«Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig»

Lesedauer: 10 Minuten

Lea* ist 14, als sie anfängt, ihr Gewicht zu kontrollieren. Mit 15 kann sie kaum noch essen, mit 16 fürchten die Eltern ihren Tod. Ihre Mutter erzählt von Leas Weg in die Magersucht, ihrem Kampf gegen die Krankheit und davon, was ihr letztlich in ein glückliches Leben zurückgeholfen hat.

Aufgezeichnet von: Evelin Hartmann
Bilder: Daniel Auf der Mauer / 13 Photo

Das Wichtigste zum Thema

Leas Mutter findet unter dem Bett ihrer Tochter Listen mit Kalorienangaben von verschiedenen Lebensmitteln. Doch das ist nur ein Anzeichen für die kommende Essstörung ihrer Tochter. «Die Portionen wurden immer kleiner, die Mahlzeiten zur Qual», so die Mutter. Der Weg zum Hungern als Sucht ist ein schleichender Prozess. 

Die Mutter beschreibt mit bedrückenden Worten, wie die ganze Familie versucht, Lea aus ihrer Magersucht zu befreien. Auch die Lehrerin und Klassenkameraden machen sich Sorgen, versuchen Lea zum Essen zu animieren. Doch die Krankheit wird immer schlimmer und die Mutter fürchtet, dass ihr Kind vor ihren Augen stirbt. Schliesslich wird Lea stationär in einer Klinik aufgenommen.

Im vollständigen Text erzählt Leas Mutter, wie sie mit der Magersucht ihrer Tochter umgegangen ist, wie Lea schlussendlich wieder Lebensmut gefasst hat und was sie anderen Eltern als Tipp mitgeben möchte. 

Es ist Herbst 2009. Unsere Tochter Lea ist 14 Jahre alt. Wie andere Mädchen in diesem Alter hat sie in den letzten Monaten etwas zugenommen. Ihr Körper hat weibliche Formen und Rundungen bekommen, dick ist sie aber keineswegs. 

«Mama, ich möchte ein bisschen aufs Essen schauen», sagt sie. In der Biologie wird gerade die «Ernährungslehre» durchgenommen. Wir Eltern finden das gut – bewusst essen schadet nicht. Zuerst lässt Lea die Schokolade weg. Dann fängt sie an, Dinkelbrötchen für die Pause zu backen. Ganze Listen von Kalorientabellen finde ich später in ihrem Bett unter der Matratze.

Lea hat Liebeskummer. Sie möchte aber nicht darüber sprechen. Schliesslich ist es normal, dass sich ein Kind in diesem Alter langsam von den Eltern zurückzieht, sich ins Zimmer verzieht, weg vom Familientisch. Eine enge Freundin hat Lea nicht mehr. Nach dem Übertritt in die Bezirksschule ist für sie vieles nicht mehr so wie in der Primarschule. Dort hatte sie zwei Freundinnen, die auch in der Nachbarschaft wohnten. Alles war überschaubar, nicht so in der Bezirksschule mit über 700 Schülern.

WINTER 2009/2010

Lea ist immer strenger zu sich, zum Nachtessen gönnt sie sich nur noch Joghurt mit Früchten oder Suppe. «Lea, deine Portionen werden immer kleiner! Du musst essen, schliesslich bist du noch im Wachstum und brauchst eine Menge Energie.» Unsere Ermahnungen schlägt sie in den Wind. Sie esse ja! Ich koche viel Fisch, Reis, Gemüse. Das hat Lea gerne. So isst sie wenigstens etwas. «Es ist nur eine Phase, es geht vorbei», sage ich mir. Dass ich mich so zur Komplizin meiner Tochter mache, sie in ihrem Wahn unterstütze, verdränge ich. Dass sie krank ist, dass das Hungern zur Sucht geworden ist, ist mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewusst. Der Weg in die Essstörung ist ein schleichender Prozess.

FRÜHLING 2010

Nun ist es offensichtlich: Lea hat abgenommen, sieht aber noch immer gut aus, schön schlank! Sie bekommt Komplimente. Vermehrt haben wir Streit am Esstisch. Die Sauce wird auf den Tellerrand geschoben, die Portionen werden stetig kleiner, unser Familienleben wird immer mehr von den unschönen Auseinandersetzungen rund ums Essen belastet.

