Flüchtlingskinder – sind unsere Schulen bereit? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Flüchtlingskinder – sind unsere Schulen bereit?

Lesedauer: 3 Minuten

Seit Anfang November reisen immer mehr Flüchtlinge in die Schweiz ein, mit ihnen viele Kinder – und die Frage, ob die Schulen auf die damit verbundenen enormen Anfordungen vorbereitet sind. Nein, findet der Dachverband Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH und fordert die Politiker zum Handeln auf.

Die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen aus Ländern, in denen seit Jahren Bürgerkrieg herrscht und die Infrastruktur zusammengebrochen ist, sind vielschichtig: Kinder brauchen Schutz, medizinische Versorgung, Nahrung, Betreuung und nicht zuletzt Bildung. Zuwarten, wie es noch Anfang Oktober von der Konferenz der Erziehungsdirektoren propagiert wurde, bringt ihnen nichts. Gefragt ist jetzt ein vorausschauendes und gemeinsames Handeln der kantonalen Politiker.

7 Herausforderungen sind zu bewältigen

1. Kurzfristige Aufnahme und Vorbereitung auf die Schule

Flüchtlingskinder aus Bürgerkriegsgebieten sind zum Teil schon lange nicht mehr oder nie in die Schule gegangen. Sie sind oft traumatisiert und kennen die hier geltenden Regeln noch nicht. Viele sind ohne ihre Eltern da. Es braucht Ideen, Pläne und Massnahmen, um die wachsende Zahl von geflüchteten Kindern und Jugendlichen kurzfristig aufzunehmen und auf eine mittelfristige Integration in die öffentlichen Schulen vorzubereiten. Die bestehenden Strukturen sowie die personellen und finanziellen Ressourcen sind darauf nicht ausgerichtet. Unbegleitete Kinder brauchen integrierte Angebote mit Unterricht und Betreuung.

2. Vorbereitung auf das zukünftige Berufsleben

Wir müssen davon ausgehen, dass die Kinder und Jugendlichen länger hier bleiben. Nachdem sie nach etwa 20 Wochen in Empfangsklassen etwas Deutsch gelernt und die hier geltenden Regeln kennengelernt haben, muss insbesondere bei Jugendlichen eine zukunftsorientierte Vorbereitung auf den Wechsel in Berufsausbildungen oder an weiterführende Schulen stattfinden. Die Begleitung durch das bereits bestehende Casemanagement muss ausgebaut werden. Jedes Zuwarten bei der Integration führt später zu Kostensteigerungen im Sozialwesen.

3. Vorbereitung der Schulen

Die anstehenden fachlichen Herausforderungen für Schulleitungen und Lehrpersonen sind enorm und teilweise sehr zeitaufwendig. Zusätzliche Assistenz- und Betreuungspersonen (u. a. Zivildienstleistende) können Kinder beispielsweise beim Schwimmen oder bei Hausaufgaben unterstützen oder sie zu Therapiebesuchen begleiten. Die Weiterbildung für den Umgang mit traumatischen Symptomen muss ausgebaut werden. Schulleitungen brauchen administrative Unterstützung, wenn die Kontakte mit Betreuungszentren zunehmen.

4. Information der Eltern

Eltern müssen frühzeitig informiert werden, wie sich die Kantone und Gemeinden sowie die Schulen die Integration der geflüchteten Kinder und Jugendlichen vorstellen. Die Ängste um das Wohl und den Schulerfolg der eigenen Kinder brauchen eine glaubwürdige Antwort. Es muss klar werden, wie die Schulen mit der Heterogenität, mit Unterschieden in Mentalität, Kultur und Religion umgehen, die Leistungen sichern, die Kommunikation unter Kindern und Eltern gestalten. 

5. Verlässliche Perspektiven

Schulen müssen als wichtige Partner in den Integrationsprozess einbezogen werden. Dazu gehören auch früh zu regelnde Details wie Schulmaterial, Kleidung und Ausrüstungen für Sport oder Lager. Kinder, Jugendliche und die Schulen brauchen Ruhe und möglichst verlässliche Perspektiven. Lernen funktioniert nur in einem sicheren Rahmen, mit guten Beziehungen und Zukunftsperspektiven. Plötzliche Abschiebungen sind ein Schock für alle Kinder und die Lehrpersonen.

6. Bereitstellung der Ressourcen

Niemand hat sich diese Situation gewünscht. Aber sie ist da. Die Schulgemeinden und Schulen müssen früh genug wissen, was auf sie zukommt. Die Kantone müssen den nötigen Support budgetieren und kommunizieren. Es ist unverständlich, wenn ausgerechnet jetzt Stellen für Deutsch als Zweitsprache oder für die integrierte Förderung abgebaut werden, wie das beispielsweise der Kanton Luzern tun will. Wenn einzelne Kantone meinen, sie könnten Steuern für reiche Personen tief halten, an den Schulen weiter sparen und Schulgebühren erhöhen, dann schüren sie Ärger, Missgunst und Unruhe.

7. Wertvolle Erfahrungen nutzen 

In Gemeinden und Stadtteilen mit Zentren für migrierte Menschen gibt es Schulen mit langjähriger Erfahrung. Älteren Semestern ist das Pestalozzidorf in Trogen AR noch ein Begriff, wo damals verwaiste Kinder aus dem Zweiten Weltkrieg und später auch Kinder aus Tibet eine neue Heimat gefunden haben Viel Erfahrung mit migrierten Kindern und Jugendlichen haben zum Beispiel vereinzelte Quims-Schulen in Zürich (www.quims.ch). Von solchen Erfahrungen kann man profitieren, wenn sie über Internetplattformen oder Besuchsprogramme wie beispielsweisewww.profilq.ch/schulvisite bekannt gemacht werden. Dafür müssten sich die Kantone vermehrt engagieren.

Was können Eltern tun?

  • Wenn Sie sich Sorgen um Ihr Kind machen: Fragen Sie an Ihrer Schule nach, wie die Sicherheit und die Leistungen garantiert werden. Viele Schulen haben vielleicht noch keine Antwort bereit. Bleiben Sie geduldig dran.
  • Wenn Sie sich für gute Rahmenbedingungen engagieren wollen: Fragen Sie bei geplanten Senkungen der Steuerprozente in Ihrer Gemeinde nach, ob noch genug Geld für eine gute Bildung auch unter erschwerten Umständen bereitsteht.
  • Wenn Sie an Sonderklassen für Flüchtlinge denken: Überlegen Sie, was das für die Zukunft Ihrer Kinder bedeutet, wenn immer mehr Ausländer in der Schweiz leben, die unsere Kultur und Sprache nicht kennen. Wo sonst, wenn nicht in der Schule, kann Integration stattfinden?
  • Wenn Sie sich konkret engagieren wollen: Fragen Sie in Ihrer Schule oder reden Sie mit anderen Eltern, welche Angebote die Integration erleichtern würden und wie Sie sich an solchen beteiligen könnten. Es gibt viele schöne Beispiele wie Kochanlässe, Gesellschaftstänze oder Einladungen für Mittagessen zu Hause.

Zum Autor

Jürg Brühlmann, lic. phil., ist Primar-, Sekundar- und Sonderklassenlehrer und leitet die Pädagogische Arbeitsstelle des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH.