Wie fühlen sich Ängste an? Zwei Teenies erzählen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie fühlen sich Ängste an? Zwei Teenies erzählen

Lesedauer: 4 Minuten

Elena, 14 hatte als Kind panische Angst, sich zu erbrechen. Mike,11 fürchtet sich vor Guillotinen und rennt deshalb aus dem Geschichtsunterricht. Zwei Protokolle über Kinderängste.

Protokolle: Sarah King
Bilder: Stephan Rappo

«Es war der blanke Horror»

Elena, 14  war fünf Jahre alt, als sie von der Angst gepackt wurde. Über längere Zeit besuchte sie eine Spieltherapie. Mit Erfolg: Heute geht es ihr gut, die Erinnerung verblasst. Bei ihrer Mutter Simone ist die Zeit, als sie ihre Tochter mit Gewalt in den Kindergarten bringen musste, jedoch sehr präsent.

Elena: Soweit ich weiss, hatte ich Angst vor dem Erbrechen. Wenn mir ganz leicht schlecht war, sagte ich: Mir ist schlecht, mir ist schlecht, mir ist schlecht. Dann wurde mir immer schlechter. Simone: Es begann am 6. Dezember 2009. Wir gingen in den nassen und finsteren Wald, den Samichlaus suchen. Wir haben ihn einfach nicht gefunden. So entschieden mein Mann und ich, dass wir ihn auf getrennten Wegen suchen. Elena bekam Panik, weil die Familie nicht mehr zusammen war. Dank dem Natel fanden wir den Samichlous schliesslich, danach gingen wir zu einer Freundin Suppe essen. Da musste Elena erbrechen. Nicht wegen dem Samichlous, eher wegen zu viel Schokolade. Von da an hatte sie aber diese Angst vor dem Erbrechen. Sie wollte nirgends mehr hin und auch niemanden mehr bei sich zu Hause haben.

Elena: Ich erinnere mich, dass mich meine Grossmutter mal in den Kindergarten begleiten wollte. Ich hielt mich im Wohnzimmer an der Säule fest und weigerte mich, die Schuhe anzuziehen.

Simone: Es ging gar nichts mehr. Elena wollte weder in den Kindergarten noch sonst wohin. Ein befreundeter Psychologe sagte: «Die Angst verschwindet nicht, wenn ihr abwartet.» Wir klärten zuerst beim Arzt ab, ob ein medizinisches Problem vorliegt. Auch das war Stress: Wir mussten Elena hinter dem Sofa «füregrüble», zu zweit anziehen, sie ins Auto hieven, wo sie wie ein wildes Tier nach hinten in den Kofferraum kletterte. Aus purer Panik. Der Arzt sagte: Da muss man nichts untersuchen. Elena braucht psychologische Unterstützung.

Elena: Ich ging zu einer Psychologin, immer am Mittwoch­nachmittag. In der ersten Stunde redeten wir, dann spielten und bastelten wir. Einmal malte ich mir einen Ort aus, an den ich denken sollte, wenn es mir nicht gut geht: Dschungel, Wasserfall und rundherum Steine. Ausserdem hatte ich zwei Beschützertiere: den Adler und den Gepard.

Simone: Wir vereinbarten ein Aufbautraining. Anfangs trugen wir sie zu zweit in den Kindergarten. Das war der blanke Horror für mich und meinen Mann. Wenn wir ihre Finger von der Säule lösten und sie schrie, hoffte ich im Innersten, dass es in Ordnung ist, wie wir handeln. Nach Mutterinstinkt tut man so etwas einfach nicht, das ist übergriffig. Aber wir wussten von Fachleuten, dass es der richtige Weg ist. Im Kindergarten blieb ich anfangs noch lange bei ihr. Wir haben die Zeit, bis ich ging, immer verringert und arbeiteten mit positiven Verstärkern: Wenn sie blieb, gab es einen Kleber.

Elena: Beim zehnten Kleberli erhielt ich ein Schleich-Tierli oder so. Es ging schnell besser. Am Ende der ersten Klasse hörte ich mit der Therapie auf. Für die dritte Klasse musste ich dann Klassenzimmer und Lehrperson wechseln. Ich wollte nicht mehr zur Schule gehen. Also ging ich wieder zur Psychologin. Simone: Schwierige Phasen wurden immer durch Veränderungen ausgelöst. Es war aber nicht mehr so dramatisch wie am Anfang. Ich konnte sie alleine in die Schule begleiten. Die Grossmutter wartete jeweils an der Hausecke auf Abruf, falls ich nicht zurechtkommen würde.

