Corona-Impfung für Jugendliche: «Wir machen nicht auf Tempo» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Corona-Impfung für Jugendliche: «Wir machen nicht auf Tempo»

Lesedauer: 7 Minuten

Christoph Berger, Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen, erklärt, warum die Covid-19-Impfung in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland auch für Jugendliche generell empfohlen wird. Und er sagt, dass sich Teenager aufgrund ihrer Einschätzung des persönlichen Nutzens für oder gegen die Impfung entscheiden sollen – nicht wegen der Herdenimmunität.

Herr Berger, nach der Empfehlung Ihrer Kommission, dass sich auch 12- bis 15-Jährige gegen Covid-19 impfen lassen sollen, war der Zuspruch bisher eher lau: Laut kürzlichen Medienberichten haben sich erst rund 10 Prozent der Jugendlichen für eine Impfung angemeldet. Enttäuscht?

Wir haben ja ausdrücklich gesagt, dass wir kein Durchimpfungsziel haben und dass wir die Impfnotwendigkeit durchaus als mit dem Alter absteigend sehen. Das Verhältnis von Nutzen und Risiko ist natürlich bei einem 60-Jährigen anders als bei einem 30-Jährigen und nochmal ganz anders bei einem 14-Jährigen. Wir machen bei den Jugendlichen überhaupt nicht auf Tempo. Diejenigen, die sich jetzt impfen lassen wollen, sollen das tun. Und die anderen können auch noch warten, bis wir für diesen Altersbereich noch mehr Daten haben. Natürlich ist diese Gruppe auch ein Teil der Bevölkerung, aber sie ist nicht essenziell, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Wichtiger ist es, dass wir klar machen, dass die Bedeutung der Impfung auch altersabsteigend ist.

Gemäss Schweizerischem Impfplan wird eine Impfung nur empfohlen, wenn «der Nutzen durch verhinderte Krankheit und deren Komplikationen die mit der Impfung verbundenen Risiken in jedem Fall um ein Vielfaches übertrifft». Trifft das auf die Covid-19-Impfung auch für Jugendliche zu?

Das kommt auf den einzelnen Fall an. Es steht ja in unserer Impfempfehlung, dass die Jugendlichen eine individuelle Risiko-Nutzen-Analyse machen sollen und dabei der Nutzen die Risiken im individuellen Fall überwiegen soll. Wir betonen das sehr: Es handelt sich um eine Empfehlung, aber absolut ohne Druck.

Christoph Berger ist Facharzt FMH für Pädiatrie und Infektiologie und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen EKIF. Der 59-Jährige leitet die Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Universitäts-Kinderspital Zürich. Berger ist verheiratet, Vater eines Sohnes, 20, und einer Tochter, 14. (Bild: Universitäts-Kinderspital Zürich)
Christoph Berger ist Facharzt FMH für Pädiatrie und Infektiologie und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen EKIF. Der 59-Jährige leitet die Abteilung Infektiologie und Spitalhygiene am Universitäts-Kinderspital Zürich. Berger ist verheiratet, Vater eines Sohnes, 20, und einer Tochter, 14. (Bild: Universitäts-Kinderspital Zürich)

Ist womöglich die unklare Impfempfehlung der Eidgenössischen Kommission für Impffragen EKIF auch ein Grund für das Zögern der Jugendlichen: Der «Tages-Anzeiger» schrieb dazu: «Die EKIF empfiehlt allen Jugendlichen die Corona-Impfung.» Und die NZZ: «Keine generelle Impfempfehlung für Jugendliche». Was stimmt nun?

In Deutschland macht die Impfkommission zum Beispiel für Jugendliche keine generelle Impfempfehlung, sondern empfiehlt diese nur jenen mit Vorerkrankungen und solchen, die mit immungeschwächten Personen zusammenleben. In der Schweiz sagen wir: Die Impfung wird allen 12- bis 15-Jährigen empfohlen, die sich jetzt impfen lassen wollen, und speziell jenen, die zu den eben genannten beiden Gruppen gehören. Die Impfung wird empfohlen erstens zum direkten Schutz. Und zweitens, um auch die Auswirkungen von Infektionen zu verhindern, nämlich Isolation und Quarantäne. Das ist eine generelle Empfehlung mit allen Konsequenzen.

