Einer krank, alle krank ... - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Einer krank, alle krank …

Lesedauer: 5 Minuten

Kindergartenkinder werden häufig von Virenerregern heimgesucht. – Weshalb? Wie kann man sich als Familie dagegen wappnen?

Abholen aus dem Kindergarten, die Fünfjährige wartet vergnügt mit einer Nachricht auf, die Panik auslöst. «Basil hat auf Lea gekotzt!» Nicht schon wieder! Es möge bitte eine Magenverstimmung sein, bloss kein Norovirus, von der die Kollegin mit den zwei kleinen Kindern gestern noch in düsteren Tönen warnte. Durchfall. Strapaziös. Hoch ansteckend. Hat es einer, haben es alle, Mutter, Vater, Kind.

Dabei ist die letzte Erkältungswelle doch gerade erst durch die Familie geschwappt.

Noch ist Sommerzeit, und wer Kinder hat, der betet drum, dass die warme Jahreszeit noch möglichst lange andauert, bitteschön. Denn den Herbst und Winter mögen wir nicht: Es ist die Zeit der Krankenstandsmeldungen. «Wir haben grad Magen-Darm, und ihr?», ist in diesen Wochen ein beliebter Gesprächseinstieg.

Die tatsächliche Gruppengrösse in Kindergärten und Horten schwankt enorm und erreicht im Januar ihr Jahrestief. Auf der Arbeit meldet sich jede Woche ein anderer Vater oder eine andere Mutter krank. 

Sind die Jahre mit Kindern ein einziger Staffellauf der Infektionskrankheiten?

Der Eindruck täuscht nicht. Mediziner registrieren im Herbst ein allmähliches Ansteigen des Hust- und Schniefgeschehens. Kurz nach Neujahr erreicht der Krankenstand seinen Höhepunkt, die Grippewelle rollt mit Macht durchs Land. Wenn es wärmer wird, nehmen Atemwegserkrankungen ab. Dafür suchen uns vermehrt Durchfallerreger heim. Prominente Ausnahme: Das Norovirus mag es winterlich kalt.

«Das Immunsystem der Kinder muss erst noch trainieren»

Kinderarzt Rolf Temperli

In der Infektsaison sehen Eltern ihren Kinderarzt meist häufiger als die besten Freunde. Kein Wunder, denn kleine Kinder haben den Erregern wenig entgegenzusetzen. «Das Immunsystem der Kinder muss erst noch trainieren», sagt der erfahrene Kinderarzt Rolf Temperli aus Köniz bei Bern. «Dabei lernt es.»

Der 59-Jährige ist Vorstandsmitglied im Berufsverband Kinderärzte Schweiz, hält Vorträge und bildet Kinderärzte und Medizinstudenten aus. Seine jahrzehntelange Praxiserfahrung deckt sich mit den Erkenntnissen aktueller Fachbücher: «Sechs bis acht Infekte pro Jahr sind völlig normal», sagt er. «Es ist auch nicht aussergewöhnlich, wenn ein Kleinkind im gleichen Monat sogar zweimal an einem Luftwegsinfekt erkrankt.»

Zu diesem Ergebnis kamen auch Philipp Latzin und seine Kollegen, die für die Swiss Pediatric Respiratory Research Group Eltern von Säuglingen im ersten Jahr über die Krankheitssymptome ihrer Kinder befragten. Einige Kinde wiesen bis zu 23 Wochen Erkältungssymptome auf.

 Das kindliche Immunsystem hat Schwierigkeiten Keime, Bakterien und Viren abzuwehren. 
 Das kindliche Immunsystem hat Schwierigkeiten Keime, Bakterien und Viren abzuwehren. 

Wann schlagen die Erreger zu?

Es heisst tatsächlich: Mindestens einmal im Monat schlägt ein Erreger zu. Denn das kindliche Immunsystem muss erst noch üben, Keime, Bakterien und Viren abzuwehren. Die ganz Kleinen haben es gut – in den ersten Lebensmonaten profitieren Babys noch vom Nestschutz der Mutter, einer Art Leihimmunität. Erfahrene Abwehrzellen schützen das Kind in der ersten Zeit, nicht vor allen, aber vor einer ganzen Reihe von Krankheiten wie Masern, Mumps, Röteln und vielen anderen Viruserkrankungen.