Elena: Dann merkte ich in der vierten Klasse, dass ich am Mittwochnachmittag lieber abmachte, als in die Therapie zu gehen. Von da an ging es mir besser. Wenn ich heute zurückdenke, ist es komisch. Es war ja gar nicht schlimm. Simone: Für mich war es schlimm. Elenas Angst hat viel ausgelöst. Die Verzweiflung, die man als Eltern hat und als Paar teilen muss. Das ist nicht einfach. Ich habe damals auch Hilfe in Anspruch genommen, um das aufzufangen.

Elena: Angst habe ich immer noch manchmal. Ich bin auch immer noch schnell verunsichert, aber wohl nicht mehr als andere in meinem Alter. Und müsste ich erbrechen, wäre das zwar unangenehm. Aber ich kann ja aufs WC rennen.

«Ich rannte aus dem Geschichtsunterricht» 

Mike, 11 fürchtet sich vor Guillotinen. Seit sechs Jahren schon lebt er mit der Angst vor den Enthauptungseinrichtungen aus dem 18. Jahrhundert. Reden darüber macht ihm keine Angst – solange der Begriff nicht fällt.

«Es passierte in einem Trickfilm: Man sah etwas raufgehen, dann runterfallen, dann jemanden schreien. Gesehen habe ich das Ding nicht. Aber es hatte sich wohl schon in mein Unterbewusstsein geschlichen. Seither reicht es, wenn ich das Wort höre. Dann ist etwas bei mir nicht mehr normal.

Wie ein Schock ist es. Ich ducke mich, manchmal renne ich davon, manchmal bewege ich mich gar nicht mehr. Ich beginne zu zittern, werde unruhig, habe Schweissausbrüche und verschliesse Augen und Ohren. Das Herz klopft schneller.

In der Schule nahmen wir einmal die Geschichte des Autos durch. Als das 18. Jahrhundert erwähnt wurde, hatte ich Angst, weil ja plötzlich etwas über die Französische Revolution gesagt werden könnte. Auch wenn wir in der Klasse ein Buch vorlesen, habe ich Angst, dass das Ding vorkommt. Manchmal lese ich das Buch vorher alleine durch, so bin ich vorbereitet. Wenn ich das Wort selbst lese, macht es mir nichts. Ich habe Angst, wenn es jemand anderes ausspricht. Dann ist da diese Ungewissheit: Ich weiss nicht, was kommt.

Überall, wo das Ding vorkommen könnte, passe ich auf. Bei Trailern im Kino gehe ich aufs WC. Im Theater sagte ich mal, ich hätte eine Blasenentzündung. Bei Werbeanzeigen im Internet halte ich den Finger bereit, um notfalls das Fenster wegzudrücken. Es ist immer dann gefährlich, wenn das 18. Jahrhundert erwähnt wird.

Bei einer Doku über die Bibel hatte ich Glück. Sie ging vom 20. direkt ins 15. Jahrhundert zurück. Damals gab es dieses Ding noch nicht. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurde es überall abgeschafft ausser in Frankreich. Ich informiere mich, damit ich weiss, wann ich aufpassen muss.

Als die Lehrerin fragte, behauptete ich, ich hätte Kopfweh

Meine Kollegen wissen so halb von meiner Angst. Sie haben halt einmal einen Anfall von mir mitbekommen, als ich im Geschichtsunterricht aus dem Klassenzimmer rannte. Die Lehrerin fragte mich, was ich habe. ‹Kopfweh›, antwortete ich. Ich traute mich nicht, es zu sagen. Mami erklärte es dann der Lehrerin. Nun darf ich mich melden, wenn ich raus will. 

Angst habe ich sonst nur noch vor Spinnen. Dem kann man aber nur ‹ein bisschen Angst› sagen. Ah – und im Schiff auf dem Meer: Ein Tornado könnte mich aufsaugen. Also auf eine Kreuzfahrt muss ich nicht unbedingt gehen. Und ich schlafe nie im Dunkeln. Meine ­Zimmerlampe schalte ich nachts auf Blau. Dann geht es. Dafür schämte ich mich.

Aber dann merkte ich, dass einer in der Klasse auch Angst hat. Als er sich mal vor dem Donner fürchtete, sagte ich: ‹Es ist alles gut. Dir kann nichts passieren.› So begannen wir, über unsere Ängste zu reden.

Ich möchte helfen, wenn jemand Angst hat. Ich weiss ja selbst, wie es ist. Meine Kollegen helfen mir auch. Als sie in der Landschulwoche merkten, dass ich Angst bekam, sagten sie: ‹Wenn es schlimm wird, kommen wir mit dir raus.›»