«Egal wie blöd ein Kind tut – es hat ein Recht, nicht geschlagen zu werden» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Egal wie blöd ein Kind tut – es hat ein Recht, nicht geschlagen zu werden»

Lesedauer: 11 Minuten

Die Psychotherapeutin Sophia Fischer stellt fest, dass die Spannungen im Familien­alltag seit Beginn der Corona-Pandemie zunehmen. Kommt es in Basel zu einer polizeilichen Intervention wegen ­häuslicher Gewalt, besucht sie im Auftrag der KESB die betroffenen Familien. Sie spricht über Schläge als Erziehungsmittel, überforderte Eltern und das Schweigen der Kinder.

«Hallo, das hat ja gut geklappt», sagt die blonde Frau, deren Gesicht fast den ­ganzen Bildschirm ausfüllt. Es ist ein Dienstag­vormittag im Dezember 2020, die Empfehlung des Bundes lautet Home­office, Interviews werden grösstenteils digital geführt. So wie dieses Gespräch mit Sophia Fischer über häusliche Gewalt, ein Thema, das die Psychotherapeutin nicht nur in Pandemie-­Zeiten beschäftigt. Sie ist beim Kanton Basel-Stadt angestellt und leitet das Projekt «Erstinterventionen nach häuslicher Gewalt». «Ich hoffe, die Technik lässt uns nicht im Stich, wir sind zu Hause nicht so gut ausgestattet», sagt Fischer zu Beginn unseres Gesprächs. Doch das Interview läuft reibungslos, wie wir anderthalb ­Stunden später ­feststellen.

Frau Fischer, wie häufig sind Sie in Ihrem Berufsalltag mit Gewalt an ­Kindern konfrontiert?

Wenn die Polizei gerufen wird, dann aufgrund von Paargewalt. Aber man weiss: Wenn Paargewalt stattfindet, kommt es in 30 bis 60 Prozent der Fälle auch zu Gewalt an den ­Kindern. Nur sprechen die meisten Eltern nicht darüber, wenn die Polizei eintrifft, da sie sich schämen oder Angst haben, dass ihnen die Kinder entzogen werden.

Die Kinder sprechen doch sicher auch nicht mit der Polizei.

Richtig. Die Kinder befinden sich in einem grossen Loyalitätskonflikt und können nicht offen über das Erlebte reden. Es gibt aber durchaus betroffene Buben und Mädchen, die sich anderen Menschen wie Lehrpersonen, Schulsozialarbeitern oder Freunden anvertrauen. In diesen Fällen kommt die Gewalt ans Licht.

Sophia Fischer ist Psychotherapeutin mit Vertiefung Traumapädagogik und Traumatherapie und arbeitet im Kinder- und Jugenddienst (KJD) des Kantons Basel-Stadt als Leiterin des Fachbereichs Psychologie und als Leiterin des Projekts «Erstinterventionen nach häuslicher Gewalt» (Infos: Sophia.Fischer@bs.ch). Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Basel. Der KJD ­unterstützt, berät und informiert Kinder und Jugendliche und an der Erziehung beteiligte Personen. Entweder werden die Familien freiwillig begleitet oder durch eine Verfügung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB.
Sophia Fischer ist Psychotherapeutin mit Vertiefung Traumapädagogik und Traumatherapie und arbeitet im Kinder- und Jugenddienst (KJD) des Kantons Basel-Stadt als Leiterin des Fachbereichs Psychologie und als Leiterin des Projekts «Erstinterventionen nach häuslicher Gewalt» (Infos: Sophia.Fischer@bs.ch). Sie ist Mutter von zwei Kindern und lebt mit ihrer Familie in Basel. Der KJD ­unterstützt, berät und informiert Kinder und Jugendliche und an der Erziehung beteiligte Personen. Entweder werden die Familien freiwillig begleitet oder durch eine Verfügung der Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB.

In einer Studie der Universität ­Freiburg, die von Kinderschutz Schweiz in Auftrag gegeben wurde, heisst es, dass ­hierzulande etwa jedes 20. Kind ­regelmässig körperlich bestraft wird.

Die Studie hat gezeigt, dass rund die Hälfte aller Eltern Körperstrafen anwenden, die meisten jedoch selten und wenn, dann vor allem körperliche Züchtigungen wie eine Ohrfeige oder einen Klaps auf den Po. Doch Schätzungen zufolge sind in der Schweiz etwa 130 00 Kinder regelmässig von Gewalt betroffen, teilweise auch von schwerer Gewalt wie Schlägen mit Gegenständen oder Fusstritten, ebenso von psychischer Gewalt.

Betrifft das eher Buben oder Mädchen?

Da Buben in ihrem Verhalten oft aktiver und verhaltensauffälliger sind, werden sie auch häufiger körperlich gezüchtigt. Es stellt sich nur die Frage, ob sie aufgrund der Gewalterfahrungen verhaltensauffällig werden oder ob sie aufgrund ihrer Verhaltensauffälligkeit mehr Gewalt erfahren. Aber ich möchte an dieser Stelle betonen, dass es uns nicht nur um Gewalt geht, die an Kindern selbst ausgeübt wird. Viele Buben und Mädchen werden auch Zeugen von Paargewalt. In manchen Befragungen berichtete jeder fünfte Jugendliche, dass seine Eltern in der Vergangenheit gegenseitig Gewalt ausgeübt hätten. Was vielen nicht bewusst ist: Dieses Miterleben kann genauso negative Einflüsse auf die kindliche Entwicklung haben. Die Folgen sind ähnlich.