Nach einem halben Jahr lässt dieser Nestschutz aber nach. Dann müssen sich Kinder selbst mit ihrer Umwelt und den Keimen und Erregern auseinandersetzen. Dieses Trainingslager für Abwehrkräfte dauert einige Jahre, bis das Immunsystem mit etwa fünf Jahren recht stabil ist.

Sich mit der Umwelt auseinandersetzen – das bedeutet für immer mehr Kinder in der Schweiz: Betreuung im Kindergarten, Hort oder bei Tageseltern. Mittlerweile sind laut dem Bundesamt für Statistik über 60 Prozent der Kinder zwischen 0 und 12 Jahren in einer familienergänzenden Kinderbetreuung. Aus Sicht der Krankheitserreger ist das eine grossartige Entwicklung. Die laben sich am Rotznasen-Komplex: Viele unfertige Immunsysteme tauschen ungehemmt Keime aus.

Weshalb stecken sich auch Eltern an?

Die hohe Keimdichte in Kindertageseinrichtungen erklärt aber noch nicht, warum es Eltern so oft miterwischt. Denn eigentlich ist das Immunsystem der 25- bis 40-Jährigen in der Regel gut trainiert, und sie sind selten krank. Im Nationalen Gesundheitsbericht 2015 des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) beschreiben die 24- bis 44-Jährigen ihren Gesundheitszustand als ausgesprochen gut. Warum also schlagen die Erreger unserer Sprösslinge so ein?

Zunächst ist der Kontakt mit den eigenen Kindern naturgemäss innig. Wenn das Kind heult, wäscht man ihm nicht erst Hände und Gesicht mit Seife, bevor man es auf den Arm nimmt. Ausserdem gibt es eine Unmenge von Erregern – selbst geübte Immunsysteme müssen da gelegentlich passen. «Es gibt so viele Viren, die akute Atemwegserkrankungen auslösen», sagt Osamah Hamouda, Leiter der Abteilung Infektionsepidemiologie am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin. Allein vom Rhinovirus, das Erkältungen auslöst, kennt er über 100 Varianten. Das Risiko, dass ein Kind einen für die Familie neuen Erreger nach Hause bringt, ist also relativ hoch. Hamoudas Fazit: «Gegen Erkältungsviren entwickelt man keine lebenslange Immunität.»

Familien als Keimzellen der Gesellschaft

So macht die Kombination aus schwacher Immunabwehr der Jüngsten und hoher Kontaktquote in Kindergarten und Schule die Familien im Wortsinn zur Keimzelle der Gesellschaft . Nicht umsonst lautet die Empfehlung der amerikanischen Gesundheitsbehörde CDC, Kinder ab sechs Monaten gegen Influenza zu impfen. Den Fachleuten geht es nicht nur um das Wohlergehen der Kleinsten – son­dern auch um die Volksgesundheit. So schätzen Forscher in mathema­tischen Modellrechnungen für Deutschland, dass sich durch die Impfung von Kindern ab zwei Jah­ren in den folgenden zehn Jahren 23,9 Millionen Influenza­-Infektio­nen verhindern liessen. Das würde bedeuten, dass sich einer von drei Erwachsenen erst gar nicht ansteckt.

Nun mögen sich Eltern von die­sem Argument nicht überzeugen lassen, ihre Kinder gegen die Grippe zu impfen. Aber wenn das Infektszenario so unausweichlich ist, wäre es dann nicht gesünder für alle, die Kinder einfach zu Hause zu betreu­en, bis sie fünf Jahre alt sind und ihr Immunpanzer stabil ist? Trug­schluss, sagen Kinderärzte und Gesundheitsforscher. Studien legen nahe, dass der frühe Infektmarathon in Krippe und Kindergarten das bes­te Training fürs Immunsystem ist.

Frühe Infekte, spätere Stabilität?

So hat die kanadische Forscherin Sylvana Côté in einer Studie heraus­ gefunden, dass besonders Kinder, die in eine Krippe kommen, bevor sie zweieinhalb Jahre sind, in der Grundschule Gleichaltrigen gesund­heitlich überlegen sind und seltener fehlen.
 
