Wie wir entschleunigen... - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wie wir entschleunigen…

Lesedauer: 6 Minuten

Auf der Alp, im Ökodorf, mit weniger Arbeitszeit – drei Familien erzählen, wie ihnen Entschleunigung im Alltag gelingt.

Denise de Gois: Aus dem Hamsterrad ins Ökodorf (Hauptbild)

Vor drei Jahren zog ich mit meinen beiden Töchtern Léa und Jael ins Ökodorf Sennrüti in Degersheim SG. Mein Leben als alleinerziehende Mutter war oft stressig gewesen. Von einer gemeinschaftlichen Lebensform erhoffte ich mir mehr Zeit fürs Wesentliche. Dieser Wunsch ist in Erfüllung gegangen. 27 Erwachsene und 20 Kinder und Jugendliche leben derzeit im ehemaligen Kurhaus, das wir Schritt fu?r Schritt nach unseren Bedürfnissen umgestalten. Wir sind eine Mehrgenerationengemeinschaft, wollen voneinander lernen und miteinander wachsen. Wir kommen aus über 30 verschiedenen Berufsgruppen, jeder bringt sich nach Kräften und Interesse ein – beim Umbau, in der Gemeinschaftsküche, im Garten, in Veranstaltungen für Besucher und Themen, welche die Gemeinschaft betreffen. 

Meine Mädchen und ich haben unsere eigenen vier Wände. Trotzdem sind wir Teil einer Gemeinschaft, auf die wir uns verlassen können. Zum Beispiel ist immer jemand für die Kinder da, wenn man als Eltern wegmuss. In der Gemeinschaftsküche wird täglich gekocht, wer Hunger hat, isst mit. In der Bibliothek darf sich jeder bedienen, ebenso in der Boutique, wo wir Kleider hinbringen, die wir tauschen oder einander leihen wollen. Weil wir vieles teilen, sinkt der finanzielle Druck auf den Einzelnen. Ich lebe heute entspannter, weil die Dinge nicht mehr an mir allein hängen.

Viele Kinder aus dem Ökodorf, auch meine, besuchen die private Monterana-Schule gleich im Ort. Dort lernt jedes Kind in seinem eigenen Tempo, es bestimmt selbst, welchen Inhalten es sich widmen will. Seither ist meine ältere Tochter richtig aufgeblüht. Vorher, in der Staatsschule, kam sie oft nicht mit. Ich finde es schön, dass die Eltern in unserer Gemeinschaft sich über die Zukunft ihrer Kinder nicht den Kopf zerbrechen. Wir vertrauen darauf, dass der Nachwuchs es richtig macht, und wir stärken einander in dieser Überzeugung. Wenn ich sehe, was für tolle junge Menschen hier herangewachsen sind, mache ich mir keine Sorgen. Im Ökodorf habe ich nicht nur mehr Ruhe, sondern auch die Liebe gefunden. Florian und ich lernten uns vor zwei Jahren kennen, 2014 kam unsere Tochter Mala auf die Welt. Florian wohnt gleich um die Ecke, ebenfalls in der Gemeinschaft.

Nicht ständig Neues anreissen, einfach zusammen da sein 

Ich freue mich, wie gut es uns gelingt, Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung untereinander aufzuteilen. Ich arbeite einen halben Tag die Woche hier im Sekretariat, dann noch in einer Demeter-Gärtnerei und als Yogalehrerin. Am liebsten würde ich nur noch Yogastunden geben, aber das reicht nicht, um die Privatschule zu bezahlen. Das ist, wie ich finde, ein gewisser Widerspruch zu meiner Philosophie, mich von ökonomischen Zwängen zu befreien. Doch im Moment fällt mir keine bessere Lösung ein. Wünsche erfüllen sich eben nicht immer auf Anhieb – die Erfahrung machen wir auch im Ökodorf. Manchmal sind wir schlicht zu übereifrig. Und so geschieht es bisweilen, dass jene, die dem Hamsterrad entfliehen wollten, sich hier ein neues schaffen: Besprechungen hier, Arbeitsgruppen dort, Projektsitzungen da. Wir haben so viele Ideen! Bei einer Gruppensitzung im letzten Jahr kam deutlich heraus, dass sich viele Entschleunigung wünschen: nicht ständig Neues anreissen, sondern einfach zusammen da sein. Seither setzen wir vermehrt Prioritäten – und gehen es ruhiger an.

