Peng, du bist jetzt tot! - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
Merken
Drucken

Peng, du bist jetzt tot!

Lesedauer: 7 Minuten

Fast alle Buben bewaffnen sich irgendwann. Warum Eltern damit gelassen umgehen sollten und wieso die meisten Mädchen kein Interesse an Waffen zeigen. 

Verena Frei hat den Hausflur noch nicht betreten, da fliegt ihr schon die Schaumstoffmunition um die Ohren. Sohn Luca, 9 Jahre alt, ist in seinem Element. Mit seiner Nerf, einer Spielzeugpistole, die mittels Luftdruck Geschosse abfeuert, verteidigt er sein Zuhause gegen Verbrecher. Dass seine Mutter sich in dieser Rolle nicht besonders wohlfühlt, ist ihm egal. Zumindest so lange, bis sie sein Lieblingsspielzeug für den Rest des Tages wegschliesst.

«Lucas Faszination für Waffen ist bei uns in der Familie derzeit ein grosses Streitthema», erzählt Verena Frei, 39, aus Winterthur. Auch wenn sie sich und ihren Mann als Pazifisten bezeichnet, möchten die Eltern das grundsätzliche Interesse des Sohnes für Waffen, Krieg und Machtspiele ernst nehmen. «Deshalb hat er eine Nerf bekommen und deshalb darf er auch dem Opa fasziniert an den Lippen hängen, wenn dieser von der Armee erzählt», sagt Verena Frei.

Ganz geheuer ist den Eltern die Waffen­begeisterung des Sohnes aber trotzdem nicht. Denn Luca würde auch gern Kriegsfilme anschauen und wünscht sich Ballerspiele für den Computer. «Dafür finden wir ihn aber noch zu jung. Und wir wollen seine Faszination für Waffen auch nicht extra fördern», sagt Verena Frei. Denn wenn sie ihren Sohn mit seiner Spielzeugpistole durchs Haus rennen sieht, blitzen vor ihrem inneren Auge immer wieder schreckliche Bilder von Amokläufen auf. In der Hauptrolle: Luca.

Spielzeugwaffen machen nicht automatisch aggressiv 

Zumindest in diesem Punkt aber geben die Experten Entwarnung: Zahlreiche wissenschaftliche Stu­dien – darunter auch eine Arbeit des Instituts für Friedenspädagogik in Tübingen – haben sich mit der Frage beschäftigt, ob Krieg spielen aggressiv macht. Das Fazit: Ein direkter Wirkungszusammenhang zwischen dem Spiel mit Spielzeugwaffen und gewaltorientierten Verhaltensmustern lässt sich nicht nachweisen.

Gewalt und Aggressivität erlernt ein Kind nicht im Rollenspiel, sondern durch real erlebte Gewalt. «Würde sich aus jedem kindlichen Spiel mit Waffen ein Amokläufer entwickeln, würden solche Taten im Fünf-Minuten-Takt passieren», sagt Dietmar Heubrock, Psychologe vom Institut für Rechtspsychologie der Uni Bremen.

Trotzdem bleibt bei den meisten Eltern ein Unbehagen, wenn sie ihre Kinder dabei beobachten, wie sie die Katze, einen Baum oder gar die eigenen Geschwister abschiessen – und sei es nur mit einem zur Waffe umfunktionierten Stock. Sie fragen sich: Muss das wirklich sein? Oder gibt es nicht vielleicht Wege, Waffen aus der Familie herauszuhalten?

Aggressivität erlernt ein Kind nicht im Rollenspiel, sondern durch real erlebte Gewalt.

Auch hier sind die Antworten der Experten sehr eindeutig: Die allermeisten Buben zwischen etwa vier und zehn Jahren werden sich in irgendeiner Form und zeitweise für Waffen interessieren – weil Waffen Teil der Realität sind. «Mir ist keine Kultur bekannt, in der es keine Waffen gibt. Kinder sehen weltweit, dass sich Menschen mit Pistolen, Speeren, Pfeilen oder Schwertern bewaffnen», sagt Allan Guggenbühl, Psychologe und Direktor des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich.

Der böse Wolf im Märchen Rotkäppchen wird vom Jäger erschossen. Polizisten in jedem Kinderbuch tragen eine Pistole. Ein Ritter ohne Schwert ist genauso undenkbar wie ein Pirat ohne Säbel oder ein «Asterix»-Comic ohne Massenschlacht. Und wenn im Autoradio die Nachrichten laufen, hören auch Kinderohren, dass mal wieder irgendwo geschossen wurde oder eine Bombe explodiert ist.

