Warum sind Mütter heute so erschöpft?
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Warum sind Mütter heute so erschöpft?

Lesedauer: 8 Minuten

Das heutige Mutterbild treibt Frauen in die Erschöpfung, sagt die österreichische Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve. Schuld sei das vermeintliche Ideal der Kleinfamilie.

Interview: Claudia Landolt
Bilder: Martin Mischkulnig / 13 Photo

Frau Tazi-Preve, warum sind Mütter oft müde?

Sie sind müde vom Dauerspagat zwischen Job und Familie, Haushalt und den vielen Tausend anderen Dingen, um die sie sich kümmern. Doch das ist nicht ihre Schuld.

Wessen Schuld ist es dann?

Die Schuld trägt unser Lebensmodell, die Kleinfamilie. Sie ist der Quell unseres Unglücks.

Können Sie das erklären?

Die Kleinfamilie ist falsch aufgesetzt. Familie ist ein weiterer Begriff, er umfasst Geschwister, Onkel, Tanten. Doch in der Politik, den Medien, der Gesellschaft ist stets von der Kleinfamilie die Rede.

Was ist daran falsch?

Die Kleinfamilie ist ein winzig kleines, sehr fragiles Konstrukt, das sich permanent emotional selbst aufladen muss. In diese isolierte Einheit, die die Politik gern die kleinste Zelle des Staates nennt, sperrt man zwei Dinge zusammen und behauptet, das müsse so sein.

Welche beiden Dinge?

Erstens die lebenslange romantische Beziehung und zweitens das sichere Aufziehen von Kindern. Nun gibt es die lebenslange romantische Zweierbeziehung nur in Ausnahmefällen. Suggeriert wird aber, sie sei die Normalität.

Mariam Irene Tazi-Preve  ist Professorin an der University of New Orleans. Sie war an den Universitäten Wien und Innsbruck wissenschaftlich tätig und ist Zivilisationstheoretikerin. Die gebürtige Österreicherin hat  zahlreiche Werke (wie etwa «Die Vereinbarkeitslüge») zu den Schwerpunkten Geschlechterfragen, Mutter- und Vaterschaft sowie Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik publiziert. Im April 2017 ist ihr Buch «Vom Versagen der Kleinfamilie.  Kapitalismus, Liebe und der Staat» erschienen. Sie ist Mutter eines erwachsenen Sohnes.
Mariam Irene Tazi-Preve ist Professorin an der University of New Orleans. Sie war an den Universitäten Wien und Innsbruck wissenschaftlich tätig und ist Zivilisationstheoretikerin. Die gebürtige Österreicherin hat zahlreiche Werke (wie etwa «Die Vereinbarkeitslüge») zu den Schwerpunkten Geschlechterfragen, Mutter- und Vaterschaft sowie Bevölkerungs- und Gesundheitspolitik publiziert. Im April 2017 ist ihr Buch «Das Versagen der Kleinfamilie. Kapitalismus, Liebe und der Staat» erschienen. Mariam Irene Tazi-Preve ist Mutter eines erwachsenen Sohnes.

Die ewige Liebe existiert nicht?

Nein. Die Statistik zeigt es ja. Die Hälfte aller Ehen wird geschieden. Die Paare, die im Konkubinat leben und sich trennen, werden statistisch gar nicht erfasst. Trennungen und Scheidungen aber werden noch immer moralisch sanktioniert. Die Politik spricht von einem Verfall der Werte. Oder man beschuldigt die Frau, die sich anmasst, arbeiten zu gehen.

Trotzdem sehnen wir uns alle nach romantischer Zweisamkeit.

Das muss uns nicht verwundern. Uns wird ununterbrochen suggeriert, dass die romantische, legitimierte Liebe, die ein Leben lang hält, die anzustrebende Norm sei. Und dass jene, die daran scheiterten, selber schuld seien. Die Ironie dabei ist: Die romantische Idee von der Ehe ist historisch erst spät aufgekommen.

Schon die Römer, die das juristische Fundament für die Ehe- und Familiengesetze legten, haben sich überhaupt keine Illusionen darüber gemacht, was sie für die Menschen bedeutet. Sie haben offen gesagt, dass die Ehe eine «Quelle des Verdrusses» für die Beteiligten sei, aber dass sie «Bürgerpflicht» sei und man sie für das Funktionieren von Politik und Gesellschaft eben brauche. Damit wird klar, dass das Wohl zweier Menschen nie im Vordergrund gestanden hat, wenn es um Heirat ging. Trotzdem sind wir der Idee bis heute verfallen.

