Spielen ohne Spielzeug – ein Kindergarten testet es - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Spielen ohne Spielzeug – ein Kindergarten testet es

Lesedauer: 6 Minuten

Was passiert in einem Kindergarten, wenn alle Bücher, Plüschtiere, Duplos und Verkleidungssachen vorübergehend in den Keller wandern? Wir haben eine Kindergartenklasse begleitet, die während drei Monaten komplett auf Spielsachen verzichtete. 

Spielst du mit mir?» – «Klar, gerne.» – «Oh nein, wir haben ja gar keine Spielsachen mehr!» – «Wir können ja trotzdem etwas spielen, was möchtest du denn machen?» – «Keine Ahnung!»

Diese Szene hat sich bei meinem ersten Besuch im Kindergarten Wartegg in Luzern abgespielt.

Die rund 20 Kinder sind gerade dabei, all ihre Spielsachen in Kisten zu verpacken, als ein Mädchen mit mir spielen will. Nur: womit? Denn Puzzles, CDs und Jenga-Stäbe – alles wurde in den Keller verfrachtet, die Regale sind leer. Spielzeug, das nicht verändert werden kann, wird weggeräumt. Auf Nachfrage wieder geholt werden dürfen Materialien, mit denen neue Objekte geschaffen werden können wie Tücher, Schnur, Malutensilien und Klebeband.

Initiiert vom Luzerner Verein «Akzent», der sich mit der Unterstützung von Kanton und Gemeinden für nachhaltige Prävention und Suchttherapie einsetzt, macht der Kindergarten Wartegg zusammen mit anderen Deutschschweizer Kindergärten beim Projekt «spielzeugfreier Kindergarten» mit.

Spielen, insbesondere das freie Spiel, ist für viele Pädagogen die wichtigste Grundlage für eine gesunde Entwicklung eines Kindes, wie auch Professor André Frank Zimpel, Professor an der Uni Hamburg und Autor von mehreren Büchern zum Thema, betont. «Spielen ist die Arbeit des Kindes und seine wichtigste Tätigkeit.» Für Zimpel ist Spielen das Beste, was ein Kind tun kann.

In ihrem Sammelband «Play = Learning» zeigen die US-Forscherin Dorothy Singer und ihr Team auf, dass Kinder, denen zu Hause und in der Schule genügend Zeit zum Spielen gegeben wird, sich später durch bessere schulische Leistungen, durch Kreativität, Widerstandsfähigkeit (Resilienz), Selbstvertrauen und soziale Fähigkeiten auszeichnen.

Kinder sollen nicht nur so viel wie möglich spielen, sie sollen es auch so frei wie möglich machen: Das Projekt «spielzeugfreier Kindergarten» geht deshalb noch einen Schritt weiter: weg vom Konsumzwang, weg von vorgegebenen Spielideen, hin zum konzentrierten, kreativen, vertieften Spielen, so die Grundidee der Aktion, die 1993 von Elke Schubert und Rainer Strick von der Aktion Jugendschutz München gegründet wurde. Ihr Credo:
Die Stärkung der Lebenskompetenzen ist die wirksamste Form der
Suchtprävention. 

Lang lebe die Langeweile

Auch in Luzern möchten die beiden Kindergärtnerinnen Pia Christen und Yvonne Enzmann die Kinder in ihrer Kreativität stärken. Denn sie sind überzeugt: Aus kreativen Kindern werden starke Erwachsene.

Angst vor Langeweile? Fehlanzeige. Die Kinder freuen sich auf die spielzeugfreie Zeit. Emma, 6,  zum Beispiel, spielt gerne Verkleiderlis in der Familienecke. Sie meint: «Das wird kein Problem: Kleider tragen wir ja eh immer, das reicht zum Spielen.»

Im Kindergarten erhalten Kinder viele externe Impulse zum Spielen, es gibt festgelegte Spielsequenzen, vorgefertigte Spielideen. Ohne Regeln, ohne Spielzeug, ohne Anleitung der Lehrpersonen ist die Lange­weile dann doch ein Thema in Luzern. 

Viele Kinder seien heute «stimulationssüchtig» oder schlichtweg zu «Konsumenten» geworden, schreibt Jesper Juul in seinem Text «Kinder sollen sich langweilen dürfen». Diese Kinder hätten ohne Anregung oder Bespielung regelrecht Entzugserscheinungen. Doch, so betont Juul: «Langeweile ist der Schlüssel zur inneren Balance.» In Kontakt mit der eigenen Kreativität komme nur, wer die innere Unruhe der Langeweile vorbeiziehen lasse. Und: «Kreativität ist zentral, um Selbstwert zu entwickeln.»