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Dieser Artikel stammt aus dem Online-Dossier Achtsamkeit

Wie entschleunigt man das hektische Familienleben? Was bringen Achtsamkeitsübungen? Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie unser grosses
Wie entschleunigt man das hektische Familienleben? Was bringen Achtsamkeitsübungen? Nehmen Sie sich die Zeit und lesen Sie unser grosses Online-Dossier zum Thema Achtsamkeit und Entschleunigung.

Céline Fluri und Simone Bretscher: Abschalten auf der Alp 

In den vergangenen drei Jahren haben wir jeden Sommer abseits der Zivilisation verbracht. In einer kleinen Hütte, mit ein paar Ziegen ums Haus und 80 Rindern und Mutterkühen, für die wir sorgten. Dieses Jahr werden wir nicht mehr auf die Alp gehen. Es ist nun an der Zeit, die Einsichten, zu denen wir da oben gekommen sind, in unserem täglichen Leben umzusetzen.

Wir sind beide Grafiker und selbständig. Simon arbeitete zuletzt wenig auf dem Beruf, er war damit beschäftigt, seinen Master in visueller Kommunikation abzuschliessen, daneben war er als Springer am Theater engagiert.

Céline versucht, ihre Aufträge so zu organisieren, dass sie sie erledigen kann, während die Mädchen in der Kita sind. Das klappt nicht immer, Anfragen kommen eben, wann sie wollen. Und es ist schwierig, etwas Interessantes abzulehnen, bloss weil es am falschen Tag hereinschneit. Man müsste es dennoch öfter tun. Als Simon noch beim Theater war, wussten wir jeweils erst ein paar Tage im Voraus, wie sein Arbeitsplan in der Folgewoche aussehen würde. Der Stress war vorprogrammiert, unsere Wochenplanung ein Kraftakt. Es ging oft nicht auf. Dann verschoben wir die Arbeit auf den späten Abend, wenn die Kinder schliefen. Das laugt einen aus.

Auf der Alp bleibt die Zeit stehen. Du kommst an, und du fühlst es fast körperlich, wie der Stress von dir abfällt. Jeden Tag bleibt einer zu Hause, schaut zu den Kindern und melkt die Ziegen, während sich der andere zum Vieh aufmacht. Man zählt die Tiere, schaut nach ihrem Wohl, kontrolliert Zäune und Wasserstellen. Wenn sie eine Weide abgefressen haben, zäunt man weiter oben ein neues Stück ein. Das muss rechtzeitig geschehen, sonst drücken sich die hungrigen Tiere womöglich durch den Zaun und laufen Gefahr, abzustürzen. Je weiter oben die Rinder weiden, desto länger dauert der Fussmarsch von der Alphütte aus; manchmal nimmt der fast den ganzen Tag in Anspruch.

Auf der Alp hast du, wenn du so willst, handfeste Probleme: Haben die Tiere noch Futter, sind die Zäune intakt? Falls nicht, weisst du, was dir blüht. Ganz anders als im Arbeitsleben, wo uns so viel virtueller Kram belastet, dass wir mitunter die Übersicht verlieren: eine Optimierungsmassnahme hier, ein Mailing da, ein Anruf dort – und möglicherweise genügt es dann immer noch nicht. In den Bergen haben wir schätzen gelernt, was wir vorher ein wenig verpönt hatten: den geregelten Tagesablauf. Wenn du genau weisst, was es wann zu tun gibt, kannst du irgendwann ein Häkchen unter die Dinge setzen. Dann weisst du: Die Arbeit ist für heute zu Ende, und daran rüttelt keiner. Das entspannt ungemein!