Die Menschen suchen etwas, das es nicht gibt, und verzweifeln an der Realität.

Romantische Liebe ist eine Illusion? 

Ja. Dabei sollten wir erkennen, dass sie die Ausnahme ist. Das Perfide daran ist, dass man es heute als Norm darstellt. Das finde ich den jungen Menschen gegenüber besonders problematisch.

Warum?

Weil man ihnen eintrichtert, dass ihr Lebensglück mit einem anderen Menschen verknüpft ist. Wir glauben, dass es irgendwo da draussen einen Menschen gibt, der perfekt zu uns passt. Mit dem es keinen Streit, keine Konflikte gibt. In den USA sagt man: «It wasn’t the right one.» Das heisst, man stellt den Menschen in Frage, nicht das Ideal, dem man aufsitzt. Die Menschen suchen etwas, das es nicht gibt, und verzweifeln an der Realität.

Nun gibt es wenig Alternativen zur Ehe oder Lebensgemeinschaft.

Die Partnerschaft wird häufig als Ersatz für fehlende emotionale Zuwendung durch die Herkunfts­familie gelebt. Das heisst, dass der Mangel an lebbaren Alternativen zum Glauben an die Paarbildung als einzige Glücksverheissung führt.

Und die Kleinfamilie gilt als unumstössliches Idyll.

Ja, und darunter leiden Männer wie Frauen. Und hier kommen wir zur zweiten Problematik, die ich angesprochen habe, nämlich der, dass Kinder in der Familie über 10 bis 20 Jahre lang sicher aufwachsen sollen. Das kann aber gar nicht gelingen, weil zwei Personen einfach nicht genug dafür sind. Im Grunde sind alle Beteiligten überfordert.

Die Zivilisationstheoretikerin und Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve im Gesprach mit Fritz+Fränzi-Autorin Claudia Landolt. Das Treffen fand im legendären Café Sacher in Insbruck statt, der Heimat von Tazi-Preve.
Die Zivilisationstheoretikerin und Politikwissenschaftlerin Mariam Irene Tazi-Preve im Gesprach mit Fritz+Fränzi-Autorin Claudia Landolt im legendären Café Sacher in Innsbruck, der Heimat von Tazi-Preve.

Sie haben die Vereinbarkeitsdebatte geprägt. Was verstehen Sie darunter?

Wunsch und Wirklichkeit liegen so weit voneinander entfernt. Hier sollen zwei per se divergierende soziale Systeme – das des Arbeitsmarkts und das der Familie – klaglos miteinander vereinbart werden.

Wie ist das zu verstehen?

Der kontinuierlichen Fürsorge, emotionalen Zuwendung und Betreuung von Familienangehörigen, also dem Familienbereich, steht eine auf Flexibilität, Leistung und Effizienz abgestimmte Arbeitswelt gegenüber.

Wie kamen Sie auf das Thema der Mütter in Ihrer Forschung?

Dazu zu forschen begann ich, als ich feststellte, dass der Leidensdruck der Mütter enorm ist. Das habe ich über die Jahre auch bei den Reaktionen auf meine Vorträge bestätigt bekommen. Irgendwann habe ich begriffen, dass das Leiden strukturell bedingt ist. Dem wollte ich nachgehen und den Müttern ihr schlechtes Gewissen nehmen.

Die Schuldgefühle von Müttern sind systembedingt?

Ich lebe in den USA, und hier gibt es mittlerweile den Ausdruck der «mummy wars». Er beschreibt die Konkurrenz zwischen Frauen um die noch bessere Mutterschaft. Man muss das Kind heute von klein auf fördern, in alle möglichen Kurse schicken. Das ist die neue, moderne Form des Drucks auf Mütter. Der Ruf, eine schlechte Mutter zu sein, war immer schon eine sehr wirksame Sanktionsandrohung. Keine Frau will eine schlechte Mutter sein – das hat auch der Feminismus nicht geändert. Und die Frau wird alles tun, um dieser Drohung zu entgehen.

