Ein Tag in Sophies Welt - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Ein Tag in Sophies Welt

Lesedauer: 9 Minuten
Wie funktioniert das, wenn ein Mädchen mit Downsyndrom dieselbe Klasse besucht wie angehende Gymnasiasten? Wir haben die 13-jährige Sophie einen Tag lang beim Unterricht begleitet. 
Zwei Kinder steigen die Stufen eines Wohnhauses in einem Basler Stadtteil herunter und winken ihrer Mutter zum Abschied, bevor sie sich im Winterdunkel allein auf den Weg zur Schule machen. Sophie verabschiedet auch ihren kleinen Bruder, der in die andere Richtung geht. Dann schwingt sie sich auf ihr Trottinett. Sie hat einen weiten Schulweg vor sich, eine halbe Stunde wird sie viele Strassen in Basel kreuzen. Es tröpfelt, so dass sie ihre Kapuze tief ins Gesicht zieht. 

Manchmal trifft sie unterwegs ihre Schulfreunde. Heute aber macht sie den Weg ganz allein. «Das stimmt nicht», berichtigt Sophie. «Ich habe meine Fantasie dabei.» Wer sie beobachtet, ahnt, was sie meint: Sophie redet fast die ganze Zeit. Sie ermahnt sich, dass man am Strassenrand nicht einfach loslaufen darf, sondern auf Grün warten muss. Dann schimpft sie mit jemand, der sich offenbar nicht daran hält. Allerdings sieht diesen Rebellen niemand ausser Sophie selbst. Schliesslich erzählt sie glücklich, dass sie eine 5,5 in einem Musiktest gemacht hat und nuschelt etwas vor sich hin. 

Nur wenn Klassenkollegen auf dem Velo vorbeidüsen, wird Sophie aus ihrer Fantasie herausgerissen, ruft fröhlich ihre Namen, wird zurückgegrüsst. Wenn Sophie aber fremden Kindern zuwinkt, erntet sie verwirrte Blicke. Das ist dann doch nicht üblich in der Stadt. Und das Mädchen, das die Schüler da am Strassenrand sehen, ist ziemlich laut und lacht mit weit geöffnetem Mund. So mancher Teenager weiss nicht genau, wie er darauf reagieren soll – und guckt lieber weg. 
Der Deutschtest sieht immer
anders aus – je nachdem,
wer ihn schreibt.
Der Mutter von Sophie ist die Selbständigkeit ihrer Kinder sehr wichtig – und der Schulweg gehört dazu. Die Kinder mit dem Auto zur Schule zu fahren, sei ihr gar nicht erst in den Sinn gekommen, erzählt sie. Weder bei Sophie, die mit einem Downsyndrom geboren wurde und daher eingeschränkte kognitive Fähigkeiten hat, noch bei ihrem kleinen Bruder, der ohne Einschränkungen zur Welt kam. Sophie bewältigt den Schulweg nicht nur mit dem Trottinett allein. Sie fährt auch ohne fremde Hilfe mit dem Tram. In der ersten Schulwoche haben ihr Vater und Mutter genau gezeigt, wo sie durchfahren und vor allem wo sie anhalten und warten muss.

«Das ist eben Sophie»

Als Sophie ihr Trottinett abgeschlossen hat und das Schulhaus der Sekundarschule Leonhard betritt, wird schnell klar: Hier kennt sie fast jeder – und das, obwohl sie erst seit einigen Monaten die weiterführende Schule besucht. «Das ist eben Sophie» ist der Satz, den man von Mitschülern, Lehr- und anderen Betreuungspersonen am häufigsten hört. Sophie, die lieber wartet, bis der Ansturm auf der Treppe vorbei ist. Sophie, die mal ganz schnell und mal absichtlich im Schneckentempo die Stufen zu ihrem Klassenzimmer hinaufsteigt. Und dabei schon mal ihren Schuh verliert. Sophie, die «gut integriert» ist, wie jeder versichert, aber in der Pause lieber alleine ihr Brot isst und den Überblick über den Schulplatz geniesst. 
Die 13-Jährige steuert zielsicher das gelbe Klassenzimmer der Stammgruppe 4i an. Hier lernen Schüler der Progymnasiumsstufe, des E-Zugs und die schwächeren Schülerinnen und Schüler des A-Zugs gemeinsam. Ausserdem haben vier Kinder den sogenannten Integrationsklassen-Status (IK), das heisst, sie haben eine diagnostizierte Lernschwäche oder Behinderung und Anspruch auf die Betreuung durch Heilpädagogen. Dazu gehört auch Sophie. Für die Regelschüler steht gleich ein Deutschtest an. «Die Tests sind für die IK-Schüler freiwillig – wenn sie es versuchen möchten, unterstützen wir», sagt Heilpädagoge Martin Gürtler. Wer mitmacht, bekommt natürlich auch eine Bewertung – allerdings gemessen an den individuellen Lernzielen. 

