Muttermal, Narbe, Verbrennung: Ich bin anders - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Muttermal, Narbe, Verbrennung: Ich bin anders

Lesedauer: 8 Minuten

Muttermale, Narben, Verbrennungen – eines von 500 Kindern in der Schweiz hat eine Hautauffälligkeit, unter der es leidet. Dabei können Eltern betroffenen Buben und Mädchen helfen, mit diesem Anderssein gelassener umzugehen. 

Thomas berührt sein Gesicht. «Mein Brownie gehört zu mir», sagt der 14-Jährige und lächelt. «Brownie» ist ein Kosename für das faustgrosse Muttermal, das einen Teil seiner ­linken Wange und seiner Schläfe bedeckt. Thomas ist mit diesem Nävus, lateinisch für Muttermal, auf die Welt gekommen. Was würde er machen, wenn Brownie plötzlich weg wäre? «Da wäre ein Teil von mir selbst weg – das will ich nicht», sagt er entschlossen. 
 
Hautauffälligkeiten können verschiedene Ursachen haben. Sie können angeboren, aber auch durch Krankheiten und Unfälle bedingt sein. Schätzungen zufolge hat hierzulande eines von 500 Kindern eine Hautauffälligkeit, die seine Lebensqualität beeinflusst. Denn nicht jeder Heranwachsende geht mit seiner Hautläsion so gelassen um wie Thomas. 

Grosse Muttermale, Feuermale, Narben oder Verbrennungen ziehen die Aufmerksamkeit der Mitmenschen auf sich. Für betroffene Kinder und Jugendliche kann das unangenehm werden. Fremde jeden Alters starren, stellen Fragen, wollen anfassen, ekeln sich. Eltern können das nicht ändern. Aber sie können ihren Nachwuchs gezielt unterstützen, damit er souverän und gelassen mit seiner Hautläsion umgeht. 

Till, 10, hatte einen Nävus auf der linken Gesichtshälfte, den die Eltern entfernen liessen, als er 1 war. 
Till, 10, hatte einen Nävus auf der linken Gesichtshälfte, den die Eltern entfernen liessen, als er 1 war. 

Schon im Kindergarten wird verglichen

Zunächst sollten Eltern wissen, wie es ihrem Kind überhaupt geht: Wie beeinflusst die Hautläsion seine Gefühls- und Gedankenwelt? Auf die Jüngsten nimmt die Auffälligkeit kaum Einfluss. «Kleinkinder verstehen sie noch nicht recht», sagt Ornella Masnari, Psychotherapeutin am Universitäts-Kinderspital Zürich und Projektleiterin der Schweizer Initiative «Hautstigma».

Das ändert sich im Kindergarten und frühen Schulalter, denn hier beginnen die ersten Vergleiche. «In dieser Alters­phase registrieren die Kinder, dass ihre Hautläsionen sie von ihren Altersgenossen unterscheiden», so Masnari. 

Dieses erste Wahrnehmen der Hautauffälligkeit ist häufig noch frei von Bewertungen, was sich im Jugendalter massiv ändert. In dieser Phase bildet sich die Identität der Heranwachsenden heraus. Das geschieht auch anhand des eigenen Aussehens. «Was den Teenager mit Hautläsionen verwundbar macht. Er kann sich aufgrund der dermatologischen Besonderheit unwohl in seiner Haut fühlen», erklärt Masnari.

Entscheidender als das individuelle Alter ist allerdings die Frage, ob das Kind mit der Hautläsion geboren wurde. Kinder wie Thomas, die die Auffälligkeit seit ihrer Geburt haben, empfinden sie tendenziell stärker als einen Teil ihrer eigenen Identität – und akzeptieren sie deshalb vergleichsweise leichter. «Generell schwieriger scheint es für Jugendliche zu sein, deren Hautläsionen durch konkrete, womöglich sehr plötzliche und traumatische Ereignisse wie Unfälle und Brände herbeigeführt wurden», sagt die Psychotherapeutin.

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Betroffene werden angestarrt 

Die Auffälligkeit kann für ein Kind ebenfalls dann zur Belastung werden, wenn sein Umfeld negativ auf sie reagiert – und das scheint hierzulande häufig der Fall zu sein. Ornella Masnari hat sowohl Kinder als auch Jugendliche mit Hautläsionen im Gesicht interviewt. Die Mehrheit von ihnen berichtete, von ihren Mitmenschen angestarrt zu werden.

