«Wenn Mami weint, weine ich auch» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wenn Mami weint, weine ich auch»

Lesedauer: 10 Minuten

Zwei Millionen Menschen in der Schweiz leiden an einer chronischen Krankheit. Viele von ihnen haben minderjährige Kinder. So wie Ramona Keller. Sie und ihre Familie erzählen aus ihrem Alltag, von Schmerzen und Verzicht, aber auch von einer grossen Dankbarkeit für jeden gemeinsamen Moment.

Rheuma habe seine Mama. «Und Firomila …» Für den achtjährigen Louis ist es unaussprechlich, dieses Wort. Was es bedeutet, weiss er hingegen genau. «Mami hat Schmerzen. Jeden Tag.» Oft sind sie so stark, dass Ramona Keller morgens nicht aus dem Bett kommt. Dann stehen Louis und seine Schwestern Selina, 11, und Noelle, 9, selbständig auf. Sie ziehen sich an, frühstücken, packen ihre Znüniboxen und gehen zur Schule.

Axiale Spondyloarthritis und sekundäres Fibromyalgiesyndrom: so lautet Ramona Kellers Diagnose. Bei der Spondyloarthritis – auch bekannt als Morbus Bechterew – handelt es sich vereinfacht gesagt um eine chronische Entzündung der Wirbelsäule. Die Entzündung löst Knochenwucherungen aus, die im schlimmsten Fall zur Versteifung der Wirbelsäule führen. Die Schmerzen breiten sich vom Rücken bis zur Brust und zum Nacken aus. Zusätzlich können sich andere Gelenke wie Schultern oder Knie und Sehnen entzünden. Laut Rheumaliga Schweiz leiden in unserem Land gut 70’000 Menschen an diesem Syndrom.

Ramona und Thomas Keller mit den Kindern Noelle, Selina und Louis.
Ramona und Thomas Keller mit den Kindern Noelle, Selina und Louis.
Als Folge des Morbus Bechterew leidet Ramona Keller an Fibromyalgie. Sie selbst nennt die Krankheit ein «Chamäleon». Denn so, wie sie für ihren Sohn nicht auszusprechen ist, ist sie für die meisten Menschen – auch für Ärzte – nicht greifbar. Die chronischen Muskelschmerzen treten immer wieder an anderen Körperstellen auf, haben zahlreiche Nebenwirkungen wie Erschöpfung, Schlafstörungen, Magen-, Darm- oder Herzbeschwerden zur Folge. Über die Häufigkeit existieren keine verlässlichen Zahlen. Schätzungen schwanken laut Rheumaliga zwischen 40’000 und 400’000 Personen in der Schweiz. Es erkranken sieben Mal mehr Frauen als Männer. Die meisten im mittleren Lebensalter.

«Was tue ich meiner Familie mit dieser Krankheit an?»

Ramona Keller war noch nicht einmal 30, als die Schmerzen anfingen. «Mein Hausarzt meinte damals, in dem Alter könne das keine rheumatische Erkrankung sein. Und auch ich ging immer davon aus, dass diese typischerweise ältere Menschen treffen und erblich sind. In meiner Familie hat niemand Rheuma.» Dass diese Annahmen so nicht stimmen, weiss auch Silvia Meier Jauch, Bloggerin und Botschafterin der Rheumaliga Schweiz. Sie erkrankte nach der Geburt ihrer Tochter an Arthritis. «Bei Frauen kommt das wegen des Hormonwechsels in der Schwangerschaft öfter vor», sagt sie. 

«Wie ein Tornado, der durch mein Leben fegte»

 Ramona Keller, dreifache Mutter.