Ein ungewöhnliches Schulkonzept

«Falls das Kind eine gute Note erreicht, heisst das also nicht, dass es bald aufs Gymnasium kann», so der Heilpädagoge. Im Zeugnis stehen dann im Normalfall auch keine Endnoten, sondern die Lernziele und inwieweit diese erreicht wurden. Für Sophie gilt vor allem, sie im Lesen, Schreiben und Rechnen so fit zu machen, dass sie selbständig durchs Leben gehen kann. «Kleingeld zählen, Fahrpläne lesen und soziale Kompetenzen», sagt Gürtler. Momentan stehe Sophie in Deutsch und Mathe etwa auf dem Niveau der zweiten Primarstufe. Das mit den individuellen Lernzielen fällt in einer Klasse, in der verschiedene Niveaus zusammen lernen, gar nicht weiter auf. Der heutige Test sieht ohnehin für jeden Zug etwas anders aus. Die Schüler des A-Zugs haben eine grössere Schrift und dürfen die meisten Fragen einfach durch Ankreuzen beantworten. Die Schüler des E-Zugs haben den gleichen Ausdruck wie die des Progymnasiums vor sich liegen, aber mehr Zeit zum schriftlichen Beantworten der Fragen. Die Schüler, die Richtung Gymnasium steuern, stöhnen über den Zeitdruck und die Menge. «Das schafft man ja nie», ruft einer. Von Unterforderung keine Spur. Sophie und die anderen IK-Schüler haben den Test des A-Zugs bekommen – und zusätzlich Hilfe neben sich sitzen.

Fast alles scheint spannender zu sein als der Deutschtest 

Heilpädagogik- Praktikantin Maryam Ahmadi hilft Sophie. Sie erinnert die Schülerin daran, den Text Zeile für Zeile zu lesen – langsam schiebt Sophie das Lineal im Text immer weiter nach unten. Bei den Fragen gibt Ahmadi Tipps, in welchem Abschnitt die Antworten zu finden sind. Vor allem aber holt sie Sophies Aufmerksamkeit wieder und wieder zur Aufgabe  zurück. «Sophie, hier.» «Komm, lies noch ein Stück.» «Sophie, wo waren wir?» Denn sobald etwas knackt, schaut Sophie sofort auf, grinst, schaukelt auf ihrem Stuhl herum.
 Fast alles scheint spannender zu sein als der Deutschtest. Und das obwohl Sophie selbst versichert: «Ich lese sehr, sehr gerne!» Neben Sophie an der Wand hängt ihr persönliches Ziel: «Ich will dranbleiben und schaue nur auf meine Arbeit!» Gleich darunter hat Sophie mit den Heilpädagogen aufgelistet, wie sie das erreichen will: «Ich spiele an nichts herum.» «Ich konzentriere mich.» «Ich setze mir kleine Ziele.» Und schliesslich taucht auch die Fantasie wieder auf: «Meine Fantasiefamilie lässt mich in Ruhe.» 

Ein ungewöhnliches Schulkonzept 

Nach der Pause arbeiten die Schüler der 4i an ihren individuellen Wochenplänen weiter. Sophie rechnet im Zahlenbereich von 10 bis 20 – oft nimmt sie den Rechenschieber zu Hilfe. Anders als in den meisten Schweizer Klassenzimmern wird hier nicht Fach für Fach gelernt, sondern es gibt sogenannte Epochenfächer, die zwei Wochen lang vertieft werden. So ist es einfacher, den unterschiedlichen Lerntempi der Schüler gerecht zu werden. Diese Woche sind das Mathe und Deutsch. Ausserdem wird ein Fach wiederholt – diese Woche ist das Französisch. Die Lehrer, die «Inputs» geben – das, was herkömmlichem Frontalunterricht am nächsten kommt –, gehen von Zimmer zu Zimmer. Wenn kein Input ist, sind die individuellen Wochenpläne dran, über die jeder Schüler auch ein Lernjournal führt. Die Lehrer und Heilpädagogen sind immer da, um zu helfen und zu kontrollieren. Auch sind die Klassen etwas kleiner als im Rest des Schulhauses. 
«Sophie, komm, lies noch
ein Stück.» «Sophie, wo waren
wir?» «Sophie, hier!»
Jeweils 20 statt 25 oder mehr Kinder lernen gemeinsam. Das Konzept für diese ungewöhnliche Art des Unterrichtens haben einige Lehrpersonen 2010  kontinuierlich daran. «Wir wollten Schule für die Schülerinnen und Schüler machen», erinnert sich der heutige Co-Stammgruppenleiter Christian Elsässer. Dem Wunsch der Lehrergruppe, anders unterrichten zu können, damit schwache Schüler nicht auf der Strecke bleiben, kam die Schulleitung nach – und verband ihn mit der Bitte, Integrationsklassen zu machen, die auch von IKSchülern besucht werden können. Im 8. und 9. Schuljahr läuft das jetzt schon seit fünf Jahren so, im 7. Schuljahr, welches Sophie besucht, wurde das neue Unterrichten erst 2015 eingeführt. 

Eltern waren zu Beginn skeptisch

Anfangs gab es viel Widerstand von den Eltern, erinnert sich Elsässer: «Alles, was neu ist, wird erst einmal sehr kritisch betrachtet. Aber niemand hinterfragt, ob das, was seit 100 Jahren gemacht wird, eigentlich gut ist. Für mich gehört das zu meinem Selbstverständnis als Lehrer.» Inzwischen ist die Sek Leonhard auch Projektschule und erhält Gelder vom Kanton. Trotzdem bleiben die Lehrpersonen selbstkritisch. Überstunden und unbezahlte Lektionen gehören momentan genauso zu ihrem Unterrichtssystem wie die wöchentlichen Teammeetings, in denen besprochen wird, was funktioniert und wo es zu unruhig wird. Denn das Unterrichten mit gemischten Niveaus und Epochenfächern bringt auch eine ganze Menge Bewegung und damit natürlich auch Unruhe in die Klassenzimmer. Nicht jeder Input macht für jeden Schüler Sinn. Und so gehen nicht nur die Lehrpersonen und Heilpädagogen von Zimmer zu Zimmer, sondern auch die Schüler. Gerade wechseln die der höheren Niveaus  in andere Zimmer und alle A-Zugund IK-Schüler kommen in das Zimmer Gelb, in dem auch Sophie sitzt. Ein Mathe-Input ist dran. Lehrer Christian Elsässer erklärt, wie man Umfang und Fläche von Rechtecken und Dreiecken berechnen kann. 
Sophie schaut sich viel von
anderen ab. Deshalb ist eine
integrative Klasse ideal für sie.
Dafür bekommen die Schüler das Rechteck in die Hand, zerschneiden es in Dreiecke, legen es neu zusammen – das Haptische hilft beim Verständnis. Bastel- und Zeichenvorgänge können die Schüler hinterher auch immer wieder auf Lernvideos in ihrem Tempo ansehen. Zwei Heilpädagogen sitzen bei den IK-Schülern. Sophie und die anderen sind zwar mit am Tisch, melden sich aber nicht zu Wort – viel zu sehr sind sie damit beschäftigt, die Informationen sauber ins Heft zu zeichnen. Alles geht ein wenig langsamer und die Heilpädagogen versuchen die Aufmerksamkeit beim Geschehen zu halten: «Hörst du zu, Sophie? Bist du noch dabei?», fragt Heilpädagogin Elena Jennrich, und plötzlich sieht sie überrascht aus, weil Sophie ihr selbstverständlich erklärt, wie man den Umfang eines Rechtecks berechnet. «Das da plus das, plus das, plus das», sagt sie stolz. Damit ist immerhin ein Teil des Lernstoffs hängengeblieben. Auch das ist ein Ziel des integrativen Unterrichts.

Das Haptische hilft

Dafür bekommen die Schüler das Rechteck in die Hand, zerschneiden es in Dreiecke, legen es neu zusammen – das Haptische hilft beim Verständnis. Bastel- und Zeichenvorgänge können die Schüler hinterher auch immer wieder auf Lernvideos in ihrem Tempo ansehen. Zwei Heilpädagogen sitzen bei den IK-Schülern. Sophie und die anderen sind zwar mit am Tisch, melden sich aber nicht zu Wort – viel zu sehr sind sie damit beschäftigt, die Informationen sauber ins Heft zu zeichnen. Alles geht ein wenig langsamer und die Heilpädagogen versuchen die Aufmerksamkeit beim Geschehen zu halten: «Hörst du zu, Sophie? Bist du noch dabei?», fragt Heilpädagogin Elena Jennrich, und plötzlich sieht sie überrascht aus, weil Sophie ihr selbstverständlich erklärt, wie man den Umfang eines Rechtecks berechnet. «Das da plus das, plus das, plus das», sagt sie stolz. Damit ist immerhin ein Teil des Lernstoffs hängengeblieben. Auch das ist ein Ziel des integrativen Unterrichts.