Die Portionen werden immer kleiner, die Mahlzeiten zur Qual.

Die gemeinsamen Mahlzeiten werden zur Qual. Auch unsere zwei Jahre jüngere Tochter Kathrin leidet. Lea bleibt stur. Sie isst kiloweise Äpfel, lernt verbissen in ihrem Zimmer und schottet sich immer mehr von ihrem sozialen Umfeld ab. Ihre Noten sind besser denn je und «rechtfertigen» ihr Verhalten.

SOMMER 2010

Am Sporttag bricht Lea zusammen. Zu Hause erzählt sie nichts davon. Ihre Lehrerin ruft mich an, macht mich auf die Abmagerung unserer Tochter aufmerksam. Wie ich erst später erfahre, machen sich auch ihre Klassenkameraden Sorgen, versuchen mit Lea zu sprechen, auf sie einzuwirken. 

Kurz vor den Sommerferien nehmen wir mit dem Schulsozialarbeiter Kontakt auf. «Ich will mir Mühe geben», verspricht sie uns und packt zu meiner Beruhigung ein extragrosses Pausenbrot ein – essen tut sie es nicht.

In den Sommerferien fährt sie zwei Wochen ins Blauringlager. Dort eskaliert die Situation. Lea isst nichts mehr, nimmt in dieser Zeit vier Kilo ab. Als ich auf der Lager-Homepage meine Tochter abgebildet sehe – abgemagert, mit ihren dünnen Armen und Beinen –, komme ich endlich zur Einsicht: Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig. Nach ihrer Rückkehr vereinbare ich einen Termin bei der Gynäkologin. Die Ärztin spricht Klartext mit Lea. Sie weist sie auf die schweren Folgen einer Magersucht hin und warnt sie, dass sie sich die Zukunft verbaue, falls sie ihr Essverhalten nicht ändere. Es sieht so aus, als ob Lea verstanden hat. Wir sind erleichtert. Um unsere Tochter nicht nur körperlich, sondern auch psychologisch zu betreuen, erhalten wir beim Kinder- und Jugendpsychologischen Dienst (KJPD) einen Termin für ein Gespräch mit einer Psychologin. Auch das entlastet uns.

«Als Mutter fühlte ich mich hilflos, auch schuldig, dass sich meine Tochter fast zu Tode hungerte», sagt Leas Mutter im Rückblick auf den Leidensweg ihrer Tochter. 
«Als Mutter fühlte ich mich hilflos, auch schuldig, dass sich meine Tochter fast zu Tode hungerte», sagt Leas Mutter im Rückblick auf den Leidensweg ihrer Tochter. 

Aber es dauert Wochen, bis das Gespräch stattfindet. In der Zwischenzeit wollen wir nach Griechenland fahren, Familienferien machen. «Geniesst die Zeit und versucht, das Thema Essen beiseite zulassen», rät uns die Ärztin. Es wird der absolute Horror. Jeden Tag wird die Gestalt von Lea schmaler, ihr Gesicht ausdrucksloser. Ihr Anblick im Bikini versetzt uns einen Stich ins Herz. Am liebsten isst sie Gurken-Tomaten-Salat ohne Öl und Essig. Das Essen nicht zum Thema zu machen, ist fast unmöglich. Immer wieder gibt es Streit – die ganze Familie ist hilflos. Mitte August beginnt Leas letztes Schuljahr. Es geht ihr immer schlechter. Zusehends wird sie schwächer. Ihre Hände fühlen sich kalt an, die Haare fallen büschelweise aus. Ich bin verzweifelt, koche hysterisch für meine Älteste, habe fünf Kochtöpfe gleichzeitig auf dem Herd stehen. Irgendwas muss sie doch essen! Manchmal zwingt Lea sich dazu.

HERBST 2010

Endlich haben wir einen Termin bei der Psychologin. Lea muss auf die Waage. Sie wiegt knapp 38 Kilo, hat einen BMI von unter 17. Die Psychologin thematisiert einen Klinikeintritt. Natürlich möchte Lea nicht weg von zu Hause. Aber ich als Mutter kann die Verantwortung nicht mehr übernehmen. Ich habe Angst, dass mein Kind vor meinen Augen stirbt. Die Situation zu Hause ist auch für Kathrin zur Qual geworden. Alles dreht sich nur noch ums Essen und schlussendlich um die grosse Schwester. Dies belastet das Verhältnis der Mädchen sehr.

