Kinder leiden, wenn Eltern trinken - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Kinder leiden, wenn Eltern trinken

Lesedauer: 4 Minuten

Die Suchterkrankung von Eltern bleibt Kindern niemals verborgen. Die Buben und Mädchen bekommen wenig Aufmerksamkeit und fühlen sich oft schuldig. Wie Eltern und Experten helfen können.

Meine Kinder haben von allem nichts mitbekommen. – Diesen Satz höre ich oft von Eltern, die wegen einer Suchterkrankung in die Beratung kommen. Und meist wird noch hinzugefügt: «Ich habe getrunken, während die Kinder schliefen, ich ging normal der Arbeit nach, und die Kinder haben auch nie gefragt.» 

Hinter diesen Gedanken steckt ein verständlicher Wunsch: Eltern möchten ihre Kinder vor den eigenen Schwächen und Problemen bewahren. Der Gedanke, dass die elterliche Sucht negative Auswirkungen auf die Kinder haben könnte, ist für viele schwer zu ertragen. Dennoch belegen Studien unzweifelhaft, dass eine solche familiäre Belastung nicht spurlos an den Kindern vorbeigeht und sie in ihrer Entwicklung gefährden kann. 

Gewiss spielt dabei der Grad der Suchtbelastung eine Rolle und es gibt auch korrigierende Faktoren. Tatsache aber ist, dass die Sucht eines Elternteils die ganze Familie betrifft. Auch dann, wenn sich die Eltern bemühen, die Kinder davon fernzuhalten.

«Ich konnte meinen Vater nicht spüren»

Kinder aus betroffenen Familien haben oft Probleme, Bindungen einzugehen – und das setzt sich im Erwachsenenalter fort. Der Grund dafür ist, dass sie wenig Verlässlichkeit, Fürsorge, Verständnis, emotionale Verfügbarkeit und Vertrauen von ihrem suchtkrankenElternteil erfahren haben. Manchmal kann dies durch den gesunden Elternteil kompensiert werden.

Oder das Kind hat das Glück, dass es andere Personen in seiner Nähe gibt, die eine verlässliche Bindung anbieten. Dies würde die kindlichen Ressourcen stärken und die Entwicklungsprognosen verbessern, wie die Resilienzforschung zeigt. (Resilienz ist eine psychische und physische Widerstandsfähigkeit.) 

Zu früh, zu viel Verantwortung: speziell gefährdet sind Kinder von süchtigen Alleinerziehenden 

Die Beziehung zum betroffenen Elternteil aufzubauen, ist hingegen schwierig. Kürzlich sagte mir eine erwachsene Person, welche als Kind die Sucht des Vaters erlebt hat: «Mein Vater war zwar da, dennoch war er nicht da. Ich konnte ihn nicht erreichen. Er war nicht spürbar.» Kinder nehmen den alkoholisierten Elternteil oft wie durch eine «Scheibe » wahr. Die Sucht oder der Alkohol stehen dazwischen. Das erschwert eine authentische Beziehung oder macht sie gar unmöglich. 

Kinder von süchtigen Eltern haben oft ein geringes Selbstwertgefühl

Betroffene Kinder haben ausserdem häufig Mühe, ihre eigenen Bedürfnisse und Wünsche wahrzunehmen. Sie haben sehr gute Antennen dafür entwickelt, was von ihnen erwartet wird. Ihr ganzer Fokus ist darauf ausgerichtet, die Bedürfnisse der andern wahrzunehmen und zu befriedigen. Kinder, die in suchtbelasteten Familien aufwachsen, zeigen oft ein geringes Selbstwertgefühl. Zu Hause standen die suchtkranken Eltern, die Suchtthematik oder der Stoff im Mittelpunkt – sie selbst haben wenig Aufmerksamkeit bekommen. Daher konnten ihre Eltern sie auch nicht bei ihren alterstypischen Entwicklungsaufgaben unterstützen. 

Andere betroffene Kinder wirken seltsam erwachsen. Schon sehr früh haben sie Erwachsenen-Aufgaben übernehmen müssen und wurden so um ihre Kindheit betrogen. Es kam zu einer Rollenumkehr: Die Kinder mussten jüngere Geschwister betreuen, fürs Essen sorgen, den Haushalt machen. Dies gilt vor allem bei suchterkrankten Alleinerziehenden. Hier sind die Kinder ganz besonders gefährdet. Diese Kinder lernen früh und beeindruckend, Verantwortung zu übernehmen, kommen dabei aber selbst zu kurz.