Realität und Fantasie

«Ich kenne Sophie als jemanden, der sich extrem viel von anderen abschaut», sagt ihre Mutter. Genau deshalb hat sie sich gewünscht, dass ihre Tochter keine Sonderschule, sondern eine integrative Klasse besucht, in der auch stärkere Schüler sitzen. Schon im Kindergarten und in der Primarschule habe das gut funktioniert. «Mir ist aber wichtig, dass es die richtige Schulform für Sophie ist – wenn das so nicht mehr funktionieren sollte, sind wir auch für einen Wechsel offen», sagt die Mutter. Zwei Mitschülerinnen aus Sophies Primarschulzeit, Polina und Livia, sind auch jetzt wieder in ihrer Klasse und werden sich im Skilager ein Zimmer mit ihr teilen. «Sophie gehört voll dazu und wir finden es toll, dass sich hier alle helfen», sagen die beiden Mädchen. Trotzdem verbringt Sophie die Mittagspause wieder nicht mit ihren Freundinnen, sondern geht mit der Gruppe von Heilpädagogen in die Kantine. Sie sind da, um Sophie wenn nötig zu unterstützen, und kennen auch Sophies Kantinen- Angewohnheiten: Die Suppe isst Sophie erst ganz zum Schluss – am liebsten richtig schön kalt. Und hier, in der Pause, darf auch ihre Fantasiefamilie wieder mit dabei sein. «Mein Kind und mein Onkel – aber die sind nur in meiner Fantasie da», erklärt Sophie ganz selbstverständlich. «Wir haben das mit den Eltern abgesprochen – Sophie kann Realität und Fantasie gut auseinanderhalten. Im Unterricht hat die Fantasiefamilie nichts verloren, aber in der Pause und der Freizeit ist das in Ordnung», sagt Heilpädagoge Martin Gürtler. 

In der März-Ausgabe des ElternMagazins Fritz+Fränzi dreht sich alles um das Dossier-Thema «Inklusion». Einen ganzen Tag lang durften wir die 13-jährige Sophie aus Basel in ihrem Alltag in der Regelschule begleiten. Das Coverbild hat sie selbst ausgewählt. 

In der März-Ausgabe des ElternMagazins Fritz+Fränzi dreht sich alles um das Dossier-Thema «Inklusion». Einen ganzen Tag lang durften wir die 13-jährige Sophie aus Basel in ihrem Alltag in der Regelschule begleiten. Das Coverbild hat sie selbst ausgewählt. 
Am Nachmittag steht noch Sophies Lieblingsfach an: Textiles Werken. Sophie kniet vor der Nähmaschine und kriecht fast mit dem Kopf hinein, um einzufädeln. Irgendwann klappt es, Sophie jubelt und hüpft. Praktikantin Maryam Ahmadi schiebt langsam den Stoff unter den Nähfuss, während Sophie das Fusspedal bedient. Danach wechseln die beiden die Rollen. Dank diesem Teamwork ist Sophies Turnbeutel schon viel weiter als der ihrer Freundin Polina, die nebenan schimpft, dass dieses Fach doch auch wirklich unnötig sei. Turnbeutel könne man doch auch kaufen. «Ganz ruhig, Polina», ruft Sophie herüber. «Du musst dich auch konzentrieren. » Und keiner scheint es ungewöhnlich zu finden, dass jetzt plötzlich Sophie diejenige ist, die die anderen ermahnt, dranzubleiben.

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Zur Autorin:


Bianca Fritz hat in ihrer Schul-laufbahn Kinder mit Behinderung nur aus der Ferne gesehen und war immer ein wenig neidisch, dass die Sonderschule eine Rutsche vom Fenster auf den Pausenplatz hatte. Heute wünscht sie sich, sie hätte weniger Berührungsängste.

Bianca Fritz hat in ihrer Schul-laufbahn Kinder mit Behinderung nur aus der Ferne gesehen und war immer ein wenig neidisch, dass die Sonderschule eine Rutsche vom Fenster auf den Pausenplatz hatte. Heute wünscht sie sich, sie hätte weniger Berührungsängste.