Frau Latal, sind heute eigentlich alle Kinder gestört? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Frau Latal, sind heute eigentlich alle Kinder gestört?

Lesedauer: 7 Minuten

Verhalten sich Kinder auffällig, werden sie oft vorschnell als «gestört» schubladisiert. Bea Latal, Professorin für Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich, plädiert für mehr Toleranz und Gelassenheit – insbesondere auch dann, wenn sich Kinder und Jugendliche dem gesellschaftlichen Leistungsdruck widersetzen.

Das Büro von Bea Latal liegt am Fusse des Zürichbergs, unweit vom Kinderspital. Es ist aufgeräumt, nicht überfrachtet, neben dem runden Sitzungstisch steht ein rot-blaues «Gampiross». Die lebhafte Forscherin wirkt souverän und gelassen und spricht mit viel Engagement.

Frau Latal, es gibt Stimmen, die sagen, dass zu wenige Kinder mit Entwicklungsstörungen Hilfe bekämen. Gleichzeitig hört man aber auch, dass manche Kinder heute zu schnell pathologisiert und als «nicht normal» schubladisiert würden. Wie geht das zusammen?

Das stimmt – beides kommt vor. Wir sehen am Kinderspital jährlich etwa 2500 Kinder und Jugendliche mit Entwicklungs- und Verhaltensauffälligkeiten. Ein Teil dieser Kinder wird richtigerweise zu uns geschickt, weil sie unter ernst zu nehmenden Schwierigkeiten leiden. Wir fragen uns dann, warum sie die Probleme haben, welches die Ursachen sind. Wir klären diese Kinder umfassend ab. Wir sehen aber auch Eltern, die sehr verunsichert sind, weil ihr pubertierender Sohn rebelliert, die zweieinhalbjährige Tochter ein ausgeprägtes Trotzverhalten zeigt oder in der Kinderkrippe andere Kinder beisst. Dabei handelt es sich jedoch oft um Verhaltensweisen, die in bestimmten Phasen zur kindlichen Entwicklung gehören und «normal» sind. Es gibt also Verhaltensweisen, die viele Kinder während bestimmter Entwicklungsphasen zeigen, jedoch in unterschiedlicher Ausprägung und ohne, dass man von einer Störung sprechen kann. Dazu gehören etwa Trennungsangst, Einschlafstörungen oder Schüchternheit.

«Viele Probleme gehören zu den Phasen der Entwicklung und sind daher normal.»

Bea Latal

Gibt es auch Kinder, die keine Hilfe erfahren, obwohl sie diese nötig hätten?

Das ist eine schwierige Frage. Es kann durchaus vorkommen, dass lange nicht erkannt wird, was die Ursache für ein bestimmtes Verhalten ist und deshalb eine spezifische Hilfe erst spät angeboten wird. Ein Beispiel dazu: Ein bald zehnjähriges Mädchen mit Migrationshintergrund, das Sprachschwächen und Verhaltensauffälligkeiten zeigt, wird uns zugewiesen. Immer wieder hiess es, das Kind hätte die Probleme aufgrund seiner Zweisprachigkeit. Schliesslich wird das Mädchen abgeklärt, und es stellt sich heraus, dass es eine schwerwiegende Sprachstörung hat, die einer Therapie bedarf. Die Probleme bestehen also nicht einfach deshalb, weil das Mädchen zu Hause mit einer anderen Sprache aufwächst. Natürlich fragt man sich dann: Wie konnten diese Schwierigkeiten so lange unerkannt bleiben? Die Früherkennung von Entwicklungsstörungen bei Kindern kann den Verlauf verbessern oder zumindest positiv beeinflussen. Ein anderes Beispiel ist die autistische Störung. Erfasst man die Probleme früh, kann auch mit der Behandlung frühzeitig begonnen werden.

Ist das Aufwachsen für Kinder und Jugendliche heute – im Vergleich zu den vergangenen 20 Jahren – schwieriger geworden?

Es hat ein Wandel stattgefunden. Die Kinder stehen mehr im Fokus. Das Kind ist etwas Besonderes. Das ist gut so, hat aber auch seine Schattenseiten, weil Eltern unter einem grossen Druck stehen, ihre Kinder optimal für die Gesellschaft vorbereiten zu müssen. Das Leistungsprinzip steht im Vordergrund, die Erwartungen an die Kinder sind oft sehr hoch. Eltern haben Angst, dass ihre Kinder den Anforderungen des modernen Lebens nicht gewachsen sind.

Woher kommen die hohen elterlichen Erwartungen an die Kinder?