Schritt für Schritt zum klärenden Gespräch

«Ich habe mich oft meiner Mutter oder meines Vaters geschämt», ist ebenfalls ein typischer Satz für Kinder von suchterkrankten Eltern. Das Kind, das den betrunkenen Vater vom Stammtisch heimholen musste, ist da sicher ein Extrembeispiel. Viele Kinder wagen es kaum, Kolleginnen und Kollegen nach Hause zu nehmen, weil sie nie wissen, wie sie Vater oder Mutter antreffen. Sie haben gelernt, mit dieser Unberechenbarkeit zu leben, wollen diese Erfahrung den Freunden aber nicht zumuten. Dies führt zusätzlich oft zu Schwierigkeiten in der Beziehung zu Gleichaltrigen. Nicht zuletzt weisen betroffene Kinder Leistungseinbussen in der Schule auf. 

Kinder aus suchtkranken Familien haben oft Probleme, Bindungen einzugehen.

Untersuchungen zeigen, dass es einen auffälligen Zusammenhang zwischen elterlicher Sucht und Aufmerksamkeits- und Konzentrationsproblemen bei den Kindern gibt. Sie haben den Kopf verständlicherweise woanders, sind besetzt von Sorgen, von denen sie eigentlich frei sein müssten. Hinzu kommt, dass es sich wie ein Verrat an den Eltern anfühlen würde, sich jemandem anzuvertrauen. Eltern, die den eigenen Konsum hinterfragen, gehen bereits den ersten wichtigen Schritt. 

Der nächste Schritt sollte sie zu einer Fachstelle führen, um sich professionell beraten zu lassen. Sucht ist eine psychische Erkrankung. Es braucht die Hilfe von Experten und keine familieninternen Therapien. In der Fachstelle erhalten Eltern auch Unterstützung für das altersadäquate Gespräch mit den Kindern. Denn oft wurde das Thema zu Hause tabuisiert. 

«Mein Vater trinkt, weil ich mich schlecht benommen habe.»

Es tut den Kindern gut, wenn ihnen gesagt wird, dass Vater oder Mutter krank sind. Sie haben jetzt eine Erklärung für das  vielleicht unverständliche Verhalten der betroffenen Eltern. Das wirkt entlastend. Kinder suchen oft die Schuld im eigenen Verhalten: «Mein Vater trinkt, weil ich mich schlecht benommen habe.» Und dann erhalten Kinder endlich die Möglichkeit, zu sagen, wie es ihnen geht, was sie belastet, was ihnen Sorgen macht. Gewiss ist dieses Gespräch nicht leicht. Eltern zeigen sich verletzlich, gestehen Schwächen ein, können jetzt aber auch lernen, sich in die Lage ihrer Kinder zu versetzen. 

Betroffene Kinder müssen jüngere Geschwister betreuen, fürs Essen sorgen, den Haushalt machen.

Dies ist oft der Punkt, an denen Eltern erst klar wird, dass ihre Kinder sehr wohl viel mitbekommen haben. Auch wenn sie es vielleicht nicht verstanden haben und nicht einordnen konnten. Auch wenn darüber nicht geredet wurde. Es ist unsere Erfahrung aus der therapeutischen Arbeit mit betroffenen Kindern und Familien, dass sich Verhaltensauffälligkeiten und andere Symptome auflösen können, wenn Kinder und Eltern offen miteinander sprechen. Ein solches Gespräch ist eine Erleichterung – und keine zusätzliche Belastung, wie viele Suchterkrankte befürchten. Denn Kinder nehmen die elterliche Suchterkrankung immer wahr, sogar schon im Mutterleib.

Bild: fotolia.com


Wie viele Kinder wachsen mit alkoholkranken Eltern auf?

Gemäss SuchtSchweiz leben in der Schweiz etwa 250.000 alkoholabhängige Menschen. Rund 100.000 Kinder in der Schweiz haben eine alkoholabhängige Mutter oder einen alkoholabhängigen Vater. Dies bei einer hohen Dunkelziffer, denn die Zahlen beziehen sich auf die wegen einer Alkoholabhängigkeit in Behandlung stehenden Patientinnen und Patienten. Beim Konsum von illegalen Substanzen oder anderen Süchten fehlen Zahlen.

Links:
www.mamatrinkt.ch
www.papatrinkt.ch
www.suchtschweiz.ch


Wann liegt ein Alkoholproblem vor?

  1. Hatten Sie jemals das Gefühl, Ihren Konsum an alkoholischen Getränken verringern zu müssen?
  2. Hat Ihr Umfeld schon einmal Bemerkungen über Ihren Alkoholkonsum gemacht?
  3. Hatten Sie schon einmal den Eindruck, dass Sie zu viel trinken?
  4. Haben Sie schon einmal am Morgen Alkohol gebraucht, um in Form zu sein? 

Wenn Sie zwei oder mehr dieser Fragen mit Ja beantworten, könnte es sein, dass ein problematischer Alkoholkonsum vorliegt. In diesem Fall sollten Sie bei einer Suchtberatungsstelle Hilfe suchen. (vgl. www.aktionstag-alkoholprobleme.ch)