Auch bei Ramona Keller wurden die Schmerzen nach Louis, Geburt heftiger. Die Diagnose folgte vor zwei Jahren, da war sie 35. «Wie ein Tornado, der durch mein Leben fegte», beschreibt Ramona sie, diese Diagnose. Sie kann sich genau erinnern, wie sie dastand, am Rheinufer in der Nähe ihres Wohnortes Oberstammheim, unzählige Fragen im Kopf. «Was jetzt? Wie weiter? Was, wenn ich im Rollstuhl lande?» Und: «Was tue ich meiner Familie mit dieser Krankheit an?»
Ramona Keller ist Kindergartenlehrperson. Seit ihre eigenen Kinder auf der Welt sind, kümmert sie sich um sie und den Haushalt. Ihr Mann Thomas, Medizintechniker, bestreitet den Lebensunterhalt der Familie. Sie sind ein eingespieltes Team, alles funktioniert. Als die Krankheit zuschlägt, weiss Ramona nur eines mit Sicherheit: Es wird nie mehr so sein wie vorher. Denn das wichtigste Merkmal einer chronischen Krankheit ist, dass sie unheilbar ist. Der Verlauf ist unvorhersehbar. Im besten Fall gelingt es, sie mit Medikamenten in Schach zu halten. Bei rheumatischen Erkrankungen ist dies meist eine niedrig dosierte Chemotherapie, mit allen bekannten Nebenwirkungen. In den Beruf zurückkehren, wenn die Kinder grösser sind – unmöglich. Nicht nur, weil Ramona Keller der Schmerzen wegen kaum mehr so viel sitzen könnte. «Ich könnte die Verantwortung für die Kinder nicht übernehmen.»

Wenn Kinder ihre Termine selbst managen müssen

Auch die Verantwortung für die eigenen Kinder abzugeben, muss sie lernen. Zumindest teilweise. Ihr Mann hilft bei den Hausaufgaben und übernimmt mehr und mehr Pflichten im Haushalt, neben seinem 100-Prozent-Pensum. Wenn Ramona wegen der Schmerzen oder der Nebenwirkungen der Medikamente das Bett nicht verlassen kann, übernimmt Louis den Einkauf und Selina und Noelle kochen. 
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Seinen Stunden- und Wochenplan hat jedes Kind selbst im Kopf. Alle wissen, wann sie Schule oder Fussballtraining haben und wie sie dort hinkommen. Auch andere Termine werden selbst gemanagt.

So geht Louis auf dem Heimweg von der Schule beim Coiffeur vorbei, organisiert sich einen Termin, bittet die Mama zu Hause ums Geld und geht zur vereinbarten Zeit hin. Keine grosse Sache. Für die Keller-Kinder ist diese Selbständigkeit mittlerweile so selbstverständlich, dass sie nicht selten den Kopf über ihre Klassenkameraden schütteln. 

«Drei Viertel von ihnen packen sich nicht mal selbst den Znüni ein», sagt Selina. Louis kichert. «Die sind schön blöd. Die meisten haben dann irgendwas Doofes dabei. Ich pack mir von Anfang an das ein, was ich gernhabe!»

Ramona Keller versucht ihren Alltag rund um gewisse Fixpunkte herum zu planen. So passt sie ihre Spritzen beispielsweise dem Fussballtraining ihrer Kinder an.
Ramona Keller versucht ihren Alltag rund um gewisse Fixpunkte herum zu planen. So passt sie ihre Spritzen beispielsweise dem Fussballtraining ihrer Kinder an.
Obwohl ihr Alltag genau durchgeplant ist, wissen Selina, Noelle und Louis am Morgen nie, was sie erwartet. In welcher Verfassung ihr Mami ist, ob und wie viel sie schlafen konnte, ob ihre Schmerzen erträglich sind oder nicht. Oder, wie Selina es ausdrückt: «An einem Tag ist sie easy. Am nächsten explodiert sie wie Popcorn.» Dann, wenn die Krankheit oder die Medikamente oder beides Ramona Keller dünnhäutig machen, sie mit dem Schicksal hadert und lieber jemand anders wäre, zieht sie sich in ihr Zimmer zurück. Oder sie geht Velo fahren, wenn es die Schmerzen zulassen. Die Kinder wissen zwar, dass das nichts mit ihnen zu tun hat. Sie leiden trotzdem. «Ich denke dann manchmal, dass ich zu wenig geholfen habe», sagt Noelle. Und Louis sagt: «Wenn Mami weint, weine ich auch.»

Bitte kein Mitleid!

Auch für Thomas Keller ist eine solche Situation schwierig. «Ich fühle mich total hilflos, wenn Ramona leidet», sagt er. «Aber es bringt ihr ja nichts, wenn ich mitleide.» Mitleid ist das Letzte, was Ramona will. Besonders nicht von ihrem Mann. Dieser wählt den pragmatischen Weg: «Ich lasse alles nicht so an mich ran und helfe einfach, wo ich kann.» Zeit für sich selbst zu haben, mal ein Buch zu lesen, das brauche er momentan nicht. «Das kommt dann vielleicht später wieder, wenn die Kinder gross sind.»