Was also tun, wenn sich ein Kind langweilt?
Die Zauberformel ist simpel: zulassen und warten. Kommt Zeit, kommt Rat – das gilt auch für die Kreativität. Jesper Juul empfiehlt Eltern, deren Kinder sich langweilen, das Kind zu umarmen und zur Langeweile zu beglückwünschen. Und: Interesse zu zeigen, was es aus seiner Langeweile heraus als Nächstes tun wird. 

Die Idee hinter dem Projekt: Aus kreativen Kindern werden starke Erwachsene. 

Im Kindergarten in Luzern gibt es einen blauen Stuhl, angelehnt an das gleichnamige Bilderbuch zum Thema Langeweile und Fantasie von Claude Boujon. Wenn sich ein Kind langweilt, setzt es sich auf den Stuhl und wartet, bis es von einem anderen Kind zu einem Spiel eingeladen wird. 

Anfangs ist der blaue Stuhl rege in Gebrauch, mit der Zeit wird er immer seltener benutzt. Die Kinder wissen sich zu helfen, schauen sich Ideen untereinander ab. Es wird laut im Kindergarten: Auf Schränken wird getrommelt, die Möbel werden bespielt wie noch nie. Aus Stühlen und Klebeband entsteht ein Schloss, unter einem Tisch ein Gefängnis. «Versteckis, Fangis, Chutzele, Hütten bauen, Versteckis und nomal Fangis», antworten Leo und Lian, beide 6, auf die Frage, was sie denn nun gerne spielen im Kinder­garten.

Gibt es mehr Streit ohne Spielsachen?

«Ja, es ist deutlich lauter geworden im Kindergarten», bestätigt Lehrperson Pia Christen. Die Kinder bewegen sich mehr und es muss viel mehr besprochen und ausdiskutiert werden. Gibt es auch mehr Streit? «Oh ja», meint Pia Christen. «Die Kinder müssen sich mehr durchsetzen, und das klappt nicht immer ohne Streit.» – «Nein, wieso denn?», fragt hingegen der sechsjährige Eren. «Wir haben ja keine Spielsachen mehr, um die gestritten werden kann.» 

«Wir streiten viel weniger. Es gibt ja keine Spielsachen mehr, um die wir streiten können», sagt der sechsjährige Eren.

Auch körperlich kommt es zu mehr Reibereien und nach einem Sturz vom Stuhl zu einem schmerzenden Kinn. Doch auch das gehört zum freien Spiel. «Vor Gefahren muss man Kinder schützen, doch Risiken müssen sie eingehen dürfen», sagt Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm. 

Weniger leiten, mehr begleiten

Bei meinem zweiten Besuch in Luzern gut einen Monat nach Projekt­start sind die Kinder merklich angekommen in ihrem neuen Kindergarten mit leeren Schränken und Regalen. Am Montag und insbesondere nach den Ferien brauchen sie etwas mehr Anlauf, um ins freie Spiel zu kommen. Und doch: Allen ist wohl. 

Es spielen andere Kinder zusammen, es gibt neue Gruppen und die Geschlechtertrennung findet weniger statt. Pia Christen schätzt es, «mehr Zeit zu haben für alles». Der Unterricht ist weniger geregelt, auch das Znüni können die Kinder dann essen, wenn sie möchten, und nicht pünktlich zur Pause um 9.30 Uhr. 

«Wir müssen als Erzieherinnen sehr präsent sein», sagt Pia Christen. Sie und ihre Kollegin Yvonne Enzmann würden es aber geniessen, die Kinder nach ihren Bedürfnissen handeln lassen zu können. Nicht immer einfach sei die eigene Zurückhaltung, zu begleiten statt anzuleiten, die Kinder einfach machen zu lassen. 

«Bauen die Kinder ein Haus, dann hat man Erwartungen, wie das Haus entstehen oder aussehen könnte», meint Pia Christen. Machen es die Kinder so, wie sie es möchten, nämlich im konkreten Fall mit x Metern Klebeband, sei es stellenweise schwierig gewesen für sie beide, sich mit Vorschlägen zurückzuhalten. 

«Manche Eltern fragten sich zu Beginn des Projekts, was Suchtprävention im Kindergarten soll», sagt Christina Thalmann, Projektverantwortliche bei «Akzent». «Wir erklärten ihnen dann das Hauptziel des Projekts, die Lebenskompetenzen und Schutzfaktoren der Kinder zu stärken.» Schutzfaktoren wie beispielsweise «Erweiterung der Sprachkompetenz und Kommunikationsstrategien, Förderung der Frustrationstoleranz, Erleben der eigenen Selbstwirksamkeit und das Einüben und Anwenden von Bewältigungsstrategien bei Konflikten». Damit seien die meisten Eltern an Bord und bereit, das Projekt auch zu Hause zu unterstützen. 

