«Wir müssen auch die Lehrpersonen schützen» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wir müssen auch die Lehrpersonen schützen»

Lesedauer: 6 Minuten

Schulschliessungen gelten in der Schweiz nach wie vor als «Ultima Ratio», als letzte Massnahme im Kampf gegen das Coronavirus. Dagmar Rösler, Präsidentin des Dachverbands der Lehrerinnen und Lehrer LCH, über mögliche Alternativen zu Schulschliessungen, besondere Schutzmassnahmen für Lehrpersonen und welche Art von Unterricht ihre Töchter bevorzugen. 

Frau Rösler, am Mittwoch, 13. Januar, hat der Bundesrat neue Massnahmen gegen das Coronavirus beschlossen, unter anderem die 5-Personen-Regel. In Bezug auf die Schulen liegt der Ball bei den Kantonen. Wie beurteilen Sie diesen Entscheid?

Ich weiss, dass verschiedene Massnahmen der Kantone in der Vernehmlassung sind mit verschärften Regeln in Bezug auf die Schulen. Der Bundesrat hat für den 20. Januar neue Massnahmen speziell für die Schulen angekündigt. Je nachdem, wie der Bundesrat die Lage einstuft, bleibt es bei unterschiedlichen Regeln für die Kantone. Oder aber die Regierung verordnet landesweite Massnahmen, wenn er die Lage als ausserordentlich beurteilt. Es ist dringend notwendig, dass über weitere Schutzkonzepte gesprochen wird. Man fragt sich schon, warum sich nur noch fünf Personen treffen dürfen, während sich in Schulklassen gleichzeitig bis zu 25 Kinder und Lehrpersonen in einem Raum aufhalten. Es ist aber nach wie vor so, dass Schulschliessungen als «Ultima Ratio» bezeichnet werden, dass vor allem die obligatorischen Schulstufen nur dann geschlossen werden sollen, wenn alle anderen Massnahmen ausgeschöpft wurden. 

Es ist dringend notwendig, dass über weitere Schutzkonzepte für Schulen gesprochen wird. 

Es gibt ja Alternativen zu Schulschliessungen. Was halten Sie vom Halbklassenunterricht oder von einer Maskenpflicht für jüngere Kinder?

Ich denke, dass eine Maskenpflicht ab der 5. oder 6. Klasse eingeführt werden könnte. Kinder in dem Alter verstehen es, mit einer Maske umzugehen. Sie sind weniger auf die Mimik der Lehrpersonen angewiesen als jüngere Kinder. Für diese macht eine Maskenpflicht im Schulunterricht einfach keinen Sinn. 

Beim Halbklassenunterricht sind für mich noch organisatorische Fragezeichen offen. Wie sollen denn die Kinder die zuhause sind betreut werden, während gleichzeitig die andere Hälfte der Klasse im Schulzimmer sitzt? Zudem ist es für Eltern ein organisatorischer Spagat, die Kinder eine Woche lang zu Hause zu betreuen, um sie danach wieder für eine Woche in die Schule zu schicken. 

Dagmar Rösler, 48, stand acht Jahre an der Spitze des Solothurner Lehrerverbandes, bevor sie im August 2019 die Nachfolge von Beat W. Zemp antrat und als erste Frau Präsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH wurde. Die Primarlehrerin lebt mit ihrem Mann, einem IT-Spezialisten, und ihren beiden Töchtern, 14 und 16, in Oberdorf SO. 
Dagmar Rösler, 48, stand acht Jahre an der Spitze des Solothurner Lehrerverbandes, bevor sie im August 2019 die Nachfolge von Beat W. Zemp antrat und als erste Frau Präsidentin des Dachverbandes Lehrerinnen und Lehrer Schweiz LCH wurde. Die Primarlehrerin lebt mit ihrem Mann, einem IT-Spezialisten, und ihren beiden Töchtern, 14 und 16, in Oberdorf SO. 

Wie ist die Stimmung bei den Lehrpersonen? Fühlen sie sich ausreichend geschützt?