Momentan versucht er, ihnen das zu bieten, was ihre Mutter nicht mehr kann. Zum Beispiel Skiferien. Lange Auto- oder Zugfahren liegt für Ramona nicht drin, zudem ist die Kälte Gift für ihre Gelenke. «Dass ich das allein mit drei Kindern schaffe, macht mich ein bisschen stolz», sagt Thomas. Dass die Familie schöne Zeiten wie Ferien oder Ausflüge ohne die Mama erleben muss, macht hingegen alle traurig. Denn auch Zoobesuche oder Wanderungen sind zu fünft nicht möglich. «Solche Dinge sind für mich unplanbar, da ich nie weiss, ob, wann und wie ich funktioniere», sagt Ramona Keller. Das sei manchmal schon doof, wenn die Freundinnen von den Wochenendplänen im Europapark erzählen, sagt Noelle. «Und ich weiss nicht mal, ob eine kleine Velotour drinliegt.»

«Es ist ernüchternd, wie viele sich von einem abwenden, wenn man nicht mehr funktioniert wie gewohnt.»

Ramona Keller.

Auch viele soziale Kontakte bleiben auf der Strecke: «Es ist ernüchternd, wie viele Menschen sich von einem abwenden, wenn man nicht mehr funktioniert wie gewohnt.» So stemmen die Kellers denn auch ziemlich viel allein. Ab und zu springen Ramonas Schwiegereltern ein. Ihre eigene Mutter ist noch voll berufstätig, der Vater lebt mehrheitlich im Ausland. Ausserdem sei es ihr noch nie leicht gefallen, andere um Hilfe zu bitten. «Das ist ein Gefühl von Versagen. Heutzutage kommen Mütter mit Job, Kindern und Haushalt klar, und ich schaffe nicht mal zwei davon», sagt die dreifache Mutter.

Auch mit der finanziellen Unterstützung ist es so eine Sache. «Ich könnte Teil-IV beantragen, aber das fällt mir schwer. Ich schäme mich.» Oft fehle ihr einfach die Kraft zum Kämpfen. Zum Beispiel um die Übernahme der Kosten für die Physioverordnung, die die Krankenkasse nicht leisten will.

Erkrankte Eltern sind ein Tabu

Auch Silvia Meier Jauch machte ähnliche Erfahrungen. «Gesunde Menschen können kaum nachvollziehen, dass man krank sein kann, ohne krank auszusehen», sagt die Bloggerin. Unter den Vorurteilen gegenüber chronischen Krankheiten leiden auch die Kinder von Ramona Keller. «Wenn jemand sagt, meine Mutter sei gar nicht krank, sie könne ja Velo fahren und Fussball spielen, macht mich das wütend», sagt Selina.

Dass chronische Krankheiten im Allgemeinen und erkrankte Eltern im Besonderen ein Tabu sind, zeigt die Tatsache, dass kaum Studien zu dem Thema existieren. Zwar gibt es Zahlen zu «Young Carers», also Kindern, die in die Pflege ihrer Eltern eingebunden sind. Kinder, die das nicht sind, aber dennoch durch die Krankheit eines Elternteils beeinflusst werden – wie bei den Kellers –, fehlen in den meisten Statistiken. Schätzungen zufolge sind hierzulande zwischen 5 und 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen im Laufe ihrer Entwicklung davon betroffen, dass ein Elternteil schwerwiegend körperlich erkrankt.

«Wir nehmen alle mehr Rücksicht aufeinander und haben gelernt, Prioritäten zu setzen.»

Thomas Keller

Ramona Keller versucht ihren Alltag rund um gewisse Fixpunkte herum zu planen. Zum Beispiel um das Fussballtraining, das sie für Vier- bis Sechsjährige gibt. Diesem Termin passt sie auch die Spritzen an. Ihre Immuntherapie verpasst sie sich selbst – und ist danach stundenlang ausser Gefecht gesetzt. Dann kocht sie das Essen für die Familie vor oder schaut, dass die Kinder von den Schwiegereltern betreut werden, bei denen sie auch einmal pro Woche zu Mittag essen. Zudem kann auch ihr Mann Thomas inzwischen kochen. «Das ist doch wenigstens ein positiver Aspekt», meint er lachend. Es gäbe aber tatsächlich noch mehr, sagt er: «Wir nehmen alle mehr Rücksicht aufeinander, haben mehr Verständnis, wenn es jemandem mal nicht so gut geht. Und wir haben gelernt, Prioritäten zu setzen.»

