Wenn die Schulbank drückt - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn die Schulbank drückt

Lesedauer: 10 Minuten

Jeden Morgen Bauchschmerzen, Kopfweh, Übelkeit – Kinder mit Schulangst leiden. Die gute Nachricht: Werden die Alarmsignale rechtzeitig erkannt und richtig gedeutet, ist in drei von vier Fällen schnelle Besserung möglich.  

Als ihn der Lehrer vor der ganzen Klasse einen Hohlkopf schimpfte, hatte Thomas endgültig die Nase voll. Der Achtjährige rannte aus dem Unterricht schnurstracks zur Mutter nach Hause und schwor, nicht in die Schule zurückzukehren. Und so kam es. Er besuchte nie wieder eine der üblichen Bildungseinrichtungen – weder die Dorfschule noch ein Gymnasium oder gar eine Universität – und wurde dennoch einer der genialsten Erfinder aller Zeiten: Thomas Alva Edison (1847–1931).
Viele Kinder wären froh, wenn sich ihre Mütter ein Beispiel an Frau Edison nähmen und ihre Schulverweigerung einfach akzeptierten. Einen Gefallen täten die Eltern ihnen mit einer Ausschulung jedoch nicht. Einmal abgesehen davon, dass Heimunterricht in Deutschland und in manchen Schweizer Kantonen gar nicht erlaubt ist, bleibt eine Karriere vom Tellerwäscher zum Mil­lionär à la Edison ein Wunschtraum – auch in Ländern wie den USA oder Österreich, wo nur Unterrichts- statt Schulpflicht besteht. In der Schweiz kann nicht jeder, der will, seine Kinder zu Hause unterrichten. Jeder Kanton hat variierende Auflagen. Im Kanton Zürich muss man ausgebildeter Lehrer sein, im Tessin ist es wiederum gar nicht erlaubt. In Bern, dem Aargau, der Waadt oder Appenzell Ausserrhoden dürfen auch Eltern ohne Lehrdiplom unterrichten.

Geschätzte fünf bis zehn Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland leiden unter allgemeiner Schulangst. Das entspricht 600.000 bis 1,2 Millionen Schülern. In der Schweiz will gemäss einer Studie aus dem Jahr 2009 jedes zehnte Kind nicht in die Schule, weil es sich vor Leistungsdruck und Mobbing fürchtet – Tendenz steigend. Insgesamt sind mehr Jungen als Mädchen betroffen. Unter den Kindern, die vom Kindergarten in die Primarschule und später auf weiterführende Schulen wechseln tritt das Phänomen besonders häufig auf. Nicht alle stecken einen neuen Lebensabschnitt mit neuen Herausforderungen leicht weg.

Auch überdurchschnittlich intelligente Kinder leiden unter Schulangst.

Zahlreiche Studien zur Jugendgesundheit aus den letzten Jahren stimmen darin überein, dass Eltern über die Beschwerden und Probleme ihrer Kinder nur teilweise Bescheid wissen. Um zu verstehen, warum ein Kind nicht zur Schule gehen will, muss zunächst geklärt werden, wovor es sich genau fürchtet. Psychologen unterscheiden grundsätzlich zwischen Schulangst, bei der die Schule selbst Auslöser des Vermeidungsverhaltens ist, und Schulphobie. In letzterem Fall spielt die Schule selbst nur eine untergeordnete Rolle. Das betroffene Kind fürchtet vielmehr den Abschied von seiner wichtigsten Bezugsperson. Zwei Drittel der Kinder, die unter Trennungsangst leiden, weigern sich hartnäckig, in die Schule zu gehen. Lernblockaden, Disziplinprobleme oder Unkonzentriertheit spielen anders als im Fall von Schulangst oder beim Schwänzen meist keine Rolle. In der Praxis finden sich häufig Mischformen. 

Eine Schulphobie hält betroffene Kinder nicht davon ab, Hausaufgaben zu machen, Arbeiten vorzubereiten und am Abend den Ranzen zu packen. Oftmals kehren sie aber schon auf dem Weg zur Schule um, weil sie die Trennung von ihrer primären Bezugsperson als bedrohlich empfinden. Sie entwickeln mitunter auch psychosomatische Beschwerden wie Übelkeit, Kopfschmerzen oder Durchfall. Sobald sie dann wieder bei Mama oder Papa sind, klingen die Symptome ab.