Die Psychologin stellt uns eine Spital-Wohngruppe für junge Frauen mit Essstörungen vor. Doch wenige Tage später wird Lea notfallmässig in dieses Spital eingeliefert. Ihr körperlicher Zustand hat sich noch einmal dramatisch verschlechtert. Sie möchte essen, kann aber nicht mehr. Sie wiegt 36 Kilo, wird schwächer und schwächer. Unsere Tochter wird mit Geräten überwacht. Es folgen Gespräche mit Psychologen und einem erfahrenen Arzt. Endlich können wir mit einem Profi sprechen, der uns versteht. Er erklärt uns, dass es sich bei Anorexie (Magersucht) um eine sehr ernst zu nehmende Krankheit handle. Rund ein Drittel der Betroffenen sterbe daran, ein Drittel lebe mit der Essstörung und nur ein Drittel werde geheilt.

Lea unterschreibt einen Vertrag, in welchem sie sich bereit erklärt, eine vorgeschriebene wöchentliche Gewichtszunahme anzustreben. Der abrupte Eintritt in die Klinik ist für uns als Familie sehr einschneidend. Ohne Vorbereitungszeit müssen wir unsere Tochter von heute auf morgen loslassen, Kathrin hat ebenfalls plötzlich ihre Schwester «verloren». Trotzdem sind wir froh, dass die Verantwortung nicht mehr in erster Linie bei uns liegt. Uns ist bewusst, dass wir unserer Tochter zu nahe stehen – ohne professionelle Hilfe geht es nicht mehr. Zu Hause kehrt etwas Ruhe ein. Endlich kann ich kochen, was ich will, und es gibt keine Diskussionen mehr.

Endlich komme ich zur Einsicht: Unsere Tochter ist krank. Magersüchtig.

Lea kann in die Wohngruppe ziehen. «Lea, du musst essen, eine Magensonde ist sehr schlimm, ich weiss, wovon ich spreche», motiviert sie eine Bewohnerin gleich beim Eintritt. Der Kontakt zu den Schulkolleginnen bricht ab. Alle sind mit der Situation überfordert. Anstatt Schule hat Lea nun Psychotherapie und Gespräche innerhalb der Gruppe. Dazu kommen Physiotherapie und Werken. Auch wir Eltern und ihre Schwester nehmen regelmässig an einer Familientherapie teil. Lea versteht sich gut mit ihrer Betreuerin. Sie basteln viel zusammen. So kann Lea ihre kreative Seite ausleben, was ihr viel bedeutet! Mit dem Gewicht geht es langsam bergauf. Wir besuchen sie unter der Woche, und am Wochenende darf sie nach Hause kommen – vollbepackt mit Menüplan, Rezepten und Kalorienaufstellungen.

WINTER 2010/11

Lea will nicht mehr zunehmen. Ihre Betreuerin hat gekündigt und auch eine liebgewonnene Freundin wird aus der Klinik entlassen. Lea möchte ebenfalls nach Hause und weg vom Klinikalltag. Man einigt sich darauf, dass sie sich wöchentlich zum Wiegen und zur Untersuchung bei ihrer Frauenärztin meldet. 

Gleichzeitig geht sie in die Klinik zur Gesprächstherapie und fängt wieder mit der Schule an, eine Klasse tiefer, zu viel Stoff hat sie verpasst. Die Verantwortung rund ums Essen liegt nun wieder bei mir. Die Szenen am Tisch sind ähnlich wie vor Leas Klinikeintritt. Wieder kommen Gefühle der Ohnmacht, Wut, ja sogar Hass in mir hoch. «Sie müsste nur essen, dann wäre das Problem gelöst!» Davon bin ich überzeugt.