Warum haben Sie diese nicht stärker formuliert?

Wir haben die Empfehlung so formuliert, weil einerseits das Verhältnis von Nutzen und Risiken dieser Impfung bei Jugendlichen wirklich geringer ist als bei Älteren – nicht weil die Risiken grösser sind, sondern weil der Nutzen geringer ist. Und weil wir andererseits noch nicht sehr viele Daten aus dieser Gruppe zur Sicherheit haben. Jetzt werden ja in vielen Ländern Jugendliche geimpft, und daraus werden wir die Risiken der Impfung bald präzisieren können.

Apropos Daten zur Sicherheit: Die Weltgesundheitsorganisation WHO sagt, es brauche noch mehr wissenschaftliche Erkenntnisse, bevor generelle Impfempfehlungen für Kinder gemacht werden könnten. Warum kommen Sie zu einem anderen Schluss?

Unsere Empfehlung deckt sich mit der Einschätzung der WHO. Es ist ganz klar zu früh, die Impfung Kindern jünger als 12 Jahre zu empfehlen, nicht aber für Jugendliche ab 12 Jahren.

Für die Erwachsenen macht die Impfkommission die Risiko-Nutzen-Abwägung als Basis für ihre Impfempfehlung. Warum sollen ausgerechnet Jugendliche diese anspruchsvolle Analyse selber durchführen?

Sie sollen diese Abwägung zusammen mit ihren Eltern oder einer Vertrauensperson machen. Aber sie können das auch selber tun. Unabhängig vom Alter sollte jede Person diese Abwägung machen.

Zur Einschätzung des gesundheitlichen Nutzens ist ein Vergleich mit der saisonalen Grippe vielleicht hilfreich: Ihr Kollege Thomas Mertens, Vorsitzender der Ständigen Impfkommission (STIKO) in Deutschland, hat in einem Interview mit der «TAZ» gesagt, dass die Krankheitslast aufgrund von Influenza-Infektionen unter Jugendlichen in jedem Jahr höher gewesen sei als während der Corona-Pandemie. Wie schätzen Sie diesen Vergleich ein?

Schwer zu sagen, da wir diese Zahlen nicht verglichen haben. Fangen wir an mit Covid-19: Da haben wir bei den 12- bis 15-Jährigen viele Infektionen, wenige schwere Infektionen und schweizweit vielleicht 20 bis 25 Fälle von PIMS (ein in Verbindung mit einer Covid-19-Infektion aufgetretenes neuartiges Krankheitsbild bei Minderjährigen, Anm. d. Red.). Dann die Grippe: Die Krankheitslast ist wahrscheinlich etwa vergleichbar oder geringer. Ein wesentlicher Unterschied: Bei Covid-19 haben wir einen deutlich besseren Schutz durch den Impfstoff als bei der Grippe-Impfung. Die Reaktionen des Körpers auf die Impfung sind bei der Impfung gegen Covid stärker, und bei den Nebenwirkungen, da schauen wir noch ganz genau hin. Diese Reaktionen wie Fieber und Kopfschmerzen sind nicht gefährlich, können aber sehr unangenehm sein, besonders nach der zweiten Impfung. Das gibt es viel weniger bei der Grippeimpfung.

Wenn das Grippevirus für Jugendliche in etwa gleich gefährlich ist wie das neue Coronavirus, warum empfehlen Sie dann die Covid-19-Impfung für Minderjährige und die Grippeimpfung erst ab 65 Jahren?