Zu viel Fürsorge kann schaden

Kinder und Jugendliche mit Trennungsangst sind eher empfindsam und ängstlich. Sie fürchten sich vor Krankheit oder Tod und leiden nicht selten an Albträumen, in denen sie alleingelassen werden. Im Umgang mit anderen Kindern wirken sie schüchtern und introvertiert. Gleichzeitig können sie gegenüber ihren Eltern ausgesprochen fordernd bis aggressiv auftreten.

Panische Trennungsangst ist häufig eine Folge problematischer Fami­­lienkonstellationen oder traumatischer Verluste beispielsweise durch Scheidung der Eltern. Aber auch eine zu enge Bindung an die Bezugsperson kann verhindern, dass ein Kind emotional selbständig wird. Viele Kinder mit Schulphobie wurden in den ersten Lebensjahren schlicht zu sehr beschützt. In mehr als 80 Prozent der Fälle handelt es sich um Einzelkinder oder Erstgeborene, das ergab eine Studie der Universität Köln von 2004. Nicht selten leidet ursprünglich die Mutter unter Trennungsangst, die sie dann auf Sohn oder Tochter überträgt. Anderen Kindern wurde sehr früh viel Verantwortung in der Familie zugemutet, sodass sie sich Sorgen um kranke oder belastete Eltern machen.

Um eine aufkeimende Schulphobie in den Griff zu kriegen, sollte das Kind so schnell wie möglich wieder regelmässig zur Schule gehen. Dabei lernt es: Mama passiert nichts, wenn ich nicht da bin – und mir auch nicht. Eltern müssen verstehen, dass sie ihrem Nachwuchs langfristig einen Gefallen tun, wenn sie ihn trotz Unwohlsein in die Schule schicken. Ihre erhöhte Ängstlichkeit erschwert es den Kindern hingegen, die eigene Furcht zu überwinden.

Weil die Angst im Kontext Schule stattfindet, muss sie auch dort wieder verlernt werden. Bild: Cultura Creative /Alamy Stock Photo
Weil die Angst im Kontext Schule stattfindet, muss sie auch dort wieder verlernt werden. Bild: Cultura Creative /Alamy Stock Photo
Verschiedene Langzeitstudien aus den letzten Jahren, etwa die 2003 veröffentlichte Untersuchung von Hellen Egger von der Duke University in Durham im US-Bundesstaat North Carolina, haben gezeigt, dass eine frühzeitige Behandlung nicht nur wichtig ist, damit das Kind die Chance auf einen guten Schulabschluss hat. Es geht um mehr: Wer akute Trennungsängste im Kindes- und Jugendalter nicht bewältigt, trägt ein dreifach erhöhtes Risiko, als Erwachsener eine andere psychische Erkrankung zu entwickeln, zum Beispiel eine Panikstörung oder eine Depression.

Damit es aber gar nicht erst so weit kommt, sollten Eltern in puncto Schulbesuch von Anfang an konsequent sein – auch wenn es schwerfällt. Ein sehr anhängliches Kind sollte lieber von Freunden in die Schule begleitet werden als von Mutter oder Vater. Klagt es nur morgens über Bauch- oder Kopfschmerzen, darf die Schule nicht einfach ausfallen.

Was können Eltern von Kindern mit Schulangst tun? Vor allem konsequent bleiben.

Nach dem Unterricht sollten die Eltern das Thema noch einmal in Ruhe zu Hause ansprechen, damit der Schüler oder die Schülerin lernt, dass die Schmerzen eigentlich grundlos waren. Selbst wenn es morgens Probleme gab, verdient das Kind Anerkennung, wenn es den Schultag bewältigt hat! Vor allem jedoch gilt es, sein starkes Bedürfnis nach Nähe und Sicherheit ernst zu nehmen und zu prüfen, ob es auch in anderen Lebensbereichen noch unselbständig ist. Gegebenenfalls kann es ratsam sein, einen Vertrauenslehrer oder Schulpsychologen einzuschalten.

Doch was tun, wenn ein Kind partout nicht zum Schulbesuch zu bewegen ist? Eine fortgeschrittene Schulphobie lässt sich nur durch eine individuelle Psychotherapie heilen, meist in Kombination mit einer Familientherapie. In sehr seltenen Fällen kann auch eine medikamentöse Behandlung notwendig werden – etwa dann, wenn ein Jugendlicher nicht nur an der Trennung von seiner Bezugsperson leidet, sondern zugleich an einer massiven Depression. Antidepressiva, die sich auf den Serotoninstoffwechsel auswirken, haben sich hier als wirksam erwiesen. Serotonin ist ein Botenstoff des Gehirns, der massgeblich die Stimmung beeinflusst. Für jüngere Kinder eignen sich diese Medikamente in den allermeisten Fällen allerdings nicht.