Lea geht wöchentlich zum Wiegen. Sie trinkt vor dem Arztbesuch bis zu 4 Liter Wasser und zieht trotz wärmeren Temperaturen viele Kleider an, um ihren Gewichtsverlust wettzumachen. Wir Eltern und die Ärztin stellen Lea zur Rede. Sie verspricht und lügt uns im selben Satz an. Es gibt Momente, da kennen wir unsere Tochter nicht mehr. Nein, sie ist nicht mehr unsere Tochter – dieses Mädchen tickt so komplett anders, hat nicht mehr das sanfte Wesen, die geerdete Art.

Lea ritzt sich, um sich zu spüren, wie sie sagt. Ihr Gesicht hat wieder diesen leeren Ausdruck. Nach vier Wochen zu Hause wiegt Lea knapp 30 Kilo. Ein zweites Mal muss sie notfallmässig ins Spital eingeliefert werden. Lea ist moralisch und körperlich total am Ende. Sie hält sich nicht an die Vereinbarungen ihrer Wohngruppe, fliegt aus dem Therapieprogramm. Für uns Eltern ist dieser Rauswurf dramatisch. Wohin nun mit unserer Tochter? 

Glücklicherweise darf Lea noch im Spital bleiben, bis wir für sie einen geeigneten Platz gefunden haben. Nach zahlreichen Besprechungen mit Ärzten und Fachleuten finden wir für unsere Tochter einen Therapieplatz in einer psychiatrischen Klinik, etwa eine halbe Stunde von zu Hause entfernt. Einmal mehr heisst es Abschied nehmen. Zeitweise ist sie in der geschlossenen Abteilung.

WINTER 2011/12

Auch hier hält sie sich nicht an die Abmachungen. Ihr Gewicht stagniert. Einmal entdecke ich in ihrem Schrank einen BH, gefüllt mit rund einem Kilo Schrauben und Muttern. Ihr Trick, um aus der geschlossenen Abteilung zu kommen. 

Deshalb muss sie nach einem halben Jahr die Klinik verlassen. «Die Magersucht ist nach wie vor voll präsent», sagt mir die Psychiaterin am Telefon. Ab Januar 2012 wohnt sie wieder bei uns und geht in die Schule. Erneut muss sie die Klasse wechseln, wird dort aber gut aufgenommen. Sie beginnt mit einer ambulanten Therapie im Kompetenzzentrum für Essstörungen (KEA) in Zofingen.

Wir mussten Lea loslassen. Wir haben ihr gesagt, dass es nun an ihr liege, ob sie leben wolle oder nicht.

Dann, beim Skifahren, zieht sie sich einen Oberschenkelhalsbruch zu. Lea hat Angst, dass sie langsam «zerbricht», lässt ihre Knochendichte messen – der Punkt, an dem auch mein Mann und ich uns Hilfe suchen müssen, sonst wären wir ebenfalls krank geworden. Der Therapeut, ein Mediator, bittet uns, unsere Tochter «loszulassen». Für mich als Mutter ist dies wie ein Befreiungsschlag. Wir versprechen ihm, Lea nicht mehr «in den Teller zu schauen», sie essen zu lassen, was sie will, oder eben zuzulassen, dass sie nichts isst – dies alles ohne Kommentar.

Wir sagen Lea, dass es nun an ihr liege, ob sie leben wolle oder nicht. Dass wir mit unseren Kräften am Ende seien und kaputt gehen würden, wenn wir uns nicht abgrenzten von ihr. Es ist knallhart, das alles umzusetzen. Es ist ein langer Weg. Heute weiss ich, dass es diesen Leidensweg brauchte. Wir Eltern mussten an unsere Grenzen kommen, sonst hätten wir Lea nicht loslassen können.

Die grösste Stütze war ihr Mann, sagt Leas Mutter: «Hand in Hand sind wir diesen Weg gegangen und haben uns gegenseitig unterstützt.»
Die grösste Stütze war ihr Mann, sagt Leas Mutter: «Hand in Hand sind wir diesen Weg gegangen und haben uns gegenseitig unterstützt.»

WINTER 2012/13

Lea verliebt sich. Er heisst Matteo. Diese Liebe «therapiert» unsere Tochter innert Kürze. Wir können es kaum fassen. Matteo kocht und isst sehr gerne. Meistens wohnt sie nun bei ihrem Freund und seiner Familie. Langsam normalisiert sich Leas Essverhalten. Ein halbes Jahr später beginnt sie eine Lehre als Fachangestellte Gesundheit, in einer Wohngruppe mit leicht bis mitteldementen Bewohnern. Sie muss dort auch kochen und essen. Die Arbeit bereitet ihr grosse Freude – sie wird gebraucht und gleichzeitig geschätzt.