Es kommen bei Corona eben noch die indirekten Effekte hinzu. Die Jugendlichen leiden sehr an der Pandemie, nicht am Virus – das richtet bei ihnen gar nicht so viel Schaden an –, sondern an den Massnahmen, die man unter der Bevölkerung trifft. Es gibt eine extreme Zunahme von depressiven Verstimmungen bei Jugendlichen aufgrund von Schulabsenzen, oder abgesagten Prüfungen und Berufspraktika, aufgrund des untersagten sozialen Austauschs. Kinderpsychologen sind hoffnungslos ausgelastet. Dieser Effekt ist schwierig zu gewichten. Aber diese Jugendlichen haben sich jetzt über ein Jahr lang für die Erwachsenen und die Alten geschützt und sie wollen da raus. Jetzt können sie sich impfen, und diejenigen, die das wollen, sollen das jetzt machen.

Aber Sie sagten doch, es geht bei den Jugendlichen nicht um das Erreichen einer bestimmten Impfquote.

Nicht speziell bei den Jugendlichen. Da machen wir keinen Druck. Und wir setzen auch bei den Erwachsenen kein Durchimpfungsziel. Aber je mehr es sind, desto besser geht es uns als Bevölkerung. Und für Jugendliche ist es ganz wichtig festzuhalten: Unter 16-Jährige brauchen keinen Impfnachweis, um eine Veranstaltung besuchen zu dürfen.

Die Jugendlichen sollen selbst eine Nutzen-Risiko-Abwägung machen. Planen Sie denn noch eine spezielle Informationskampagne?

Wir haben entschieden, dass wir zum jetzigen Zeitpunkt keine grosse Kampagne machen, sondern einfach jene zur Impfung gehen lassen, die sich selbst informieren. Es gibt aber einen speziellen Informationsflyer des BAG für Jugendliche.

Auf diesem Flyer wie auch auf dem Factsheet fürs Gesundheitspersonal steht, die Impfung sei für Erwachsene empfohlen und für Jugendliche möglich. Was bedeutet diese Unterscheidung?

Wir sagen ganz klar: Die Impfung ist für Jugendliche empfohlen. Das hat den Charakter einer offiziellen nationalen Impfempfehlung mit allen Konsequenzen. Über die genaue Formulierung hatten wir eine gute Diskussion in der Kommission: Warum sind wir mit unserer Empfehlung etwas stärker als die Deutschen und wo sind wir stärker? Und was auf dem Flyer für die Jugendlichen steht, widerspiegelt das genau. «Jetzt kannst auch du dich impfen lassen»: Diejenigen, die sich informieren und sich jetzt schon impfen lassen wollen, sollen das tun. Aber wir üben keinerlei Druck aus!

Bisher konnten Kinderärzte ganz einfach auf den Schweizerischen Impfplan schauen und ihren Patientinnen und Patienten sagen, ob eine Impfung für sie empfohlen ist. Wie sollen sie nun so eine «Empfehlung ohne Druck» in der Praxis handhaben?

Im Newsletter von Pädiatrie Schweiz haben wir den Kinderärztinnen und -ärzten ganz klar gesagt, wie sie sich verhalten sollen: Empfehlt die Impfung den chronisch Kranken und jenen, die mit Immungeschwächten zusammenleben. Die übrigen Jugendlichen wollen wir unterstützen, wenn sie die Impfung von sich aus wollen und informieren, wenn sie Fragen haben. Aber die Covid-19-Impfung wird nicht aktiv angesprochen – im Gegensatz zu den im Schweizerischen Impfplan empfohlenen Impfungen.

Die deutsche STIKO nimmt Jugendliche von ihrer Impfempfehlung aus, wenn die Risikopersonen, mit denen sie Kontakt haben, geimpft sind.

Wir sprechen hier vom Kontakt mit immungeschwächten Risikopersonen. Denn es gibt Risikopersonen, die auch mit der Impfung nicht unbedingt geschützt sind, weil sie vielleicht gar keine grosse Immunreaktion entwickeln. Und wenn Sie die Delta-Variante anschauen, haben wir einfach keine Garantie, das der Schutz durch die Impfung genügt.