Bessert sich die Situation trotz ambulanter Behandlung nicht, kann in seltenen Fällen eine stationäre Behandlung in Betracht gezogen werden. Sie erlaubt es, das Krankheitsbild noch umfassender zu analysieren und den Schulbesuch zunächst in einer Krankenhausschule wieder zu erlernen. Verschiedene internationale Studien berichten über gute Prognosen, was die weitere schulische und berufliche Kar­riere der Betroffenen angeht. Nach Hochrechnungen von Wolfgang Oelsner, Leiter der Krankenhausschule der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universitätsklinik Köln, überwinden rund drei Viertel der eingewiesenen Kinder und Jugendlichen ihre Ängste dauerhaft. Am wichtigsten ist jedoch: Je früher das Problem erkannt und behandelt wird, desto besser sind die Heilungschancen.

«Seid nicht zu fleissig!»

Im Unterschied zur Phobie richtet sich die Schulangst ganz konkret auf das, was Erich Kästner (1899–1974) als «Kinderkaserne» bezeichnete. Der Schriftsteller kannte die Furcht vor dem Lehrbetrieb aus eigener Erfahrung. Er habe nie vergessen, schrieb er, wie mulmig ihm zumute war, als er selbst zum ersten Mal in der Schule sass, «in jenem grauen, viel zu gross geratenen Ankersteinbaukasten». Mit diesem Geständnis wollte Kästner frischgebackenen Schulkadetten Mut machen – denn ein gewisses Mass an Angst ist normal: Eins von zwei Kindern empfindet alltägliche Schulsituationen manchmal als bedrohlich. Zum Problem wird Angst erst, wenn Kinder sie nicht mehr kontrollieren können.

«Seid nicht zu fleissig!», rät Kästner den Schulkindern – und trifft den Nagel auf den Kopf: Denn hinter einer Schulangst versteckt sich in den meisten Fällen die Furcht, zu versagen. Schuld sind nicht selten überehrgeizige Eltern, die ihr Kind unbedingt am Gymi sehen wollen.
Der Spass am Unterricht vergeht nicht nur durch Überforderung. Immer mehr Kinder leiden unter Ängsten vor der Schule, obwohl sie überdurchschnittlich intelligent sind. Eine zu strenge Erziehung, der Vergleich mit besseren Geschwistern oder auch Vernachlässigung und Desinteresse der Eltern an schulischen Erfolgen führen dazu, dass ein Kind sich minderwertig fühlt und Selbstvertrauen verliert. Neben den Erwartungen der Eltern und der Wahl des falschen Schultyps können hier verschiedene andere Faktoren zum Tragen kommen: eine längere Krankheit, wenig Lob, aber auch eine unerkannte Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwäche.

Jedes zweite Kind empfindet die Schule gelegentlich als bedrohlich. Akute Schulangst betrifft aber nur etwa 10 Prozent aller Kinder. Bild: iStockphoto
Jedes zweite Kind empfindet die Schule gelegentlich als bedrohlich. Akute Schulangst betrifft aber nur etwa 10 Prozent aller Kinder. Bild: iStockphoto
Manchmal haben Kinder und Jugendliche auch einfach nicht gelernt, sich rechtzeitig und effektiv auf Prüfungen vorzubereiten. Sie erwarten schon im Vorfeld, bei Prüfungen zu versagen, machen sich Sorgen über die Erwartungen der Lehrer und neigen zu extrem pessimistischen Annahmen: «Ich bin nicht gut genug.» – «Die andern können alles besser.» Dabei fürchten sie häufig nicht die eigentliche Prüfungssituation, sondern den drohenden Misserfolg. Die Kinder und Jugendlichen scheinen bedrückt, mutlos und mitunter verzweifelt. Übelkeit oder Durchfall am Tag einer Klassenarbeit, Schlaf- oder Konzentrationsstörungen sowie sozialer Rückzug, Tagträumen und Trödeln sind typische Anzeichen.