«Über 80 Prozent gaben an, Mitleid von anderen zu erfahren, 40 Prozent, dass sie mit Worten beleidigt, und rund ein Viertel, dass sie aufgrund ihrer Hautauffälligkeit ausgelacht werden», so die Psychologin, die in einer weiteren Studie auch 8- bis 17-Jährige ohne Hautauffälligkeiten befragt hat. «Diese Schüler schätzten Altersgenossen mit Hautläsionen als weniger sympathisch, intelligent und beliebt ein», so die Forscherin. Ihre Studie zeigt: Die Befragten würden ihnen eher aus dem Weg gehen.

Eltern sollten aufhorchen, wenn das Kind etwas meidet

Generell seien Menschen mit Hautläsionen benachteiligt, sei es bei der Arbeitssuche oder der Partnerwahl. Allerdings beziehen sich die Vorurteile auf den ersten Eindruck – und können verschwinden, wenn eine Person mit Hautläsion kompetent auftritt oder sympathisch wirkt. Denn im alltäglichen Miteinander kommen mehr Eigenschaften zum Tragen als das Muttermal oder die Narbe. 

Doch dürfen Eltern den sozialen Druck, der auf ihrem Nachwuchs lastet, nicht unterschätzen – und sollten wachsam sein, ob ihr Kind unter der Hautauffälligkeit leidet. Etwa bei grossen Veränderungen wie einem Schulwechsel oder Umzug. «Wenn das Kind zu meiden beginnt, was es im Grunde mag – etwa den Schwimmunterricht –, dann sollten Eltern aufhorchen», empfiehlt Ornella Masnari. 

Der 8-jährige Gian lebt mit einer durch Genmutation verursachten Hautauffälligkeit, die als glomuvenöse Malformation bezeichnet wird.
Der 8-jährige Gian lebt mit einer durch Genmutation verursachten Hautauffälligkeit, die als glomuvenöse Malformation bezeichnet wird.
Lässt das Kind neben seinen Lieblingsaktivitäten auch seine Freunde aussen vor, trifft es sich immer weniger mit Altersgenossen, ist es lieber über längere Zeit allein, sollten Eltern ihr Kind darauf ansprechen und feststellen, inwiefern die Hautläsion eine Ursache des Problems ist. 

Fachleute können sie dabei unterstützen: «Wir laden Familien dazu ein, für ein oder zwei Stunden Beratung vorbeizukommen – das kann für alle Familienmitglieder hilfreich sein», sagt Masnari. Gleichzeitig betont die Psychotherapeutin: «Die meisten Kinder mit Hautläsionen brauchen keine langfristige psychologische Unterstützung.»

Eltern haben auch andere Möglichkeiten, ihren Nachwuchs zu stärken. Zunächst sollten sie seine Hautläsion grundsätzlich nicht tabuisieren. Stattdessen können sie die Auffälligkeit offen, positiv und optimistisch ansprechen. Dieser Ansatz stärkt den Selbstwert und die Widerstandskraft des Kindes, denn es zeigt ihm: Meine Eltern nehmen und lieben mich, wie ich bin – an mir ist nichts falsch, nichts verkehrt.

«Das Aussehen ist doch unwichtig.» Solche Kommentare sind gut gemeint. Sie helfen aber nicht.

«Das Aussehen ist doch unwichtig.» Solche Kommentare sind gut gemeint – aber nicht ausreichend. Denn im Alltag ist der Heranwachsende auch von Fremden umgeben, die sich nur an seinem Aussehen orientieren und neugierige Fragen stellen. «Hier können Eltern gezielt helfen, indem sie sich mit dem Sohn beziehungsweise der Tochter überlegen, wie er oder sie auf die Fragen reagieren könnte», sagt Masnari. 

Sie rät zu einer Drei-Punkte-Strategie: Zunächst kann der Teenager der fremden Person die Hautläsion kurz erklären. Dann gilt es den Fremden zu beruhigen, etwa: «Das Muttermal ist nicht ansteckend» oder «Es tut nicht weh». Und schliesslich empfiehlt Masnari, einfach das Thema zu wechseln.

Eltern können diese drei Reaktionen mit ihrem Nachwuchs proben. Das Rollenspiel mag sich zunächst merkwürdig für die Familie anfühlen. Aber schlussendlich stärkt es die soziale Kompetenz des Kindes im Umgang mit neugierigen wie taktlosen Mitmenschen. 

Den Selbstwert des Kindes langfristig stärken

Hat der Heranwachsende in seinem Alltag eine solche unangenehme Situation positiv gemeistert, sollten die Eltern ihn dafür loben. Langfristig können sie diese kleinen Erfolge im Gespräch mit dem Kind als positive Beispiele dafür nutzen, wie stark und selbstbewusst es ist. Auch dieses Vorgehen fördert langfristig den Selbstwert der Tochter beziehungsweise des Sohnes. 