Waffen sind Bubensache

«Weil Waffen in unserer Gesellschaft präsent sind, stellt sich gar nicht die Frage, ob Kinder Waffen in ihrem Spiel aufgreifen sollen oder nicht, denn sie tun es. Die Frage ist allein, wie sie es tun sollen», sagt Tim Rohrmann, Psychologe und Professor für Kindheitspädagogik an der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst in Hildesheim.
Warum vor allem Buben von Schusswaffen fasziniert sind und wie Mütter und Väter damitgehen sollten. 
Warum vor allem Buben von Schusswaffen fasziniert sind und wie Mütter und Väter damitgehen sollten. 
Diese Frage müssen sich vor allem die Eltern mit männlichem Nachwuchs stellen. Denn auch hier sind sich die Experten einig: Für Waffen interessieren sich vor allem Buben. «Das liegt auch daran, dass Jungen ihre Konflikte offen austragen und darin ein Mittel sehen, Macht auszuüben und andere zu beeindrucken. Sie verbinden es mit Männlichkeit», sagt Psychologe Allan Guggenbühl. Die Waffe der Mädchen dagegen sind Worte. Symbole der Aggression wie Schwerter oder eine Spielzeugpistole interessieren sie deshalb kaum. Hinzu kommt, dass nach wie vor überwiegend Männer in Berufen wie Polizei, Militär oder im Sicherheitsdienst arbeiten, bei denen Waffen dazu­gehören. «In ihren Spielen schlüpfen Jungs dann in diese Rollen», sagt Kindheitspädagoge Tim Rohrmann.

Seiner Meinung nach sollten sich Eltern immer bewusst machen, dass ihre Kinder nicht dieselben Assoziationen zu Waffen haben wie sie selbst. «Für Kinder sind Waffen Bestandteil eines wilden und abenteuerlichen Spiels. Sie fühlen sich mit ihren Waffen stark und retten die Welt. Und sie setzen sich dabei mit Begriffen wie gut und böse auseinander», sagt Tim Rohrmann.

Auch Psychologe Dietmar Heubrock plädiert für mehr Lockerheit seitens der Eltern, wenn es um das Thema Waffen geht. «Es gibt einfach eine Phase im Leben von Jungs, da sind Machtspiele für die Entwicklung ihres Selbstbewusstseins und ihrer Persönlichkeit wichtig. Und dazu gehören Waffen. Verbietet man sie strikt, werden sie dadurch nur noch attraktiver.»

Das Toastbrot wird zur Waffe 

Diese Erfahrung hat auch Allan Guggenbühl in seiner beruflichen Praxis immer wieder gemacht. «Die meisten Eltern wollen Kinder ohne Spielzeugwaffen aufziehen. Viele erleben jedoch, dass ihre Söhne derart von Waffen fasziniert sind, dass sie diese notfalls selber basteln. Eine Mutter erzählte mir, dass ihr Junge Toastbrot in Pistolen verwandelte.»

Wenn sich Kinder schon bewaffnen, dann hält der Psychologe solche Fantasiewaffen für eine gute Wahl. «Bei gekauften Spielzeugwaffen muss dagegen klar sein, dass es sich um eine symbolische Darstellung handelt. Sie dürfen keinesfalls echt wirken», sagt Allan Guggenbühl.

Das ist hierzulande auch rechtlich relevant. Denn Imitations-, Schreckschuss- und Soft-Air-Waffen, die mit echten Feuerwaffen verwechselt werden können, sind seit 2008 im revidierten schweizerischen Waffengesetz echten Waffen gleichgestellt. Der Grund: Sie wurden bei Delikten immer wieder als Drohmittel eingesetzt, wodurch gefährliche Situationen entstanden.

Spielwaffen dürfen echten Waffen nicht zum Verwechseln ähnlich sehen. 

Träumt das Kind dennoch weiterhin von der täuschend echten Waffenattrappe, hilft vielleicht diese Geschichte aus den USA zur Abschreckung: Dort ist ein bewaffneter Jugendlicher von einem Polizisten erschossen worden. Dass er nur eine täuschend echte Spielzeugwaffe trug, hat der Beamte zu spät erkannt.

Abgesehen vom Rat, auf allzu echt wirkende Waffen zu verzichten, haben die Experten kein Patentrezept parat, wie ein gesunder Umgang mit dem Thema Waffen in der Familie, im Kindergarten oder in der Primarschule aussehen soll. «Dazu sind die Gründe einfach zu verschieden, aus denen heraus Waffen für Kinder wichtig sind. Der eine will sich damit stärker machen, der Nächste einfach nur zur Gruppe dazugehören, der Dritte ist an der Technik dahinter interessiert», sagt Kindheitspsychologe Tim Rohrmann.

Die Gründe für die Faszination verstehen 

Zentrale Aufgabe der Eltern sei es, immer im Gespräch mit dem Kind zu bleiben, um zu erfahren, warum es sich für Waffen interessiert. Kann das Kind seine Faszination nicht in Worte fassen, dürfen Eltern auch ruhig mal mitspielen und die Gründe so selbst herausfinden, empfiehlt Tim Rohrmann.

Blockt ein Kind ein solches Interesse dagegen ab, sollten Eltern hellhörig werden. Gleiches gilt Tim Rohrmann zufolge, wenn Waffen für das Kind auch dann noch interessant sind, wenn die Freunde längst andere Interessen verfolgen oder wenn Waffen zum einzigen Hobby werden. Beobachten die Eltern, dass ihr Kind mittels Waffen starke Machtfantasien auslebt und Freude daran empfindet, bei anderen Angst zu erzeugen, oder gar Kinder oder Tiere mit den Waffen verletzt, müssen sie unbedingt das Gespräch mit dem Kind suchen – und sich notfalls auch Hilfe von aussen holen.