Winter 2015/16

Noch immer geht sie regelmässig zur Therapie im Kompetenzzentrum für Essstörungen. Doch heute dürfen wir sagen, dass Leas Essverhalten wieder normal ist. Das grenzt für mich an ein Wunder! Es gab eine Zeit, da haben wir nicht mehr daran geglaubt, dass sich Lea von ihrer Anorexie befreien kann – wir haben zeitweise mit ihrem Tod gerechnet. Das war für uns Eltern und ihre Schwester die reinste Hölle, all die Diskussionen, die Streitigkeiten rund ums Essen, um Kilos und Kalorien, all die Beschuldigungen, die Lügen.

Rückblickend habe ich das Gefühl, dass viele verschiedene Faktoren zu Leas Magersucht geführt haben. Sie fühlte sich in ihrer Klasse nicht integriert. Sie hatte keine richtige Freundin. Sie «hungerte» regelrecht nach Aufmerksamkeit, wollte doch auch zu den Schönen und Schlanken gehören, bei den Jungs gut ankommen. Ihr fehlte es vor allem in der Oberstufe an einem gesunden und guten Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen. Die Angst vor der Zukunft machte sich breit, all die Fragen rund um die Berufswahl. Sie verglich sich auch ständig mit ihrer Schwester, die nach aussen alles viel lockerer nimmt und nicht so introvertiert ist wie Lea.

Es gab eine Zeit, in der ich mich als Mutter schuldig fühlte und mir Vorwürfe machte, dass es zu dieser schlimmen Krankheit kam und sich meine Tochter sozusagen fast zu Tode hungerte. Insbesondere fühlte ich mich schuldig, weil es seine Zeit dauerte, bis ich es wahrhaben wollte, dass meine Tochter magersüchtig ist. Fachpersonen sind sich einig und Studien belegen: Je früher man eine Magersucht behandelt, desto grösser sind die Heilungschancen. Rückblickend ist es einfacher, gewisse Feststellungen zu machen: Heute würde ich früher mit meiner Tochter den Arzt aufsuchen und die Essstörung thematisieren. Ich würde mir auch früher Hilfe bei einer Fachstelle holen.

Als Mutter fühlte ich mich hilflos, auch schuldig, dass sich meine Tochter fast zu Tode hungerte.

Dass Lea es letztendlich geschafft hat, liegt auch an mehreren Faktoren: Der Oberschenkelhalsbruch löste in ihr eine riesengrosse Angst aus, dass sie nun auch innerlich «zerbricht». In all den Therapien wurde Osteoporose thematisiert – immer vergebens. Bei diesem Unfall hat sie es am eigenen Leibe erfahren. Sie hat die Kontrolle über ihren Körper verloren. Ein wesentlicher Faktor, welcher zur Genesung unserer Tochter führte, war sicher auch die Liebe zu ihrem Freund. Er akzeptierte und liebte Lea so, wie sie ist. Auch die Belastung bezüglich Berufswahl konnte mit der erhaltenen Lehrstelle geklärt werden. Endlich hat Lea wieder ein Ziel vor Augen.

Wer mir in dieser schweren Zeit die grösste Stütze war? Mein Mann. Hand in Hand sind wir diesen Weg gegangen und haben uns gegenseitig unterstützt. Wenn es mir schlecht ging, hat er mich wieder aufgebaut. Wir durften auch auf liebe Menschen im Familien- und Freundeskreis zählen, die uns mit guten Gesprächen und viel Einfühlungsvermögen begleiteten, die ein offenes Ohr hatten und einfach da waren. Geblieben ist mir nach dieser Zeit eine grosse Dankbarkeit, dass Lea in ein normales Leben zurückgefunden hat und mit Freude den Alltag meistern kann.

* Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.

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Evelin Hartmann
ist stellvertretende Chefredaktorin von Fritz+Fränzi. Sie wohnt mit ihrem Mann und den zwei Töchtern in Luzern.

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