Während sich frühere Generationen noch in Sicherheit wiegten, dass es ihre Kinder einmal besser haben werden als sie selbst, ist dem heute nicht mehr unbedingt so. Dies führt dazu, dass Eltern unter Druck stehen und diesen weitergeben. Das eigene Kind soll möglichst viel Wissen mitbekommen und -nehmen, die höchsten Schulen besuchen, um – aus Sicht der Eltern – optimal fürs Leben gerüstet zu sein. Dabei wäre es viel wichtiger, die Kinder erfahren zu lassen, worin sie gut sind, über welche Stärken und Ressourcen sie verfügen. Denn gut durchs Leben kommen wir mit unseren Stärken!

Die Bedürfnisse des Kindes sind Bea Latal in ihrer Arbeit ein wichtiges Anliegen.
Die Bedürfnisse des Kindes sind Bea Latal in ihrer Arbeit ein wichtiges Anliegen.
Wie gehen Jugendliche mit diesem Leistungsdruck und den elterlichen Erwartungen um?

Ich sehe, dass viele Jugendliche ein grosses Potenzial haben. Dieses kann sich jedoch viel besser entfalten, wenn wir sie ernst nehmen und bereit sind, mit ihnen wirklich in Beziehung zu treten. Den Teenagern sind die Eltern und Lehrpersonen nicht egal. Wir sollten versuchen, Jugendliche als Partner zu betrachten, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Geht man wirklich auf sie ein, indem man ihnen auch gut zuhört, gestaltet sich der Umgang mit ihnen oft einfacher.

Und wenn sich ein Jugendlicher seinen Eltern widersetzt?

Es gehört in der Pubertät dazu, zu rebellieren, aber kein Jugendlicher will damit erreichen, dass sich alle von ihm abwenden. Selbst wenn für sie die Gleichaltrigen wichtiger werden, sind ihnen die Eltern keinesfalls egal. Sie möchten wissen, was diese meinen. Das heisst, dass man als Eltern sehr wohl Grenzen setzen soll; quasi als Verhandlungsbasis im Umgang mit den Jugendlichen.

Was, wenn ein 16-Jähriger die Schule schmeissen will?

Das ist in der Tat eine sehr schwierige Situation für alle. Doch man kann einen Jugendlichen in diesem Alter nicht mehr zwingen, weiterhin die Schule zu besuchen. Auch wenn es für Eltern sehr anspruchsvoll ist, dies auszuhalten, bedeutet es vor allem, dranzubleiben und mit dem Jugendlichen zu schauen, welche Alternativen es gäbe, was er will und kann. Sich also in den Teenager einzufühlen und zu fragen: Was braucht er jetzt? Das verlangt von Eltern oft gute Nerven, aber es lohnt sich, nicht aufzugeben. Weil Jugendliche so auch merken, dass sie ernst genommen werden. Professionelle Unterstützung aufzusuchen, bringt in solchen Situationen oft Entlastung und kann sehr hilfreich für alle sein.

«Eltern stehen unter Druck, ihr Kind optimal auf die Zukunft vorzubereiten.»

Bea Latal

Oft ist es schwierig, zu akzeptieren, dass das eigene Kind nicht den Weg geht, den man sich vorgestellt hat.

Das ist so. Doch nicht jedes Kind ist ein Überflieger. Viele Eltern möchten dies jedoch nicht wahrhaben. Das nützt niemandem etwas. Der Jugendliche fühlt sich nicht akzeptiert und die Eltern haben falsche Erwartungen, was über längere Zeit für Kinder und Jugendliche zu einer Schwächung ihres Selbstvertrauens führen kann. Wenn also beispielsweise Eltern, die beide Akademiker sind, erwarten, dass ihr Sohn oder ihre Tochter ebenfalls eine Matur und ein Studium absolvieren, der Jugendliche dies jedoch aus verschiedenen Gründen nicht kann oder will, dann führt das oft zu grossen Spannungen. Schliesslich sollten die Eltern versuchen, den Jugendlichen in seinen Stärken zu unterstützen und ihn bei seiner schulischen und beruflichen Wahl zu begleiten. Das kann dann eben ein anderer – aber für das Kind viel besserer – Weg sein, als es der eigene war.

Sie appellieren also an die elterliche Toleranz.

Ja – und ich möchte sogar noch weiter gehen: Es wäre schön, die gesamte Gesellschaft wäre Kindern und Jugendlichen gegenüber toleranter! Dazu gehört, um nur ein Beispiel zu nennen, auch das Verständnis dafür, dass fast jedes Kind eine Trotzphase durchmacht. Ein täubelndes zweijähriges Kind im Tram oder im Supermarkt ist nicht «schlecht erzogen». Es ist nur dabei, seinen Willen zu entdecken und zu testen. Das ist nichts Schlechtes oder Schlimmes. Es braucht dann aber Eltern, die ihm in dieser Phase beistehen, sie quasi mit ihm durchmachen. Verachtende Blicke und Vorwürfe einer Gesellschaft, die kein Verständnis hat, helfen da sicher nicht weiter. Wichtig ist stattdessen, dass wir ein grundlegendes Verständnis für die kindliche Entwicklung haben.

