Probleme und Streitereien am Esstisch? -
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Probleme und Streitereien am Esstisch?

Lesedauer: 4 Minuten

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul über Streitereien am Tisch, die Frage, was Eltern tun können, wenn das Kind «nichts isst» – und warum es ratsam ist, den Nachwuchs bei der Lösung eines Konflikts miteinzubeziehen.

Text aus: Jesper Juul
Illustration: Petra Dufkova/Die Illustratoren

Wenn Kinder «wählerisch» sind, also nur sehr wenige Gerichte essen mögen, dann ist dieses Verhalten nicht angeboren. Es sind immer die Eltern, die durch ihr bewusstes oder unbewusstes Handeln ihr Kind beeinflussen. Was aber bedeutet wählerisch? Ist ein Kind wählerisch, weil ihm zehn Gerichte nicht schmecken? Oder wenn es 30 bis 40 Speisen nicht isst? Ich kenne die genaue Definition nicht.

Eltern, die Angst haben, ihr Kind könnte wählerisch werden, oder der Meinung sind, dass es bereits der Fall ist, sind aber gut beraten, sich klar darüber zu werden, was sie mit dem Wort eigentlich meinen.

Der Ausdruck «wählerisch» ist einer von vielen negativ besetzten Begriffen, die wir im Zusammenhang mit Kindern verwenden. Ihnen gemeinsam ist, dass sie aus einer Zeit stammen, als Erwachsene das Verhalten von Kindern automatisch negativ interpretierten, weil sie nicht unmittelbar einen Sinn dahinter entdecken konnten.

Ein Kind, das ein gleichwürdiges Interesse an seinen Geschmackserlebnissen spürt, wird weitaus mehr dazu neigen, einem bestimmten Gericht beim nächsten Mal eine neue Chance zu geben, wenn es auf dem Tisch steht.

Ein Beispiel: «Der Reis ist heute gelb, weil ich Curry hineingegeben habe. So hast du ihn noch nie probiert. Was meinst du?» Dagegen wird das Kind, das die Besorgnis, die Überredungsversuche, das Beharren und andere Formen der Manipulation der Eltern wahrnimmt, mit dem schlechten Geschmack über das ganze Erlebnis im Mund alleingelassen.

Persönliche Erlebnisse prägen die Ernährung

Das Geschmacksrepertoire von Kindern entfaltet und entwickelt sich in den ersten sechs bis sieben Lebensjahren. In diese Zeit fallen die persönlichen Erlebnisse, die ihre Ernährung für den Rest des Lebens regulieren werden. Ab dem Schulalter treten lange Phasen auf, in denen sie keinen gesteigerten Wert auf diese Erlebnisse legen, sondern das essen, was ihre Altersgruppe nun einmal isst.

Es geht darum, dass sich alle am Tisch willkommen und wertgeschätzt fühlen.

Erst wenn sie erwachsen sind, beginnen sie von Neuem, individueller zu handeln und an die Erfahrungen und Erlebnisse der ersten Jahre anzuknüpfen. Kochen Sie deshalb weiterhin ganz beruhigt aus guten Zutaten gutes Essen, das den übrigen Familienmitgliedern gut schmeckt.

Und: Der tiefere Sinn besteht nicht darin, dass alle Familien mit Kindern ein À-la-carte-Restaurant eröffnen, sondern dass sich alle Mitglieder in der Familie am Tisch gleichermassen willkommen und wertgeschätzt fühlen.

Dauernde Sorge ist schädlich

Mit der Behauptung, «ihr Kind esse nichts», meinen Eltern zum Glück meistens «fast nichts» und nicht allzu selten «sehr viel weniger, als es unserer Meinung nach essen sollte». Entscheidend ist nicht, wie viel das einzelne Kind isst, sondern ob es wächst, sich normal entwickelt und wie viel Lust es auf das Leben hat.

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass Eltern, die sich sehr viele Gedanken darum machen, dass ihr Kind «nichts» isst, eine schlechte Ausgangsposition haben. Damit meine ich, dass sie aus unterschiedlichen Gründen die Hauptaspekte ihrer Energie, Aufmerksamkeit, Fürsorge und Liebe darauf konzentriert haben, dass ihr Kind genug zu essen bekommt. Nicht einfach nur genug, sondern das «Richtige» und davon gern reichlich.

Der Appetit aller Kinder schwankt von Zeit und Zeit.