Bisher war die Stimmung stabil, viele Lehrerinnen und Lehrer setzen sich vehement dafür ein, dass die Schulen offen bleiben dürfen. Und es wird extrem viel dafür getan: Die Verantwortlichen in den Schulen putzen, lüften, desinfizieren, halten so gut es geht die Abstandsregeln ein, und so weiter. Aber man muss aufpassen, dass die Stimmung nicht kippt. Es wird jetzt deutlich, dass man nun endlich auch an die Lehrpersonen denken muss, um sie besonders zu schützen. Wenn man die Schulen offen halten will, muss man auch etwas dafür tun. Eine Idee wären zum Beispiel Luftreinigungsgeräte oder bessere Masken für Lehrerinnen und Lehrer, oder eben auch eine Bevorzugung im Corona-Impfplan für die, die sich impfen lassen möchten. 

Es gibt Studien, die belegen, dass Kinder nicht die Treiber der Pandemie sind, dass gravierende Lernrückstände aus dem Fernunterricht resultieren und dass gefährdete Kinder noch mehr gelitten haben während des ersten Lockdowns. Diese und viele weitere Gründe sprechen dafür, die Schulen nicht zu schliessen. Es gibt andererseits aber auch die Mobilitätsstudie der ETH, die zum Schluss kommt, dass die Schulschliessungen im Frühling die Mobilitätrate sehr wohl gesenkt haben, was für eine Wiederholung dieser Massnahme sprechen würde. Wie wägen Sie diese Studien ab?

Mir ist bewusst, dass es für jede Studie eine Gegenstudie gibt. Ich bin keine Virologin, keine Medizinerin und halte mich an die Empfehlungen der Taskforce des Bundesrates. Sie hat eben erneut bestätigt, dass Kinder nicht die Treiber der Pandemie sind und dass Schulen als ein sicherer Ort gelten, dass dort also wenig Ansteckungen passieren. Zur Mobilitätsstudie der ETH habe ich ein paar Fragezeichen. Dort wurden unter anderem Handydaten ausgewertet, die sich in mehreren Postleitzahlgebieten bewegt haben. Logisch bewegen sich beispielsweise Berufsschüler mehr, ein Primarschüler hat seine Schule ja meist im selben Postleitzahl-Gebiet. Die meisten Primarschülerinnen und -Schüler dürfen ihr Handy – sofern sie eines haben – noch nicht in die Schule mitnehmen. Ich vermute, dass in dieser Studie die 1.- bis 6.-Klässler gar nicht erfasst worden sind. Hier wurden für mich also nicht alle Daten berücksichtigt, die es braucht, damit man für eine generelle Schulschliessung plädieren könnte. 

Keine generelle, aber eine partielle Schulschliessung, beispielsweise für höhere Stufen könnten Sie sich also vorstellen?

Ja, das könnte man sich in der Tat überlegen. Viele Jugendliche können gut zu Hause lernen, sind motiviert und haben die nötige Infrastruktur. Klar, wir wissen auch, dass viele von ihnen morgens nicht aus dem Bett gekommen sind und viel zu viel gegamed wurde. Trotzdem bin ich der Meinung, dass eine Schulschliessung auf Sekundarstufe II für eine begrenzte Zeit zumutbar wäre. Meine ältere Tochter, beispielsweise, fährt zweimal Pro Woche im überfüllten Zug an die Berufsschule nach Olten, wo sich 1000 Studierende treffen. Da fragt sie sich schon, warum sie sich im Privaten nur mit vier Freunden oder Freundinnen treffen darf, in der Schule und auf dem Weg dahin aber eine Vielzahl von Kontakten hat. Aber auch auf dieser Stufe stellen sich Fragen zur Handhabung von Prüfungen, Abschlüssen, und so weiter, die noch nicht restlos geklärt sind.
So ist der aktuelle Stand am 18. Januar in Bezug auf Schulen in der Schweiz. (Quelle: www.bag.ch)
So ist der aktuelle Stand am 18. Januar in Bezug auf Schulen in der Schweiz. (Quelle: www.bag.ch)

Wie steht es mit einer schweizweiten Wiederholung des Schuljahres? 