Mutterschaft und Existenzsicherung schliessen einander aus.

Das Pendant des schlechten Vaters gibt es nicht?

Zumindest nicht in dieser Form. Die Mütter sind immer schuld. Sie werden als Schuldige identifiziert, wenn sie durch Überforderung bei der Erziehung ihrer Kinder – in mancher Hinsicht – versagen, zum Beispiel bei Essstörungen oder Schulproblemen. Väter können etwa als Manager am Ende ihrer Karriere immer noch sagen: Ich habe meine Kinder wegen des Berufs kaum gesehen. Man stelle sich vor, eine Frau sage, sie habe sich leider nicht um ihre Kinder kümmern können.

Trotzdem wird Frauen heute suggeriert, sie könnten alles haben. Mütter müssen sexy, erfolgreich und immer für die Kinder da sein. Das hat eine totale Erschöpfung zur Folge. Ich nenne das die «Vereinbarkeitslüge». Ob als Hausfrau, Teilzeit- oder Vollzeitberufstätige, immer stolpert sie in die «Mutterfalle», weil Mutterschaft und Existenzsicherung einander ausschliessen. Und auch, weil Männer immer noch weit mehr verdienen. Mütter bleiben als Hausfrauen ab­­hängig, als Teilzeitberufstätige sind sie auf weitere Einkommen durch den Staat oder den Ehemann angewiesen und als Vollzeitberufstätige dauererschöpft.

Manche leben sich im Mutterdasein aus.

Viele Frauen definieren sich tatsächlich über Mutterschaft, weil sie sowieso kaum in die obersten Etagen kommen. Das liegt aber auch daran, dass sie ihr Leben um die Kinder herum planen. Das ist eine Wechselwirkung. Karriere bedeutet oft, allzeit verfügbar zu sein, und das wollen Frauen selten. Deshalb komme ich beim Thema Familie immer wieder auf den Arbeitsmarkt zu sprechen. Dort müssen sich die Regeln ändern. Denn auch die Männer geraten unter die Räder des Patriarchats.

Am Leben ihrer Kinder sehr beteiligte Väter berichten, dass sie sich aktiv gegen die Forderung nach ständiger Verfügbarkeit im Job stellen müssen. Sie müssen bewusst die Karriere hinten anstellen und zum Beispiel klar sagen, dass sie nach vier Uhr nicht an Sitzungen teilnehmen können, weil ihr Kind aus der Schule kommt. Diese bewussten Väter sind noch immer in der Minderheit.

Wie ginge es denn besser?

Wichtig ist, dass man ein stabiles Netz hat, auf das man sich stützen kann. Kinder und Mütter vom Rest der Gesellschaft zu isolieren, ist für beide gesundheitsschädlich. Wir wissen auch, dass manche Frauen und Männer als Mütter und Väter nicht oder nur wenig geeignet sind, oder sie können zeitweise ausfallen. Es gibt aber häufig keine oder nur sehr wenige andere Ansprechpartner für Kinder. Dazu kommt, dass die Familie nach wie vor der grösste Gewaltschauplatz gegen Frauen und Kinder ist – auch entgegen allen Mythen, in denen die Familie als Sehnsuchtsort dargestellt wird.

Die in Insbruck geborene Mariam Irene Tazi-Preve ist Professorin in den USA.
Die in Innsbruck geborene Mariam Irene Tazi-Preve ist Professorin in den USA.

Wie können Mütter entlastet werden?

Sie müssen zuallererst aufhören, ein schlechtes Gewissen zu haben, und verstehen, dass das «Mutterelend» gesellschaftliche und historische Gründe hat. Zweitens müssen sie aufhören zu glauben, dass die Kleinfamilie der ideale Ort sei, um Kinder aufzuziehen. Drittens sollten Frauen beginnen, Familie als matrilinear (lateinisch: in der Linie der Mutter) zu verstehen. Familie so verstanden bedeutet Verwandtschaft über die Mutter, nicht über Heirat oder einen teilweise oder oft abwesenden Vater. Denn mit Männern ist aufgrund ihres Eingebundenseins in das herrschende System, das die Berufstätigkeit vor die Bedürfnisse der Familie reiht, kaum zu rechnen. Auch gibt es immer wieder Ansätze für andere Wohn- und Lebensformen, in denen man sich gewisse Bereiche teilt, die Kinderbetreuung, Mahlzeitenzubereitung, Haushalt.