Nach einer Untersuchung von Gail A. Bernstein von der Univer­sity of Minnesota leiden knapp 30 Prozent der schulängstlichen Kinder nicht nur unter Leistungsangst, sondern auch unter sozialen Ängsten. Scham, Verlegenheit und die Sorge, sich zu blamieren, beherrschen die Gefühlswelt dieser Jungen und Mädchen. Weil sozial ängstliche Kinder nicht angemessen auf Spott oder körperliche Gewalt reagieren, werden sie überdurchschnittlich oft Opfer von Mobbing durch Klassenkameraden oder auch Lehrer.

Weil die Angst im Kontext der Schule entsteht, muss sie auch dort wieder verlernt werden. Eltern tun ihren verstörten Kindern also nichts Gutes, wenn sie ihnen aus Mitleid eine Entschuldigung schreiben – tatsächlich fehlen die meisten aber mit Zustimmung von Vater oder Mutter. Dadurch unterstützen diese das Vermeidungsverhalten und verstärken den Teufelskreis. Betroffene Eltern brauchen viel Geduld. Am meisten helfen sie ihrem Kind, wenn sie konsequent bleiben, ohne zu schimpfen. Lob und viel Ermutigung sind wie bei der Schulphobie das beste Hausmittel!

«Wenn die Hausaufgaben abgefragt werden, hab ich eh wieder alles falsch.»

Morgendlicher Angst-Monolog im Kopf von betroffenen Kindern

Sowohl bei akuten Lernblockaden und Prüfungsängsten als auch bei sozialen Ängsten ist eine kognitive Verhaltenstherapie ratsam. Diese verfolgt den pragmatischen Ansatz, dem Kind möglichst schnell wieder zu einem geregelten Schulalltag zu verhelfen. Der Therapeut zeigt dem Schüler, wie er unangemessene Verhaltensweisen ablegen kann: Zum Beispiel untersucht er die Häufigkeit und Intensität der Symptome und die Umstände, unter denen sie auftreten. Er identifiziert, welche körperlichen Reaktionen von der Panik ausgelöst werden, und versucht herauszufinden, wann sie erstmals auftraten. Bei all dem werden Familie, Freunde und Lehrer miteinbezogen. Eltern brauchen meist Hilfe, um zu erkennen, ob sie sich anders verhalten müssen – etwa in ihrer Vorbildrolle. Kann die Mutter keinen Streit ertragen, steckt auch die Tochter den Kopf lieber in den Sand.

Bereits beim Aufstehen oder auf dem Weg in die Schule durchleben betroffene Kinder und Jugendliche eine Art inneren Monolog, der die emotionale Wahrnehmung der Wirklichkeit beeinflusst: «Wenn die Hausaufgaben abgefragt werden, hab ich eh wieder alles falsch.» Schon bevor die gefürchtete Situation überhaupt eintreten kann, stellen sich negative Gefühle und Gedanken ein. Entsprechende Schemata werden im Langzeitgedächtnis gespeichert und immer dann automatisch aktiviert, wenn beispielsweise das Stichwort Hausaufgaben fällt. Das Ende vom Lied: Der Schüler oder die Schülerin spürt bereits zu Hause die Angst, zu versagen, und entwickelt psychosomatisch bedingte Schmerzen, um nicht in die Schule gehen zu müssen. Werden Betroffene sich dieser Verkettung bewusst, können sie lernen, die Gedankenspirale zu stoppen.

Spielerisch die Angst überwinden

Wenn eine reale Konfrontation mit dem Schulalltag (noch) nicht möglich ist, setzt der Therapeut zunächst auf Rollenspiele. Er zeigt dem jungen Patienten, wie man sich in einer für ihn beängstigenden Situation so verhalten kann, dass Angst und Panik gar nicht erst entstehen. Das Kind oder der Jugendliche übt also eine angemessene Reaktion im Spiel ein, um dann in der Realität darauf zurückkgreifen zu können.