Diese Frage steht nicht im Raum. Es sind aber zu viele Punkte offen, als dass man bereits zu einer Antwort gelangen kann. Wie sieht es aus mit Prüfungen? Dürfen die auch online geschrieben werden, falls es wieder zu Fernunterricht kommt? Im Moment haben Lehrerinnen und Lehrer noch die Forderung zu erfüllen, dass das Schuljahr 2020/2021 als vollwertiges Schuljahr anerkannt wird. Wird das aber so bleiben, wenn Schulen geschlossen werden müssen? Diese Fragen müssen wir zusammen mit der Schweizerischen Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektionen EDK klären. 

Viele Eltern sind froh, dass ihre Kinder noch in die Schule gehen dürfen, wieder andere hätten ihre Kinder gerne zu Hause. Steht eine temporäre Aufhebung der Schweizer Schulpflicht zur Debatte?

Ich verstehe, dass einige Eltern aus Sorge um eine Ansteckung ihre Kinder gerne zu Hause unterrichten würden. Anderseits glaube ich aber nicht, dass es aktuell zielführend wäre, wenn pro Klasse einige Kinder zu Hause bleiben. Für die Lehrperson ist es ein erneuter Mehraufwand, wenn sie für diese Kinder zusätzliche Wochenpläne und Material aufbereiten muss. Im rechtlichen Bereich kenne ich mich zuwenig aus, schätze den administrativen Aufwand solcher Ausnahmen aber als enorm ein. 

Sollten die Schulen (teilweise) wieder auf Fernunterricht umstellen, sind sie vorbereitet? 

Ja, Lehrerinnen und Lehrer haben definitv aus dem Lockdown im Frühling gelernt. Damals sind sie ziemlich kalt erwischt worden. In der Zwischenzeit wurde viel Arbeit geleistet und in einigen Kantonen gibt es auch schon Weisungen zum Fernunterricht, sollte dieser tatsächlich verordnet werden. 

Wie sieht es denn bei Ihnen persönlich aus, würden Ihre beiden Töchter gerne zu Hause lernen und wie sehen Sie das?

Meine ältere Tochter wäre in der Tat gerne zu Hause. Sie müsste den langen Schulweg nicht mehr auf sich nehmen und ist ausserdem eine motivierte Homeschoolerin, das würde gut gehen. Meine jüngere Tochter aber würde ihre Kolleginnen vermissen, für sie ist der soziale Austausch in der Schule wichtig. Grundsätzlich haben wir das Glück, dass beide Mädchen gut zu Hause gelernt haben, so dass ich persönlich keine Angst vor einem erneuten Fernunterricht habe. Es könnte lediglich etwas eng werden bei uns zu Hause, wenn mein Mann, unsere Töchter und ich zur selben Zeit in Ruhe arbeiten sollten. Aber auch das bekommen wir hin! Es ist mir aber vollkommen bewusst, dass nicht alle in einer solchen Situation sein werden.

Stellungnahme des Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH: 

In einer nicht repräsentativen Umfrage haben rund 600 Deutschschweizer Schulleitende angegeben, dass im Januar 2021 ihren Einschätzungen zufolge im Vergleich zum Januar 2020 derzeit nicht mehr Kinder krank sind oder es möglicherweise sogar weniger sind. Der VSLCH betont, dass die Einschätzung seiner Mitglieder nur einer Momentaufnahme entspricht. Dennoch gibt die Einschätzung einen Hinweis, dass die Schutzkonzepte und das Contact-Tracing sehr gut funktionieren. Aus diesem Grund befürwortet der Verband der Deutschschweizer Schulleitenden, den Unterricht nicht vorauseilend vom Schulhaus nach Hause zu verlegen. Eine Schliessung der Schulhäuser zwecks Reduktion der Mobilität der Eltern und damit Senkung der
Ansteckungsgefahr ist für den VSLCH heikel. VSLCH-Präsident Thomas Minder dazu: «Es darf nicht sein, dass Kinder instrumentalisiert werden, um die Mobilität der Eltern einzuschränken. Unseres Erachtens ist die Forderung nach Homeoffice zielführender.» (Quelle: www.vslch.ch)

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