Seit den 1990er­Jahren weiss man: Kinder, die im ersten Lebens­jahr mindestens zwei Infektionen mitmachen, erkranken später nur halb so häufig an Asthma wie Kin­der, die keine Virusinfekte hatten. Wichtig dabei ist: Das gilt für letzt­lich harmlose Infekte, die nach eini­gen Tagen überstanden sind. Kinder können bleibende Schäden davon­ tragen, wenn sie gefährliche Krank­heiten wie Masern oder Röteln durchmachen, für die Impfempfeh­lungen bestehen.

Auch die Eltern trainieren ihr Immunsys­tem. 

Die gute Nachricht für Eltern: Auch sie trainieren ihr Immunsys­tem. Wie sehr sie dafür in den ersten Lebensjahren ihrer Kinder leiden müssen, weisen die Statistiken leider nicht aus. Aber grundsätzlich fühlen sich Eltern nicht stärker gebeutelt als Nichteltern. Ganz im Gegenteil. So fanden Andreas Hirschi und sei­ne Kollegen am Institut für Psycho­logie der Universität Bern heraus, dass Eltern sogar zufriedener mit ihrem Leben sind. Sie befragten dafür über 500 Berufstätige und stellten fest, dass jene, die in ihrer Karriereplanung die Familienrolle stärker berücksichtigten, über eine grössere Zufriedenheit mit ihrer Karriere und ihrem Leben allge­mein berichteten.

Und auch den Kindern geht es jüngsten Untersuchungen zufolge allgemein gut. Den Gesundheitszu­stand ihrer 3­ bis 17-­jährigen Kin­der beschreiben 94 Prozent der Eltern als «sehr gut» oder «gut». Zu diesem Ergebnis kommt eine der grössten Datensammlungen zur Kindergesundheit, die Kinder­ und Jugendgesundheitsstudie KiGGS des Berliner RKI.

Welche präventive Handlungen gibt es?

Gute Gesundheit und trotzdem ständig Schnupfen. Am Ende bleibt eben, was man schon ahnte und Experten wie Kinderarzt Temperli so formulieren: «Die meisten Infekte hinterlassen keine lebenslange Immunität, das heisst leider – man erkrankt immer wieder.» Temperlis Trost: «Je besser das Immunsystem auf Infekte vorbereitet ist, umso sel­tener wird man erkranken.»

Wer also nicht nur tatenlos Bett­wache halten will, kann auch etwas tun – mit drei üblichen Handlungs­empfehlungen fürs Vorfeld: Stress­abbau, ausgewogene Ernährung und ausreichend Bewegung.

Zur Autorin:

Kristin Hüttmann  arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Den Infektionsmarathon kleiner Kinder kennt sie aus eigener leidvoller Erfahrung. Die Schnupfen- und Husteninfekte ihrer beiden Kinder hat sie fast alle mitgenommen. Und sich wie viele Eltern oft krank ins Büro geschleppt.
Kristin Hüttmann  arbeitet als freie Journalistin in Hamburg. Den Infektionsmarathon kleiner Kinder kennt sie aus eigener leidvoller Erfahrung. Die Schnupfen- und Husteninfekte ihrer beiden Kinder hat sie fast alle mitgenommen. Und sich wie viele Eltern oft krank ins Büro geschleppt.


In den Dreck – und Hände waschen!

Als vorbeugende Massnahmen für die Familiengesundheit eignen sich Stressabbau, ausgewogene Ernährung und regelmässige Bewegung. Und vor allem: raus mit den Kindern, rein in die Natur! Denn die Bakterien aus unserer Umwelt brauchen wir für unser Mikrobiom.

Diese Gemeinschaft von nützlichen Bakterien lebt in und auf unserem Körper und ist wichtig für unsere Gesundheit. In frühester Kindheit rekrutieren wir dafür die Organismen aus unserer Umgebung. Bakteriologen glauben: Je vielfältiger diese sind, desto robuster ist am Ende auch die Gemeinschaft schützender Begleiter, die uns bei der Abwehr vieler Infektionen hilft.

Und trotzdem: Auch das trainierteste Immunsystem kapituliert zuweilen vor der Vielfalt der Erreger. Besonders Atemwegsinfekte machen uns allwinterlich erneut zu schaffen.

Deshalb ist und bleibt regelmässiges, korrektes Händewaschen das Mittel der Wahl gegen Mini-Epidemien in der Familie. Normale Flüssigseife reicht dafür völlig aus, Desinfektionsmittel oder antibakterielle Seifen sind nicht notwendig.