Schliesslich bewirkt eine systematische Desensibilisierung, dass das Schulumfeld nicht mehr als bedrohlich empfunden wird. Schritt für Schritt setzt sich der Schüler dabei der gefürchteten Situation aus. Zunächst bleibt er nur eine Stunde, später zwei und dann einen ganzen Vormittag in der Schule. Im Ge­­spräch versucht der Therapeut, ihm verständlich zu machen, dass eigentlich alles normal verlaufen ist und das befürchtete Versagen, die Blamage oder Hänselei ausblieb. Wichtig ist, realen Problemen wie Wissenslücken oder aggressiven Mitschülern entsprechend zu begegnen, etwa durch Nachhilfeunterricht oder Gespräche mit den Mobbern.
Hier kommt den Lehrpersonen eine zentrale Rolle zu: Meist können nur sie – in Härtefällen gemeinsam mit Sozialarbeitern oder Schulpsychologen – eingreifen, wenn ein Kind von anderen gemobbt wird. Doch Vorsicht: Etwa 60 Prozent aller Kinder und Jugendlichen drücken sich vor dem Unterricht, weil sie ein angespanntes Verhältnis zur Lehrperson haben. Viele Lehrer sind sich dessen gar nicht bewusst.
Übrigens: Auch Pädagogen leiden unter so etwas wie «Schulangst»! Immer häufiger zeigen Lehrpersonen akute Symptome der Verausgabung, Erschöpfung und Resignation – sie leiden am Burn-out-Syndrom. Lehrpersonen fürchten, sich vor der Klasse zu blamieren, ignoriert oder ausgelacht zu werden. Ausserdem belastetet sie der Druck seitens jener Eltern, die meinten, ihr Sprössling sei bei der Notengebung oder anderweitig übervorteilt worden. 

Eine enge Zusammenarbeit zwischen allen Beteiligten hilft Schülern, Eltern und Pädagogen, den Schulalltag zu bewältigen. Verhärten sich die Fronten zwischen den Parteien, sind letztlich alle die Leidtragenden. 

 

«Wenn die Schulbank drückt». Aus «Gehirn und Geist». Mit freundlicher Genehmigung vom Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg, 2016


Fallbeispiel: Kleine Tyrannen

Seine Eltern bezeichnen den zwölfjährigen M. als ruhig und zuvorkommend. Verlangen sie jedoch etwas, was er nicht will, reagiert er ausgesprochen aggressiv. Kurz nach den Herbstferien hatte er eine Erkältung, danach jeden Morgen Bauch- und Kopfweh. Mittags ging es ihm besser und er traf sich mit Freunden. Die Ärzte fanden keine Ursache für die Symptome. Die Beschwerden wurden schlimmer, und M. konnte nicht mehr in die Schule gehen. Nach mehreren Monaten ohne Unterricht kam der Junge mit Verdacht auf Schulphobie in eine psychiatrische Kinderambulanz. Eine Therapie half ihm und seinen Eltern zu verstehen, woher die Schmerzen rührten. Nach drei Monaten konnte er zurück in die siebte Klasse seiner alten Realschule.

Was tun? Vier Tipps für Eltern

Grundsätzlich sollten Eltern von Kindern mit Schulangst folgende Punkte beherzigen:

  1. Konsequent sein. Es schadet dem Kind, wenn Eltern mit in die Schule kommen. Besser, das Kind geht allein oder in Begleitung von Freunden.
  2. Angemessen trösten! Klagt das Kind morgens über Beschwerden, sollten Eltern liebevoll darauf eingehen, aber nicht diskutieren, ob die Schule mal ausfallen kann. Das Kind muss wissen, dass es sich immer auch an einen vertrauenswürdigen Lehrer wenden kann.
  3. Nicht belohnen!  Kommt der Schulbesuch einmal wirklich nicht in Frage, ist Bettruhe angesagt. Angenehme Tätigkeiten wie Fernsehen oder Lesen statt Unterricht sollten nicht erlaubt werden.
  4. Loben! Auch wenn das Kind morgens geweint oder geklagt hat, bevor es in die Schule ging, verdient es nach seiner Rückkehr Ermutigung und Anerkennung.

Drei Formen der Schulverweigerung

Im Fall von Schulangst versucht das Kind Situationen oder Personen zu meiden, die direkt 
 mit der Schule zu tun haben. Bei der Schulphobie fürchtet es die Trennung von seiner primären Bezugsperson. Schuleschwänzen ist vor allem eine Protestreaktion des Kindes oder Jugendlichen. Häufig treten Symptome der drei Varianten gemeinsam auf.

Hilfe für Betroffene

Wenn Eltern vermuten, dass ihr Kind unter Schulangst oder Schulphobie leidet, sollten sie sich zunächst an ihren Hausarzt und den Klassenlehrer wenden. Ein Gespräch mit einem Vertrauenslehrer kann dabei helfen, herauszufinden, ob der Verdacht begründet ist. Er vermittelt auch geeignete Therapeuten. Ausserdem können sie sich an die zuständige Schulpsychologische Beratungsstelle wenden

Über die Autorin und den Autor

Gerd Lehmkuhl ist Psychologe und Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Köln. Rabea Rentschler ist Redaktorin bei «Gehirn & Geist».