Mein unsichtbarer Freund
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Mein unsichtbarer Freund

Lesedauer: 2 Minuten

Mikael Krogerus erinnert sich an seinen imaginären Begleiter durch die Kindergartenzeit und warum dieser so wichtig für ihn war.

Text: Mikael Krogerus
Illustration: Petra Dufkova / Die Illustratoren

Wenn mein Vater mich vor meinen Kindern, seinen Enkelkindern, ein wenig aufziehen will, erzählt er gern die Geschichte von meinem Kindheitsfreund «Lupidi». «Wer war Lupidi?», fragen die Kinder.  «Lupidi», und an dieser Stelle kann mein Vater fast nicht weitererzählen vor Lachen, «das war der unsichtbare Freund eures Vaters».

«Warum hiess er Lupidi?», fragt meine Tochter, offenbar weniger besorgt darüber, dass ich imaginäre Freunde hatte, als dass sie so merkwürdige Namen trugen. Und dann muss ich meinen Kindern die Geschichte von Lupidi erzählen.

Als ich in den Kindergarten kam, hatte ich zwei Probleme. Ich sprach kaum Deutsch (meine Familie ist schwedischsprachig und wir waren erst kurz zuvor umgesiedelt). Und ich kannte keines der anderen Kinder. Aber zum Glück war ich nicht allein. Denn ich hatte meinen unsichtbaren Freund dabei: Lupidi. 

Lupidi war es, mit dem ich auf dem Nachhauseweg noch einmal die entscheidenden Szenen des Tages durchspielte.

Ich weiss nicht, wo er herkam, und auch nicht, warum er diesen Namen trug. Aber er war da. Lupidi war kein wahnsinnig inspirierender Typ; er war auch kein guter Beschützer oder mutiger Draufgänger. Er war es aber, mit dem ich auf dem Nachhauseweg noch einmal die entscheidenden Szenen des Tages durchspielte.

In Therapeuten-Manier reflektierten wir die peinlichen Momente und in unserer Nacherzählung wurden aus kleinen Katastrophen glorreiche Triumphe. Einmal gab es im Kindergarten frischgebackenes Brot, und als der warme, duftende Laib aus dem Ofen geholt wurde, riefen die Kinder wild durcheinander und bettelten um den Brotanschnitt, in dieser Region Deutschlands «Knust» genannt. Ich, kaum der Sprache mächtig, rief im Chor mit: «Ich will den Knust!, Ich will den Knust!», ohne zu wissen, um was es ging.

Die Kindergärtnerin, um meine Integration bemüht, schenkte mir mit einem liebevollen Lächeln den Brotanschnitt. Ich war völlig perplex – warum gab man mir dieses blöde Endstück? Ich wollte doch einen «Knust»! Ich kämpfte mit den Tränen. Neben mir sass ein Mädchen aus der zweiten Kindergartenklasse, sie hatte ­wildes blondes Haar und unglaublich helle Augen und war mir schon am ersten Tag aufgefallen.

Sie beugte sich zu mir rüber und sagte im Gouvernanten-Tonfall: «Du – hast – den – Knust», jedes einzelne Wort betonend, als spräche sie mit einem Schwerhörigen und zeigte dabei auf das miese Endstück.

Auf dem Nachhauseweg spielten Lupidi und ich die Szene nochmal durch, aber in unserer Ver­sion legte die Gouvernante am Ende ihren Arm um mich und gab mir einen Kuss. So einer war Lupidi, immer dabei, wenn es darum ging, den schnöden Alltag ein bisschen aufzuhellen.

Lange Zeit dachte ich, ich würde ganz anders, wenn ich dereinst erwachsen wäre.

Eines Tages ist er dann nicht mehr aufgetaucht. «Ist Lupidi dabei?», fragte mich mein Vater, als wir auf dem Weg in die Sommerferien waren. «Nein», antwortete ich, «ich brauche ihn nicht mehr.» Das war natürlich nicht ganz wahr.

Lange Zeit dachte ich, ich würde ganz anders, wenn ich dereinst erwachsen wäre. Nie hätte ich gedacht, dass sich lediglich verschiedene Schichten von Erfahrungen ansammeln, wie Schalen um einen Kern, das Innere aber unverändert bleibt: ein Vierjähriger, der allein an einen neuen Ort geht, an dem er niemanden kennt. Begleitet von einem unsichtbaren Freund.

Mikael Krogerus
ist Autor und Journalist. Der Finne ist Vater einer Tochter ­und eines Sohnes und lebt in Basel. Von 2013 bis 2023 war er Kolumnist für das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi.

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