Darüber hinaus können Eltern das Umfeld ihres Kindes aufklären. «Mütter und Väter sollten beispielsweise mit den Lehrern reden oder ihnen schriftliche Informationen geben – auch darüber, welche Strategien sie benutzen sollten, wenn andere Schüler oder deren Eltern Fragen stellen oder negativ reagieren», rät Ornella Masnari. Sie können beispielsweise erklären, dass es nur ein Muttermal ist und keine Einschränkungen nach sich zieht.

Was die Eltern wiederum gar nicht tun sollten? Der Hautläsion ihres Kindes zu viel Aufmerksamkeit schenken. Für viele Mütter und Väter ist gerade das schwierig. Sie hadern womöglich mit Schuldgefühlen, weil ihr Kind ein Leben lang mit der Auffälligkeit zurechtkommen müssen wird. «Allerdings wird es mit der Zeit für die ganze Familie leichter», beruhigt Masnari. Denn sowohl das Kind als auch die Eltern wachsen mit der Herausforderung. Und meistern sie in den allermeisten Fällen hervorragend. Wie Thomas mit seinem Brownie. 
 
Weiterführende Informationen: www.hautstigma.ch


Hautauffälligkeiten können eine Belatung sein - oder ein Teil der eigenen Identität. Bild: iStock
Hautauffälligkeiten können eine Belatung sein – oder ein Teil der eigenen Identität. Bild: iStock

Welche Arten von Hautstigma gibt es?

Angeborene Hautläsionen

Zu gängigen angeborenen Hautläsionen gehören Mutter- und Feuermale ebenso wie Blutschwämmchen, sogenannte Hämangiome. Feuermale treten hierzulande bei bis zu drei von 1000 Neugeborenen auf. Mädchen sind etwas häufiger betroffen. Bis zu 6 Prozent aller Neugeborenen in der Schweiz weisen wiederum Muttermale auf, die bis zu 20 Zentimeter messen. Sie gelten als kleine bis mittelgrosse Nävi. Dagegen betragen sogenannte grosse Nävi zwischen 20 und 40 Zentimetern und sind deutlich seltener: In der Schweiz werden jährlich etwa vier Kinder mit grossen Nävi geboren. Riesennävi haben eine Grösse von mindestens 40 Zentimetern und können überall auf dem Körper auftreten. Sie sind jedoch noch seltener als grosse Nävi. Hämangiome sind sehr häufig: Etwa 10 Prozent aller Kinder im ersten Lebensjahr sind davon betroffen. Über die Hälfte aller Hämangiome liegen im Kopf- und Halsbereich.

 
Hauterkrankungen

Neurodermitis ist die häufigste Hauterkrankung im Kindesalter. Sie ist eine nicht ansteckende, stark juckende Entzündungsreaktion der Haut. Weitere Hauterkrankungen, die im Kindesalter auftreten können, sind Psoriasis (Schuppenflechte) und Vitiligo, bei der aufgrund eines Verlustes von Pigmentzellen weisse Flecken auf der Haut auftreten. 

Seltener sind sogenannte ektodermale Dysplasien, eine Gruppe von über 200 seltenen, genetisch bedingten Erkrankungen der Haut, aber auch der Nägel, Haare und Zähne. Ihre Häufigkeit wird auf etwa 1:15 000 geschätzt. Epidermolysis bullosa bezeichnet wiederum eine Gruppe von seltenen, genetisch bedingten und angeborenen Erkrankungen, die eine erhöhte Verletzlichkeit der Haut zur Folge haben. In der Schweiz leben geschätzte 100 bis 150 Betroffene.


Frau Neuhaus, wann soll man Hautauffälligkeiten operieren?

Oberärztin Kathrin Neuhaus weiss, in welchen Fällen von Hautauffälligkeiten ein Eingriff wirklich Sinn ergibt. Es bestehen heute zahlreiche Möglichkeiten, diese chirurgisch beseitigen zu lassen: Allein im Kinderspital Zürich wurden im vergangenen Jahr rund 1470 Eingriffe durchgeführt. Die meisten davon waren Behandlungen und Nachbehandlungen von Verbrennungen und Verbrühungen.

Frau Neuhaus, lassen sich Hautläsionen heutzutage gut beseitigen?