Sie würden meiner 13-jährigen Tochter, die regelmässig ihre geimpfte Oma trifft, die Impfung also trotzdem besonders empfehlen.

Generell ja, besonders nein. Oder eben nur, wenn die Grossmutter immungeschwächt ist, weil sie zum Beispiel aufgrund von Rheuma eine immunsuppressive Therapie hat. Oder wenn der Onkel eine Nierentransplantation hatte oder krebskrank ist.

Wenn wir vom Ansteckungsrisiko sprechen: Die Impfung schützt nach aktuellem Wissensstand mindestens 12 Monate lang vor einer Corona-Erkrankung. Wie sieht es mit dem sogenannten Fremdschutz aus? Wie lange stellt eine geimpfte Person kein Ansteckungsrisiko für andere dar?

Wir wissen es nicht. Das Ziel der nationalen Strategie ist immer der Schutz vor schweren Infektionen. Von mir aus ist es auch gut, sich vor leichten Infektionen zu schützen. Aber das jemand das Virus hat und es weitergibt, können wir langfristig auch bei Geimpfen nicht verhindern. Daher ist das nicht unser Ziel. Und deshalb sagen wir, wir wollen die besonders gefährdeten Personen schützen, indem wir sie impfen und dafür sorgen, dass sie dem Virus möglichst wenig ausgesetzt sind. Und wir haben viel weniger Viren in der Bevölkerung, wenn es viele Geimpfte gibt.

Die Impfempfehlungen Ihrer Kommission entfalten ja auch rechtliche Wirkungen. Wenn sich zum Beispiel die Eltern eines noch nicht urteilsfähigen Kindes uneinig sind, ob dieses eine Impfung erhalten soll oder nicht, wird aufgrund der behördlichen Empfehlung entschieden. Wenn ich unser Kind gegen Covid-19 impfen will, meine Frau aber nicht, dann wird es als Folge Ihrer Empfehlung also geimpft.

Ja, das ist gleich geregelt wie bei anderen Impfungen. Meistens sind sich die Eltern und das Kind zum Glück einig. Ich sehe viele Jugendliche, die zusammen mit einem Elternteil zur Impfung kommen. Es gibt einige, die erscheinen mit einem Zettel, auf dem die Eltern ihre Zustimmung mit einer Unterschrift geben, dann ist es sowieso kein Problem, dann haben sie es ja mit ihren Eltern besprochen. Und dann gibt es noch jene, die alleine kommen und sagen: Ich will das. Dann müssen wir die Urteilsfähigkeit des Kindes feststellen.

Wie funktioniert das konkret?

Also erstens haben sie sich ja schon mal für einen Termin angemeldet, was sie auch nicht tun würden, wenn sie das nicht wollten. Bei uns im Kinderspital Zürich fragen wir dann: Hast du das denn mit deinen Eltern oder einer Vertrauensperson besprochen? Und zu welchem Ergebnis seid ihr in dem Gespräch gekommen? Dann fragen wir noch: Bist du allein gekommen oder hat dich jemand hergebracht? Denn wir wollen niemanden impfen, der bei uns unter der Bedingung vor die Türe gestellt wird: Du kommst erst wieder raus, wenn du geimpft bist. Und wir fragen: Weisst du, worum es bei dieser Impfung geht? Weisst du, wie viele Dosen es braucht? Und kennst du die Nebenwirkungen? Was ist für dich der Grund, warum du diese Impfung willst? Wenn ein Jugendlicher all diese Tatbeweise erbringt und im Gespräch darlegt, dass er sich impfen lassen will, dann ist die Urteilsfähigkeit gegeben.

Im Epidemiegesetz ist auch eine staatliche Haftung für allfällige Impfschäden vorgesehen. Diese ist aber gebunden an eine behördliche Empfehlung der Impfung. Hat ein Jugendlicher, der sich nun aufgrund Ihrer Empfehlung impfen lässt, im Falle später auftretender Schäden Anspruch auf diese Haftung?

Ja. Genau darum sagen wir ausdrücklich: empfohlen.


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