Eltern haben gute Gründe für ihr Verhalten, müssen aber damit so schnell wie möglich aufhören. Nicht nur mit Blick auf die physische Ernährung des Kindes, sondern vor allem, weil die ständige Sorge sich schädlich auf das Selbstwertgefühl und die Lebensenergie des Kindes auswirkt.

Folglich besteht bei der unbegründeten Sorge der Eltern die Gefahr, dass es sich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung auswächst. Kinder zweifeln an ihrem eigenen Wert als Menschen. Nicht weil die Liebe eine falsche Form angenommen hat, sondern weil Kinder absolutes Vertrauen zu ihren Eltern haben. Deshalb kommen sie immer zum Schluss, sie müssten den Fehler bei sich suchen, sobald etwas nicht stimmt.

Hinzu kommt: Der Appetit aller Kinder schwankt von Zeit und Zeit. Es gibt Phasen, in denen ihr Organismus viel Nahrung braucht, und andere, in denen er mit weniger auskommt. Normale, muntere und gesunde Kinder können leicht bei vielen Mahlzeiten hintereinander vergessen, ihren Teller leer zu essen, wenn sie mit Spielen, ihren Freunden oder Hausaufgaben beschäftigt sind. Bieten Sie ihnen zwischendurch etwas zu essen an, aber vermeiden Sie Ermahnungen und schlafen Sie ruhig. Die Kinder werden daran nicht sterben.

Verschieben Sie die Aussprache!

Kinder nehmen keinen Schaden, wenn ihre Eltern unterschiedlich denken und handeln. Ganz im Gegenteil ist es ein grosser Vorteil, zwei unterschiedliche Elternteile zu haben. Es wird nur dann zu einem Problem für die Kinder, wenn sie die ganze Zeit erleben, dass sie die Ursache für die Streitereien am Tisch sind. Folgende Faustregeln können nützlich sein, um eine dauerhaft getrübte Stimmung bei den Mahlzeiten zu vermeiden:

  • Taucht ein Konflikt auf, der nach Wissen der Eltern erfahrungsgemäss zu einem länger andauernden Streit führen kann, ist es das Klügste, man verschiebt die Aussprache auf einen späteren Zeitpunkt.
  • Wenn sich die Eltern sicher sind, dass der Konflikt sich mit allgemeinen Verhandlungen lösen lässt, spricht nichts dagegen, die Zeit am Tisch auch für die Lösung des Problems zu nutzen. Kinder mögen Konflikte zwischen den Eltern nicht, aber es gehört zum Leben dazu.
  • Bei der Diskussion muss es um die unterschiedlichen Standpunkte oder Umsetzungen in die Praxis durch die Eltern gehen, nicht darum, was am Kind falsch oder richtig ist.
  • Erweist es sich als unmöglich, innerhalb eines überschaubaren Zeitraums zu einer Lösung oder einem Kompromiss zu finden, tut man gut daran, die «Macht» dem Elternteil zu übergeben, der am wenigsten unbeholfen und restriktiv ist, bis beide Seiten eine dauerhafte Lösung gefunden haben.
  • Beziehen Sie die Ansichten Ihres Kindes mit ein. Die Diskussionen der Erwachsenen fallen oft intelligenter aus, wenn ein Kind mitreden darf.
  • Handelt es sich um einen Konflikt zwischen einem Elternteil und dem Kind, tut man gut daran, dass sich der andere Erwachsene entweder aus der Sache heraushält oder versucht, den beiden anderen bei der Suche nach einer Lösung zu helfen. Nie ist es konstruktiv, sich mit einer der beiden Seiten zu verbinden.
  • Eltern quälen sich oft mit dem Anspruch, auf alles eine Antwort und für alle Konflikte eine Lösung zu finden. Das kann erstens niemand leisten und zweitens ist es langfristig viel besser für die Entwicklung des Kindes und das Zusammenspiel der Familie, wenn die Eltern zu ihrer Unsicherheit und ihren Meinungsverschiedenheiten stehen.

In Zusammenarbeit mit familylab.ch

Jesper Juul
Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat wie kein anderer in den vergangenen Jahrzehnten Menschen mit seinen Erziehungs- und Beziehungsprinzipien geprägt. Der Gründer von familylab, einem Beratungsnetzwerk für Familien, und Autor von über 40 Büchern («Dein kompetentes Kind», «Aus Erziehung wird Beziehung») starb am 25. Juli 2019 im Alter von 71 Jahren nach langer Krankheit in Odder, Dänemark. Er war zweimal verheiratet und hinterlässt einen Sohn aus erster Ehe und zwei Enkelkinder.

Alle Artikel von Jesper Juul

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