Und viertens?

Viertens braucht es generell eine Kultur des Teilens von Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung und Familien­management, da wir sonst nicht weiterkommen. Und fünftens müssen wir uns vom Irrglauben verabschieden, dass Arbeit frei und glücklich macht.

Beruf und Familie sind zusammen eine unzumutbare Belastung, die Mütter, Väter und Kinder überfordert.

Wirtschaftsvertreter setzen sich für Frauenförderung ein.

Das Interesse an der weiblichen oder mütterlichen Arbeitskraft hat nichts mit Gleichstellung zu tun. Auch steht nicht das Wohl der Kinder im Vordergrund. Im gegenwärtigen neo­liberalen Wirtschafts- und Politiksystem geht es einzig darum, den Profit des Unternehmens oder das Wirtschaftswachstum des Landes zu vergrössern. Es will, dass die «Menschenproduktion», also die Bereitstellung von Arbeitskräften und Konsumentinnen und Konsumenten, klaglos funktioniert.

Sie sprechen davon, dass es das «Private» nicht gibt.

Ja. Innerhalb des Systems geht es immer um Macht, Geld oder Moral. Das widerspricht allen Bedürfnissen nach Empathie und Sicherheit in einem Familienleben. Die meisten Menschen sind auf Arbeit zur Existenzsicherung angewiesen. Beruf und Familie sind zusammen aber eine unzumutbare Belastung, die Mütter, Väter und Kinder überfordert.

Analysen zu Vereinbarkeitsfragen zeigen diese Überforderung und das Leiden am System, was sich in Krankheitssymptomen wie Stress, Burnout und Depressionen äussert. Deshalb sollten Frauen aufhören, an das Märchen von Karriere und einfacher Vereinbarkeit zu glauben. Die Karrierefrau mit Kindern, die das mühelos schafft, ist eine Erfindung der Medien und der Wirtschaft.

Sie selbst haben erfahren, was es heisst, in patriarchalen Strukturen aufzuwachsen.

Meine Mutter wurde sehr jung mit mir schwanger, von einem älteren Mann anderer Nationalität, dem das Studium wichtiger war und der ein Jahr nach meiner Geburt das Land verliess. Damals war die Sozialfürsorge berüchtigt dafür, minderjährigen Müttern ihre Kinder wegzunehmen. Meine Mutter musste sich daher dem Willen meiner Gross­eltern unterwerfen, wo wir beide wohnten. Sie bekam nie das Sorgerecht, das blieb beim Jugendamt, und sie erhielt auch keinerlei finanzielle Unterstützung. Auch ihre Schulbildung konnte sie nicht abschliessen. Sie heiratete später, war damit nach aussen hin rehabilitiert, machte Abitur und holte ihr Studium nach. Die Geschichte meines Familiennamens, die ich in meinem Buch schildere, zeigt die patriarchale Verfasstheit von Rechtsprechung und staatlicher Bürokratie, die letztlich unsere gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse widerspiegelt.

Mariam Irene Tazi-Preve erklärt

Mütter: Frauen werden in unserem gesellschaftspolitischen System gezwungen, sich zwischen dem Verzicht auf Kinder, dem Verzicht auf Berufstätigkeit und der Dreifachbelastung bei propagierter Vereinbarkeit zu entscheiden.

Väter: Männern wird suggeriert, die Gewinner zu sein, sie sind aber ebenso in die Vorgaben des Systems eingespannt. Ihnen wird somit verunmöglicht, den Preis zu erkennen, den sie für ihr persönliches Leben zahlen müssen.

Kinder: Um das System aufrechtzuerhalten, erfolgt eine dementsprechende Sozialisation der Kinder. Ihnen wird somit die Möglichkeit genommen, als nächste Generation das System grundsätzlich in Frage zu stellen und zu verändern. Voraussetzung für die  Erwerbspartizipation der Eltern ist das klaglose «Funktionieren» der Kinder.

Claudia Landolt
ist Journalistin und Autorin, diplomierte Yogalehrerin und Mutter von vier Söhnen. Sie lebt im Kanton Aargau.

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