Ramona, die sich als Perfektionistin beschreibt, stört heute ein dreckiger Fussboden kaum mehr. «Jede Minute, in der es mir gut geht, ist es wert, mit meiner Familie verbracht zu werden. Nicht mit Putzen.» Mit Fussballspielen, Trampolinspringen, Lachen, Leben. Jetzt. Hier. Heute. Darüber, was morgen ist, macht sich Ramona Keller so wenige Gedanken wie möglich. «Ich kanns nicht ändern. Auch wenn ichs manchmal gern würde. Das Leben hat mir gezeigt, dass eh alles anders kommt, als man denkt. Und es hat mich gelehrt, das Beste aus dem zu machen, was eben ist.»


Zur Autorin:

Sandra Casalini ist tief beeindruckt davon, wie Familie Keller ihr Leben meistert – und wie selbständig die Kinder sind. Die Autorin und zweifache Mutter gesteht, dass sie ihren Teenagern noch jeden Morgen die Znünibox packt.
Sandra Casalini ist tief beeindruckt davon, wie Familie Keller ihr Leben meistert – und wie selbständig die Kinder sind. Die Autorin und zweifache Mutter gesteht, dass sie ihren Teenagern noch jeden Morgen die Znünibox packt.


Wann zahlen die Sozialdienste und Krankenkassen?

Die Regelungen sind äusserst komplex und variieren je nach Krankenkasse und Wohnort. Grundsätzlich ist die IV verpflichtet, die Kosten der Behandlung von Geburtsgebrechen bis zum 20. Altersjahr zu übernehmen. Danach wird sie von der Krankenkasse abgelöst.

Das gilt auch für ärztlich angestelltes Personal wie Physio- oder Psychotherapeuten. Die Krankenkassen sind verpflichtet, einen Beitrag an die Kosten für die Pflege zu Hause zu entrichten, nicht aber an eine Haushaltshilfe. Dies kann gegebenenfalls der Kanton übernehmen oder unter Umständen die Hilflosenentschädigung der IV oder AHV.

Hilfe im Sozialversicherungsdschungel für chronisch erkrankte Menschen bietet der Leitfaden «chronisch krank – was leisten die Sozialversicherungen». Der Ratgeber kann auf den Webseiten der Rheuma-, Krebs-, und Lungenliga sowie von diabetesschweiz und der Schweizerischen Herzstiftung als PDF heruntergeladen werden.


Hier finden Betroffene und Angehörige Hilfe


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«Jeder zweite Betroffene hat eine depressive Phase»

Silvia Meier Jauch, Botschafterin der Rheumaliga Schweiz, über rheumatische Krankheiten und ihre sozialen Folgen.

Frau Meier, der achtjährige Louis in unserer Reportage sagt: «Wenn Mami weint, weine ich auch.» Kennen Sie diese Situation als betroffene Mutter? 

Absolut. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich vor Schmerzen schrie und meine Tochter nur noch weinte. Das Schlimmste für Kinder ist, wenn sie merken, dass ihre Eltern den Boden unter den Füssen verlieren. Das macht Angst. 

Wie erklären Sie Ihrer Tochter, warum Sie Schmerzen haben?

Ich versuche, Schlagwörter wie Rheuma oder Arthritis zu vermeiden. Ich sage ihr, dass jeder Körper Stärken hat. Aber auch Schwachstellen. So brauchen manche Menschen beispielsweise eine Brille. Bei anderen liegen die Schwachstellen bei den Gelenken, die dann schmerzen.
Zur Person: Silvia Meier Jauch leidet an Psoriasis-Arthritis, auch bekannt als Schuppenflechtenarthritis. Sie ist Botschafterin der Rheumaliga Schweiz, Gemeinderätin in Schlieren ZH und Gründerin der Selbsthilfegruppe Miah für Menschen mit Autoimmunkrankheiten und Handicap. Silvia Meier Jauch ist Mutter einer siebenjährigen Tochter.
Zur Person:
Silvia Meier Jauch leidet an Psoriasis-Arthritis, auch bekannt als Schuppenflechtenarthritis. Sie ist Botschafterin der Rheumaliga Schweiz, Gemeinderätin in Schlieren ZH und Gründerin der Selbsthilfegruppe Miah für Menschen mit Autoimmunkrankheiten und Handicap. Silvia Meier Jauch ist Mutter einer siebenjährigen Tochter.

