eines betroffenen Kindes die Frage zu stellen: Wie distanziert bin ich eigentlich selbst anderen Menschen gegenüber? Wenn man seinem Kind sagt, dass es doch eigentlich ganz einfach ist, es aber selbst nicht praktiziert, dann ist das ein Widerspruch, den das Kind durchschaut. Natürlich gehört es dazu, hin und wieder ein anderes Kind zu sich nach Hause einzuladen, gemeinsam zu essen und dem eigenen Kind zu zeigen, dass man in diesen Situationen auch entspannt sein kann. Solche Tischsituationen eignen sich dafür sehr gut: Das Kind ist anwesend, muss aber nicht aktiv handeln. Das ist ein guter Anfang.

Für Ihr Programm haben Sie den Mutmacher entwickelt, der dem schüchternen Kind hilft, gegen den sogenannten Hemmzwerg zu kämpfen. 

Dieser Hemmzwerg ist ein sehr hartnäckiger Zwerg (lacht). Es ging mir darum, die Schüchternheit von der Person des Kindes zu trennen. Es ist der Hemmzwerg, der dem schüchternen Kind das Leben schwermacht. Doch mithilfe des Mutmachers kann der Hemmzwerg bekämpft werden. Eltern rate ich, die Mutmacher ihrer Kinder zu werden und mit ihnen Situationen zu erleben, nach denen sie sagen können: «Da warst du jetzt aber richtig mutig!» Und: «Du bist viel mutiger, als du denkst!» Und das kann dann ein Anschlusspunkt an die eigene Mutmacherei sein.

«Mutmacher gegen Hemmzwerg»

 Georg Stöckli entwickelte ein Trainingsprogramm, das schüchterne Kinder darin unterstützt, ihre Hemmungen und Ängste zu überwinden. Das Programm wurde mit Schülerinnen und Schülern der vierten bis sechsten Klassen erprobt. Die abschliessende Auswertung zeigte, dass sich diese Kinder nach dem Training mutiger fühlten als zuvor. In zehn Trainingseinheiten werden Übungen angeboten, die den Kindern zum einen ermöglichen, ihre eigenen Hemmungen zu erkennen. Mithilfe der Figur des Hemmzwergs können Kinder über die Ursachen ihrer Probleme nachdenken. Zum anderen werden die Kinder aufgefordert, ihre Passivität zu überwinden und Eigeninitiative zu zeigen. Ein persönlicher Mutmacher hilft den Kindern dabei.

Georg Stöckli: Sozial fit – SoFiT! Mutmacher gegen Hemmzwerg. Sozialarbeit an Schulen: Ein Trainingsprogramm für sozial ängstliche Schülerinnen und Schüler. Lehrmittelverlag Zürich, 2016.

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