Virtuelles Töten

In engem Austausch mit dem Nachwuchs bleiben gilt insbesondere bei älteren Kindern, die das Holzschwert durch virtuelle Waffen in Computerspielen ersetzen. «Eltern können solche Ballerspiele komplett ablehnen, Kinder sind trotzdem oft von ihnen fasziniert», sagt Allan Guggenbühl.

Statt diese Kinder dann in der virtuellen Waffenwelt allein zu lassen, sollten sich die Eltern lieber mal mit an den Computer setzen. So finden sie heraus, was die Spielmotivation ihrer Kinder ist. «Meist geht es auch hier vor allem um Wettbewerb, ums Gewinnenwollen», sagt Psychologe Dietmar Heubrock.

Empfinden Eltern ein Ballerspiel dann doch als zu realitätsgetreu, zu brutal oder zu blutrünstig, können sie nach dem Mitspielen ein Verbot auch besser begründen. «Zumal man beim Zusammenspielen merkt, wie das Kind auf die Inhalte reagiert und wann ihm etwas zu viel wird», sagt Psychologe Tim Rohrmann.

Verena Frei hat kürzlich mit Luca einen Stapel Bücher gekauft. Ihr Sohn wollte wissen, wie sich die Technik von Waffen seit den Weltkriegen verändert hat und wo heute welche Waffen hergestellt werden. Jetzt blättern die beiden gemeinsam durch die neue Lektüre. Und sie diskutieren viel darüber, warum es nach wie vor so viele Kriege auf der Welt gibt und Konflikte nicht immer gewaltfrei gelöst werden. «Es ist schön, zu beobachten, dass sich Luca auch für diese Seite des Waffen­themas interessiert», findet seine Mutter.

Sandra Markert ist Journalistin und Mutter von drei Kindern. Der Tochter reichen die Fäuste, um sich gegen ihre beiden jüngeren Brüder zur Wehr zu setzen. Und diese haben Waffen (noch) nicht für sich entdeckt.
Sandra Markert ist Journalistin und Mutter von drei Kindern. Der Tochter reichen die Fäuste, um sich gegen ihre beiden jüngeren Brüder zur Wehr zu setzen. Und diese haben Waffen (noch) nicht für sich entdeckt.

Experten-Tipps zum Umgang mit Waffen 

  • Nicht komplett verbieten: Das macht Waffen erst recht interessant. Dürfen andere Kinder mit Gewehren und Schwertern spielen, kann beim eigenen Kind zudem schnell das Gefühl aufkommen, ausgegrenzt zu sein.
  • Über die Unterschiede zwischen echten Waffen und Spielzeugwaffen sprechen, vor allem darüber, in welchen Situationen die echten Waffen eingesetzt werden und warum.
  • Klare Regeln für das Spiel mit Waffen aufstellen: Waffen sind zum Spielen da, nicht um echte Konflikte damit zu lösen. Es ist wichtig, dass Kinder lernen, konstruktive Lösungen für einen Streit zu finden – hier sind Eltern als Vorbilder gefragt. Auch sollte klar sein, dass man niemandem im Spiel wehtut und sofort Schluss ist, wenn es einem Kind zu viel wird. In vielen Krippen und Kindergärten gilt für solche Situationen die «Stopp»-Regel. Wird das Signalwort gerufen, heisst es aufhören.
  • Grenzen zwischen Spiel und Realität: Je originalgetreuer Spielzeugwaffen aussehen und je realistischer ein Computerspiel dargestellt wird (vor allem, wenn man es dann noch aus der Ego-Perspektive spielt), umso schwerer wird es, zwischen virtueller und realer Welt zu unterscheiden. Während bei einem Stock jede Menge kindliche Fantasie nötig ist, um aus diesem eine Waffe zu machen, fällt das bei einer täuschend echten Waffenkopie weg. Möchte ein Kind eine solche Waffe haben, sollten Eltern immer herauszufinden versuchen, warum es genau diese sein soll.

Mehr lesen zum Thema:

  • Brutale Spiele machen etwas mit der Seele des Kindes
    Wenn Kinder und Jugendliche Ego-Shooter spielen, machen sich Eltern meist Sorgen. Warum diese oft unbegründet sind, was es mit der sogenannten Angstlust auf sich hat und warum trotzdem Vorsicht geboten ist, weiss unser Kolumnist Thomas Feibel.
  • Aggressionen und negative Gefühle zulassen
    In vielen Lebenssituationen tun Eltern alles, damit die Kinder in einem harmonischen Zuhause aufwachsen können. Aber es ist nicht angebracht, vor Kindern Konflikte zu vermeiden, «negative» Gefühle zu verdrängen, ihnen eine heile Welt vorzumachen, meint Jesper Juul.