Grundsätzlich können Hautläsionen wie Riesennävi und Narben mithilfe chirurgischer Eingriffe entfernt werden. Aber das gilt nicht in jedem Fall. Es gibt durchaus schwierige Lokalisationen der Hautläsionen. In diesen Fällen ist es nicht möglich, sie zu beseitigen, da sonst beispielsweise innere Organe zu Schaden kommen könnten. 

Wann ist das Entfernen einer Hautläsion sinnvoll?

Primär wenn die Gesundheit des Kindes bedroht ist. Etwa weil Narben bestimmte körperliche Funktionen erschweren. Aber auch der Eingriff aus ästhetischen Gründen kann sinnvoll sein. Etwa wenn davon auszugehen ist, dass die Hautläsion einen stigmatisierenden Effekt haben kann. 

Was sollten Eltern generell über diese Eingriffe wissen?

Sie sollten verstehen, dass Operationen wie die Entfernung eines Riesennävus mit sichtbaren Narben verbunden sind. Wir operieren generell dann, wenn wir den jeweiligen Fall mit den Eltern diskutiert und gemeinsam festgestellt haben, dass eine Narbe besser wäre als der Riesennävus. 

Welches Alter empfiehlt sich am besten für solche Eingriffe?

Bei allen Operationen, die eine Narkose brauchen und die nicht aufgrund eines Notfalls durchgeführt werden müssen, warten wir ab, bis das Kind mindestens ein Jahr alt ist. Denn Babys tragen ein etwas erhöhtes Risiko bei der Narkose. Nach dem ersten Lebensjahr ist die Operation im Prinzip jederzeit möglich. Und wenn man absehen kann, dass die Entfernung mehrere Eingriffe braucht – etwa weil ein Muttermal besonders gross ist –, dann fangen wir eher früh an. Wenn wir können, versuchen wir bis zum Kindergartenalter alle nötigen Operationen durchgeführt zu haben. Der Eintritt in den Kinder­garten gilt ein Stück weit als Grenze nach oben, weil im Alter von vier oder fünf die Kinder beginnen, ihr eigenes Aussehen sowie das Aussehen anderer Menschen stärker wahrzunehmen. 

Über welchen Zeitraum ziehen sich die Operationen hin, wenn es mehrerer Eingriffe bedarf?

Wird das Muttermal in einer einzigen Operation entfernt, ist die Wundheilung oftmals nach rund zwei Wochen abgeschlossen. Bei grösseren Muttermalen sind häufig mehrere Operationen notwendig. Das kann sich über Jahre hinwegziehen, weil wir zwischen den Eingriffen darauf warten, dass alles verheilt und sich Narben bilden. 
Dr. med. Kathrin Neuhaus ist Oberärztin am Universitäts-Kinderspital Zürich und stellvertretende Leiterin des Zentrums für brandverletzte Kinder, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie.   Bild: Universitäts-Kinderspital Zürich /Valérie Jaquet
Dr. med. Kathrin Neuhaus ist Oberärztin am Universitäts-Kinderspital Zürich und stellvertretende Leiterin des Zentrums für brandverletzte Kinder, Plastische und Rekonstruktive Chirurgie.

Bild: Universitäts-Kinderspital Zürich /Valérie Jaquet

Was betrachten Sie als problematisch bei Eingriffen aus ästhetischen Gründen?

Die Tatsache, dass Eltern in diesen Fällen Stellvertreter-Entscheide für ihre Kinder treffen. Deshalb sollten sie sich mit ihrer Entscheidung Zeit lassen – sich anhören, was es für Möglichkeiten gibt, und sie in Ruhe abwägen. Auch sollten sich die Elternteile einig sein. Sind sich die beiden uneinig, sollten sie mit Sicherheit noch abwarten.  

Gibt es auch Fälle, in denen Sie den Eltern empfehlen, so lange abzuwarten, bis das Kind selbst eine Entscheidung treffen kann?

Ja, wir sind grundsätzlich zurückhaltend mit Operationen. Im besten Fall entscheidet das Kind und sagt von sich aus: «Ich möchte das operiert haben – ich ziehe die Narbe dem Muttermal vor.» Diese Überlegungen und Auseinandersetzungen beginnen bei Kindern im Alter von 12 bis 14 Jahren. Und das ist völlig in Ordnung, denn für diese ästhetischen Eingriffe ist es generell nicht zu spät: Selbst im Erwachsenenalter sind sie möglich. 

Was möchten Sie Müttern und Vätern mit auf den Weg geben?

Eltern können uns grundsätzlich aufsuchen, um gemeinsam die konkrete Situation ihres Kindes zu besprechen. Wir möchten ihnen möglichst alle Informationen bieten, die sie für ihre Entscheidung brauchen.

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