Sie fordern, dass Eltern besser aufgeklärt werden über die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Ja. Und wir sollten wirklich versuchen, Kinder zu verstehen. Wenn ein Fünfjähriger Angst hat, sich am Kindergeburtstag von seiner Mutter zu trennen, dann bringt es nichts, wenn alle auf ihn einreden und ihm sagen, er soll jetzt doch endlich alleine sein Kuchenstück holen gehen. Klar, es gibt Kinder, die wirklich eine psychische Störung haben. Eine Angststörung etwa, die es Betroffenen nicht ermöglicht, die Schule zu besuchen. Ein solches Kind braucht Hilfe und eine psychotherapeutische Behandlung. Das ist aber nicht dasselbe, wie wenn ein Kind in der ersten Klasse am Anfang noch schüchtern ist und es deshalb die Mutter oder den Vater braucht, die es am Morgen begleiten. Statt dass die Schule dann aber sagt: Das kommt schon, gewähren wir doch diese Begleitung, wird das Kind vorschnell pathologisiert. In solchen Situationen haben wir leider nicht selten den gesunden Menschenverstand verloren. Hätten wir mehr Verständnis dafür, wie vielfältig menschliches Verhalten ist, wären die Belastungen sicher weniger gross, welche Familien durch Kinder, die ein bisschen von der Norm abweichen, erleben.

Die Spezialistin weiss um die Vielfalt des Verhaltens von Kindern.
Die Spezialistin weiss um die Vielfalt des Verhaltens von Kindern.
Kinder entwickeln sich sehr unterschiedlich. Doch woran sollen sich Eltern orientieren, was noch «normal» ist und was nicht?

Es geht dabei oft um graduelle Unterschiede. Nicht wie bei einem gebrochen Bein, wo der Befund eindeutig ist. Wenn Kinder leiden, äussern sich ihre Probleme im Verhalten oder in psychosomatischen Symptomen wie Kopf- oder Bauchschmerzen. Dann ist es wichtig, herauszufinden, was dahintersteckt. Als Beispiel: Kinder mit Hyperaktivität. Es wäre ein Kunstfehler, jedes hyperaktive Kind mit der Diagnose ADHS zu schubladisieren. Bei einem ADHS liegt eine Aufmerksamkeitsstörung, Hyperaktivität und Impulsivität vor. Jedoch müssen diese Symptome über mehrere Monate bestehen und schon in der frühen Kindheit aufgetreten sein und mehr als einen Lebensbereich betreffen. Es muss also immer geschaut werden, wie, wann und wo sich die Verhaltensauffälligkeiten zeigen. Ist das Kind etwa nur dann hyperaktiv, wenn es überfordert ist? Oder geht es in der Schule meist besser als zu Hause? Bei etwa einem Drittel der Zuweisungen in unsere Abteilung steht die Frage im Raum, ob das betroffene Kind ein ADHS hat. Klärt man diese Kinder dann umfassend ab, kann die Diagnose nur bei einigen Fällen wirklich zuverlässig gestellt werden. Oft liegt der Hyperaktivität zum Beispiel eine Teilleistungsstörung wie eine Legasthenie oder eine Sprachstörung zugrunde. Werden diese Schwierigkeiten dann therapiert, verbessert sich meist auch die Hyperaktivität.

Was können Therapien idealerweise bewirken?

Eine Therapie sollte bewirken, dass das Kind dort abgeholt wird, wo es in seiner Entwicklung steht und dadurch lernt, positive Erfahrungen zu machen, was wiederum zu Erfolgserlebnissen führt und motiviert. Man macht aber aus einem Kind mit motorischen Defiziten, das in die Ergotherapie geht, keinen motorischen Überflieger. Doch es lernt z. B., wie es auf dem Spielplatz anders mit seiner Unsicherheit umgehen kann. Und die Eltern erfahren dann auch, wie sie den Schwierigkeiten des Kindes begegnen können. Dabei wird immer vom Kind ausgegangen: Wie gestalten sich seine Bedürfnisse, wo sind seine Stärken, was braucht es? Deshalb ist es so wichtig, die Eltern mit einzubeziehen und ein gutes Vertrauensverhältnis zu ihnen zu schaffen: Schliesslich möchten doch alle das Beste fürs Kind.


Zur Person

Prof. Dr. med. Bea Latal leitet zusammen mit Prof. Oskar Jenni die Entwicklungspädiatrie am Kinderspital Zürich. Kinder mit Auffälligkeiten im Bereich Entwicklung und Verhalten werden dort abgeklärt, beraten und begleitet. Die 50-jährige Kinderärztin ist verheiratet und Mutter von zwei Söhnen (15 und 17 Jahre).