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Geliebtes, verhasstes Smartphone

Lesedauer: 4 Minuten

Feste Regeln im Umgang mit dem Smartphone werden zuerst als Einschränkung wahrgenommen. Sie können aber auch entlasten, ermöglichen neue Freiheiten und befreien vom Gruppenzwang.

Text: Stefanie Rietzler
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Ich erinnere mich, als wär es gestern gewesen: Meine damalige WG-Mitbewohnerin streckt mir verzweifelt ihr Handy entgegen. «Steffi? Kannst du es bitte nehmen? Ich habe nächste Woche Prüfungen. Mit diesem Ding kann ich mich einfach nicht konzentrieren!» 

Es gibt kaum eine Person, kaum eine Familie, kaum eine Partnerschaft, in der sich rund um die Handynutzung nicht früher oder später ein Problem auftut. 

Die Corona-Pandemie mit ihren Einschränkungen hat dies noch verstärkt. Die letzte JAMES-Studie aus dem Jahr 2020 verzeichnete bei Jugendlichen in der Schweiz den höchsten Anstieg in der Handynutzung seit Beginn der Messung im Jahr 2010. Im Vergleich zu 2018 ­verbrachten die Jugendlichen an Wochentagen jeweils 40 Minuten und am Wochenende insgesamt fast 4 Stunden mehr an ihrem Smartphone. Vielen Erwachsenen ergeht es wahrscheinlich nicht anders: Die meisten von uns hängen zu oft und zu lange am Handy.

Als mir kürzlich die Broschüre «Kinder stärken» von der Gesundheitsdirektion des Kantons Zürich ins Haus flatterte, überkam mich selbst das schlechte Gewissen bei Tipps wie: «Schenken Sie Ihrem Kind volle Aufmerksamkeit, nicht den Medien! Wenn Sie oft durch das Smartphone abgelenkt werden, ist das nicht gut für die Beziehung zu Ihrem Kind.» Oder: «Leben Sie einen guten Umgang vor. Bei den Kleinsten gilt die Regel: Je weniger Sie sich im Beisein Ihres Kindes dem Smartphone widmen, umso besser!» 

Phubbing: Wie das Smartphone Beziehungen gefährdet

Aber nicht nur, wenn das Kind für sich spielt, greifen wir zum Handy. Immer mehr Menschen tun dies mitten in einem Gespräch. Inzwischen hat diese Angewohnheit so weit um sich gegriffen, dass ihr ein eigener Begriff zugewiesen wurde und es mehrere Untersuchungen dazu gibt: Phubbing. Das Wort setzt sich zusammen aus «phone» und «snubbing», wobei Letzteres so viel bedeutet wie «jemanden vor den Kopf stossen, brüskieren».

Studien zeigen, dass Phubbing vor allem in engen Beziehungen auftritt: In der Familie und im Freundeskreis. Die Konsequenzen sind weitreichend: Phubbing führt zu Konflikten, Entfremdung und dem Gefühl, dass das Handy dem Gegenüber wichtiger ist als die Beziehung. Personen, die häufig phubben, büssen an Empathie ein und empfinden langfristig mehr Stress, depressive Verstimmungen sowie eine geringere Lebenszufriedenheit. 

Hinter diesem Phänomen steckt einerseits die Erwartung, stets online sein und sofort reagieren zu müssen, und die Angst, etwas zu verpassen. Andererseits tragen einige Persönlichkeitsmerkmale dazu bei: unter anderem soziale Ängstlichkeit, emotionale Labilität, eine geringe Selbstkontrolle und wenig Gewissenhaftigkeit. 

Die Handynutzung läuft bei den meisten von uns auf Autopilot: Wir schlagen die Augen auf und greifen nach dem Smartphone. Wir legen eine Pause ein und blicken auf den Bildschirm. Eine Benachrichtigung geht ein, und wir reagieren sofort. Wir müssen irgendwo warten und überbrücken die Zeit mit Facebook, Instagram und Co. 

Am Ende stellen wir fest, dass wir dadurch nichts gewonnen haben. Wieder einmal fühlen wir uns nach einer Pause, in der wir uns mit Nachrichten, Mails und sozialen Medien beschäftigt haben, überhaupt nicht regeneriert. 