Es spielen andere Kinder  zusammen, es gibt neue Gruppen und weniger  Geschlechtertrennung.  

Im Laufe des Projekts melden die Eltern der Kinder zurück, dass die Kinder zu Hause mehr erzählen. Die Kindergärtler sind stolz und integrieren gewisse Angewohnheiten aus dem Kindergarten auch zu Hause. «Keine Kartonschachtel ist zu Hause mehr sicher vor Emma», sagt ihre Mutter Mirjam Weniger.

Nach zehn Wochen Spielzeug­abstinenz dürfen die ersten Spielsachen aus dem Keller geholt werden. Was haben die Kinder am meisten vermisst? Die Plüsch-Eisbären. Zusammen mit den Duplos dürfen die Stofftiere als Erstes wieder einziehen in den Kindergarten.

Auch mit den voller werdenden Regalen ist das Spiel freier, flexibler und noch immer kombiniert mit einem Karton­haus aus der spielzeugfreien Zeit. Pia Christen und Yvonne Enzmann wollen mit der nächsten ­Kindergartenklasse wieder eine Zeit lang auf Spielsachen verzichten. Und den Kindern durch den Verzicht hoffentlich einen grossen Gewinn an Resilienz verschaffen.
 
«Mir geht es gut», antwortet Sophie, 5, auf meine Frage, wie sie die Zeit ohne Spielsachen fand. Und drückt mir als Geschenk einen Scheren­schnitt in die Hand.

www.akzent-luzern.ch 

Langeweile kann Kinder stärken! Das zeigt unser Lehrvideo mit dem Biber.

Ideen für mehr freies Spiel im Alltag

  • Zeit und Raum schaffen fürs freie Spiel, bewusst Zeitfenster von Terminen freihalten.
  • Sich zurücknehmen mit Impulsen und die Kinder selber machen lassen.
  • Kinder auch mal Risiken eingehen lassen.
  • Spielzeug konsequent rotieren lassen, immer mal wieder eine Kiste auf dem Estrich verstauen und später mit anderen Spielsachen austauschen. Darauf achten, was das Kind gerade interessiert, womit es von sich aus spielt. 
  • Die Umgebung nutzen, die Hütte mal nicht unter dem Salontisch, sondern im Wald bauen gehen. In der Stadt mit dem Tram an einer zufälligen Haltestelle aussteigen und den nächsten Brunnen suchen, dort Schiffli fahren lassen mit einem Korkenfloss. 
  • Situationen bewusst ausnutzen und im Lift von der Tiefgarage in die Migros oder den Coop kurz Disco spielen zur Warenhausmusik. 
  • Spielzeug ohne festen Verwendungszweck vorziehen. Im ersten Augenblick finden Kinder das glänzende Ritterschwert aus Plastik sicher cool. Wenn man sie ihr Ritterschwert selber basteln und am nächsten Tag in einen Gehstock aus dem Krankenhaus ummodeln lässt, macht sie das aber langfristig zufriedener in ihrem Spiel. 

Florina Schwander ist Redaktorin beim Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi. Sie denkt heute anders über leere Kartonschachteln. Seit dem Besuch in Luzern versucht sie, die Spielsachen ihrer drei Kinder aktiver zu sortieren und auch mal wegzuräumen. 
Florina Schwander ist Redaktorin beim Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi. Sie denkt heute anders über leere Kartonschachteln. Seit dem Besuch in Luzern versucht sie, die Spielsachen ihrer drei Kinder aktiver zu sortieren und auch mal wegzuräumen. 


Freies Spiel: Weiterlesen

Frau Stamm, warum spielen Kinder heute so wenig? Die Schweizer Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm erklärt, weshalb das freie Spiel die beste Frühförderstrategie bei Kindern ist. 

Das «Kindergartenheft 2. Jahr/Herbst» mit dem Titel «Fast schon gross» wendet sich an Eltern von Kindergartenschülerinnen und -schüler des zweiten Jahres. Eltern von grossen «Chindsgi»-Kindern beschäftigten sich unter anderem mit diesen Themen:  Woher kommen Kinderängste? Muss mein Kind vor dem Übertritt in die Primarschule lesen und schreiben können? Was ändert sich für mein Kind mit dem Lehrplan 21 und der Einführung des Fachs «Medien und Informatik» im Kindergarten? Hier bestellen.
Dieser Text stammt aus dem Spezialheft Kindergarten 3 Herbst und richtet sich an Eltern von Kindergartenkinder im 2. Jahr. Bestellen Sie jetzt eine Einzelausgabe!