Wie unterscheidet sich das Leben eines Elternteils mit chronischer Krankheit von dem Leben gesunder Eltern?

Eine Mutter oder ein Vater mit chronischer Krankheit muss immer damit rechnen, im Alltag zeitweise plötzlich nicht mehr zu «funktionieren». Dann ist man auf Hilfe angewiesen, was einen in eine Bittsteller-Position bringt. Aber das Schlimmste, das man als Mutter oder Vater mit einer chronischen Krankheit machen kann, ist, alles selbst bewältigen zu wollen. Man braucht unbedingt eine Liste mit Namen von Freunden und Verwandten, die einspringen können.

Wie lang sollte diese Liste sein?

Bei den allermeisten Betroffenen ist sie leider nicht besonders lang. Wer chronisch erkrankt, muss sich meist ein neues Umfeld aufbauen.

Warum?

Stellen Sie sich vor, Sie sind frisch verliebt, möchten mit dem oder der Auserwählten fein essen gehen, ein Glas Wein trinken, Sex haben. Aber in 80 Prozent der Zeit hören Sie vom Gegenüber nur: «Sorry, das geht grad nicht. Ich mag nicht essen, mir ist schlecht. Wein darf ich nicht trinken wegen der Medikamente. Und Sex? Mir tut alles weh!» Das ist sehr ernüchternd. Es bleibt einfach nicht mehr viel übrig von dem Menschen, den man gekannt und geliebt hat.

Hat Ihre Ehe die chronische Krankheit «überlebt»?

Nein. Mein Mann und ich sind gerade in der Scheidung. Er hat eine andere Frau geheiratet als die, die ich heute bin.

Wie erhält man eine Beziehung, in der einer chronisch erkrankt?

Die Grundvoraussetzung ist eine grosse Empathie auf beiden Seiten. Und man muss aufpassen, dass man nicht in eine Patienten-Betreuer-Situation rutscht. Am einen oder am anderen scheitern die meisten.

Dazu kommt, dass jeder ständig ein schlechtes Gewissen hat.

Das stimmt. Als Betroffener muss man sich ein Selbstbewusstsein aufbauen. Man soll stolz sein auf das, was man mit und trotz Handicap leistet.

Soll der gesunde Elternteil versuchen, den kranken zu kompensieren?

Nein. Jeder soll seine Kompetenzen einbringen – auch wenn das nicht mehr so viele sind wie früher.

Wie macht man das?

Mir ist zum Beispiel bewusst, dass ich meiner Tochter nicht viele Unternehmungen beziehungsweise Ausflüge bieten kann. Ein ganzer Tag im Zoo ist für mich unmöglich. Dafür sitzen wir an der Limmat und ich zeige ihr, wie man schnitzt. Das hat für sie den gleichen Wert und mich belastet es weniger.

Chronische Krankheiten haben oft psychische Folgen.

Sehr oft. Die meisten Betroffenen rutschen in eine schwere emotionale Krise. Ich würde sagen, jeder zweite hat irgendwann eine depressive Phase. Meine dauerte etwa ein Jahr. Meine Welt wurde plötzlich sehr klein, bestand zeitweise nur noch aus einem Badezimmer. Wer das ohne Depressionen übersteht, ist zu bewundern. 

Wie kann man dem entgegenwirken oder vorbeugen?

So früh wie möglich psychologische Hilfe in Anspruch nehmen. Auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe kann helfen. Man muss sich von Anfang an darüber im Klaren sein, dass sich das Leben verändern wird und man sich vieles, wie zum Beispiel die Sozialkontakte, neu aufbauen muss. 

Warum sind chronische Krankheiten so ein grosses Tabu?

Weil sie anstrengend sind. Weil eine solche Diagnose bedeutet, dass man kaum mehr unbeschwerte Zeit mit seiner Familie, seinem Partner, seinen Freunden verbringt. Und weil es sehr schwierig ist, das zu verstehen.

Können Sie Ihrer Krankheit auch etwas Positives abgewinnen?

Auf jeden Fall. Ich habe tolle Menschen kennengelernt. In den Zeiten, in denen es mir gut geht, geniesse ich mein Leben noch mehr als früher. Wenn es einem oft schlecht geht, macht das die guten Momente umso wertvoller!