Was wir von der Alp mitgenommen haben? Die Einsicht, dass wir etwas ändern müssen. Es kann nicht sein, dass wir jeden Sommer abschalten, und dann geht, kaum zu Hause, der ganze Stress von vorne los. Erste Schritte in Richtung Entschleunigung haben wir bereits unternommen: Wir sind von der Stadt ins Grüne gezogen, und Simon hat seinen Job am Theater gekündigt. Er sucht jetzt eine geregelte Teilzeitstelle – vermutlich auf seinem ursprünglichen Beruf als Zimmermann. Wir haben aufgehört, dem hochtrabenden Ideal der beruflichen Selbstverwirklichung hinterherzujagen. Der Preis dafür ist zu hoch. Das Wertvollste, das wir haben, ist Zeit, die wir miteinander verbringen können.

10/11 ...und diese selbst geniessen.
Familie Bonato zu Hause.

Familie Bonato: Weniger Geld, mehr Gelassenheit

«Ihr habt doch ein Schoggileben!» Unser Lebensmodell verleitet Bekannte und Freunde gerne einmal zu Kommentaren; sie waren bis jetzt aber nie böse gemeint, meist will man uns ein bisschen necken. Manchmal schwingt auch Bewunderung mit, viele finden es toll, dass wir die Möglichkeit haben, uns mehr Zeit für die Familie zu nehmen. Auch wir sind dankbar dafür – gleichzeitig wollen wir nicht den Eindruck erwecken, dass uns die Dinge einfach in den Schoss fallen. Wir haben uns dafür entschieden, weniger zu arbeiten – aus Überzeugung.

Als vor sieben Jahren unsere Tochter Ilona auf die Welt kam, reduzierte Rahel ihr Pensum als Direktionsassistentin bei der Schweizerischen Nationalbank auf vierzig Prozent. Walter hatte gerade eine aufwendige Weiterbildung abgeschlossen, er wollte darum erst einmal Gas geben im Beruf. Es dauerte aber nicht lange, bis ein anderer Wunsch an diese Stelle trat: mehr Zeit für die Familie haben. Mit dem ersten Kind kamen das Staunen über seine Entwicklung und die fast wehmütige Erfahrung, wie schnell diese vonstatten geht. Man will nichts verpassen. Umso mehr freute es uns, dass dieser Wunsch auch bei Walters Arbeitgeber, einer Krankenversicherung, auf offene Ohren stiess: Die Abteilung für Unternehmensentwicklung, wo er arbeitet, bewilligte das 80-Prozent-Pensum ohne Probleme.

2010 und 2012 kamen Rafael und Marius dazu, und mit ihnen die Herausforderung, zwischen Arbeit und Familienleben eine neue Balance zu finden. Dabei haben wir einiges ausprobiert, es hat Zeit gebraucht und, ja, auch Nerven gekostet, die Lösung zu finden, mit der wir uns heute wohlfühlen. Rahel reduzierte im Job zunächst auf 20 Prozent, war damit aber nicht lange glücklich, weil sie sich im Büro eher wie eine Besucherin denn ein Teammitglied vorkam. Sie erhöhte ihr Arbeitspensum wieder auf zwei Tage, derweil Walter ein 70-Prozent-Pensum beantragte. ?Die gewonnenen 10 Prozent würde er als zusätzliche Ferientage beziehen. Vom Vorgesetzten gabs auch diesmal grünes Licht – verbunden mit dem Hinweis, dass die Aufstiegschancen nun beschränkt sein könnten.

Das nimmt Walter in Kauf. Ob er es eines Tages bereuen wird, seine Karriere nicht vorangetrieben zu haben? Schon möglich. Wir lassen die Frage offen, plagen uns aber nicht damit. Ähnlich halten wir es mit der Tatsache, dass wir momentan weniger auf die Seite legen können. Irgendwann haben wir bestimmt wieder die Möglichkeit dazu. Das Wichtigste ist, dass es uns im Alltag an nichts fehlt. Das, was uns Spass macht, kostet ohnehin nicht die Welt: Die Ferien verbringen wir oft in der Nähe, unsere Freizeit in der Natur. Wir freuen uns darüber, endlich mehr Zeit zur freien Verfügung zu haben, und über das Plus an Gelassenheit, das wir gewinnen. Zum süssen Nichtstun kommen wir trotzdem kaum, aber wir haben deutlich weniger Stress, seitdem wir bei der Kinderbetreuung weniger auf fremde Hilfe angewiesen sind und Engpässe selbst abdecken können.


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