Drei Schritte zu einem achtsameren Umgang mit dem Handy

Doch was können wir alle – ob Jugendliche oder Erwachsene – tun, um diese Automatismen zu durchbrechen?

Neben den typischen Tipps, die Benachrichtigungen auszuschalten, bestimmte Apps zu deinstallieren und regelmässig die eigene Handynutzungsdauer zu überprüfen, kann uns ein Drei-Schritte-Vorgehen weiterhelfen.

Catherine Price, Autorin des Buchs «Endlich abschalten», rät, sich bei jedem Griff zum Handy die drei folgenden Fragen zu stellen:

  • Wozu möchte ich das ­Smartphone nutzen?
  • Warum gerade jetzt?
  • Was könnte ich sonst tun?

Dabei können uns innere Muster bewusst werden, beispielsweise: «Es kommt häufig vor, dass ich mich mit Social Media ablenken will, weil ich müde bin oder mir langweilig ist. Ich könnte stattdessen lesen, einem Hörspiel lauschen oder kurz die Augen schliessen und etwas dösen.»

Damit man die Fragen nicht vergisst, kann man diese als Sperrbildschirm auf dem Handy hinterlegen. 

«Man muss den Jugendlichen halt Medienkompetenz vermitteln», heisst es häufig. Mit «man» ist meist die Schule gemeint, die in ein paar Lektionen Gefahren des Internets wie Cybermobbing oder Cybergrooming aufgreifen, für Anzeichen von übermässigem Medienkonsum sensibilisieren und über Anlaufstellen bei Problemen informieren soll. 

Diese Bestrebungen sind wichtig. Manchmal scheint mir jedoch, dass wir beim Thema Medienkonsum zu viel vom Individuum verlangen – im Sinne von: Wenn die Jugendlichen nur ausreichend Informationen erhalten und genügend Selbstkon­trolle aufbauen, ist das Problem gelöst. 

Manchmal ist ein wenig soziale ­Kontrolle nicht schlecht

Doch leider geben einige der einflussreichsten Firmen der Welt Milliarden aus, um das Gegenteil zu erreichen und uns möglichst oft und lange am Bildschirm zu halten. Sehr eindrücklich zeigt das der – zugegeben etwas reisserische – Dokumentarfilm «Das Dilemma mit den sozialen Medien».

Ein achtsamer Umgang mit dem Smartphone entwickelt sich oft leichter, wenn man nicht auf sich allein gestellt ist. In diesem Zusammenhang offenbarte mir ein Jugendlicher: «Auch wenn ich es nie zugeben ­würde, bin ich eigentlich froh, dass meine Eltern mir das Handy abends abnehmen. Dann kann ich meinen Freunden wenigstens sagen, dass ich nicht auf ihre Nachrichten antworten konnte, weil ich es abgeben musste.» 

Eine Lehrerin an der Oberstufe erlebte Ähnliches. Im Zuge eines Projekts zum Umgang mit Bildschirmmedien führte die Schule ein Experiment durch. Während zweier Wochen gaben die Schülerinnen und Schüler ihre Handys beim Betreten des Klassenzimmers ab und bekamen sie am Ende des Tages zurück. In der Gruppe sprachen sie über die Auswirkungen: «Wie ist das für uns? Wie verändert sich dadurch unser Miteinander? Wie verbringen wir die Pausen?» Am Ende war eine erstaunlich grosse Mehrheit der Jugendlichen dafür, die Regel beizubehalten. 

Solche sozialen Regeln sind nicht nur eine Einschränkung. Sie können auch entlasten, neue Freiheiten ermöglichen und von Gruppenzwang befreien. Die einzelne Person muss sich nicht mehr ständig entscheiden, ob sie das Handy nun hervorholen will oder nicht; sie muss ihr Gegenüber nicht darauf hinweisen, dass es doch seines bitte wegpacken und sich auf das Gespräch einlassen soll; und sie ist anderen keine Erklärung schuldig, weshalb sie nicht auf Nachrichten reagiert hat.

Stefanie Rietzler
ist Psychologin und Autorin. Gemeinsam mit Fabian Grolimund leitet sie die Akademie für Lerncoaching, ein Beratungs- und Weiterbildungsinstitut. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Zürich.

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