Dann lassen Sie uns in diesem ­Interview immer von beiden Formen häuslicher Gewalt sprechen, von ­Paargewalt und direkter Gewalt an Kindern. Welche Familien sind davon am häufigsten betroffen?

Häusliche Gewalt ist meist ein ­Thema in hochbelasteten Familien. Dort, wo Risikofaktoren wie Arbeitslosigkeit, finanzielle Sorgen, soziale Isolation aufgrund von Migration gehäuft vorkommen, ist die Wahrscheinlichkeit, dass es zu häuslicher Gewalt kommt, sehr viel grösser. Aber es kann genauso gut sein, dass in einer Oberschichtfamilie ein Elternteil psychisch erkrankt, was zu vermehrtem Stress und auch zu Gewalt führen kann. Die Frage, welche Konfliktlösungsstrategien wir erlernt haben und wie wir mit Stress umgehen können, ist grundsätzlich entscheidender als die Frage, welcher Schicht wir angehören. Aber es ist schon so: Viele betroffene Eltern, die wir zu sehen bekommen, stammen aus bildungsferneren Schichten, die finanziell schlecht dastehen.

Oder sie haben als Kind selbst Gewalt erlebt.

Richtig. Einige Betroffene kommen aus Ländern, in denen sie durch Krieg oder auf der Flucht Schreckliches erlebt haben. Aber es gibt auch viele hier in der Schweiz, die als Kind Gewalt erlebt haben – und bei denen das Risiko gross ist, dass sie später selbst Gewalt anwenden. In Stresssituationen greifen wir auf das Verhalten zurück, das wir gelernt haben. Diese Folgen versuchen wir den Eltern zu vermitteln: Buben, die geschlagen werden, üben häufig in späteren Beziehungen selbst Gewalt aus, und Mädchen ­finden sich in Beziehungen wieder, in denen ihnen Gewalt angetan wird.

Wann ist der Punkt erreicht, an dem ein Kind durch häusliche Gewalt ­Schaden nimmt, und mit welchen ­Folgen?

Die Folgen körperlicher Gewalt sind «dosisabhängig». Das heisst, eine grössere Intensität der Gewalt, die Kombination von verschiedenen Gewaltformen und eine längere Dauer des Gewalterlebens gehen mit schwerwiegenden Auswirkungen einher. Ausserdem reagieren Kinder häufiger mit Belastungen, wenn die Gewalt ausübende Person die eigene Mutter, der eigene Vater, sprich eine enge Bezugsperson ist.

Hängen die Folgen auch vom ­Entwicklungsstand des Kindes ab?

Das ist richtig. Schutzfaktoren spielen ebenso eine Rolle. Fördernde und schützende Faktoren wie ein stabiles, unterstützendes soziales Umfeld oder Erfahrungen von Selbstwirksamkeit beeinflussen positiv, wie Kinder mit Belastungen umgehen.

Wie meinen Sie das?

Gesetzt den Fall, das Kind hat grundsätzlich Vertrauen zu den Eltern und diese sprechen mit ihm über ihren «Ausraster» und entschuldigen sich dafür, dann hat das Kind ganz andere Möglichkeiten, dies zu verarbeiten, als ein Kind, mit dem die Gewalt nie thematisiert wird. Seine Eltern werden für das Kind unberechenbar und es bezieht das Geschehene auf sich selbst. Es wird die Schuld auf sich nehmen. Das stellt ein Risiko für eine ge­sunde Entwicklung dar.

Welche Risiken sind das?

Häufig haben diese Kinder Probleme damit, Emotionen zu regulieren, mit Stress konstruktiv umzugehen. Sie neigen beispielsweise zu Wutausbrüchen. Viele leiden unter Ängsten, Schlafstörungen, haben ein geringes Selbstwertgefühl, schämen sich. Wir haben Kinder, die auch in der Schule immer daran denken, was zu Hause passiert ist, und sich nicht konzentrieren können. Sie leiden unter Aufmerksamkeitsdefiziten, ihre Lernfähigkeit ist beeinträchtigt. In Freundschaften neigen diese Kinder zu gewalttätigen ­Auseinandersetzungen, was ihnen Schwierigkeiten bereitet. ­Diese Folgen müssen nicht sofort, sondern können Jahre später auftreten. Und ich möchte es noch einmal betonen: Wir sprechen jetzt nicht nur von den Kindern, die Gewalt am eigenen Leib erfahren, sondern auch von denjenigen, die miterleben, wie die Mutter oder das Geschwister geschlagen wird.

Wie fallen diese Kinder auf? Oder anders gefragt, wie verhält sich ein Kind, das häuslicher Gewalt ausgesetzt ist?

Es gibt keine Indikatoren, bei denen man sagen kann: Das Kind erlebt höchstwahrscheinlich häusliche Gewalt. Es gibt die offensichtlichen blauen Flecken. Dann ist aber schon sehr viel passiert. Wir haben auch manchmal Fälle, in denen Kinder beispielsweise in der Schule ansprechen, was sie zu Hause erleben. Wenn wir unsere Fälle anschauen, auch die schweren, dann ist bei uns zum Zeitpunkt des Vorfalls nur jedes zehnte Kind auffällig, hat Ängste oder nässt wieder ein in der Nacht. Allerdings können die Folgen auch zeitversetzt auftauchen oder wir können in dieser Momentaufnahme nicht alle identifizieren. Deshalb ist die Prävention so wichtig, sei es durch den Aufbau eines guten Aufklärungs- und Unterstützungsangebotes, polizeiliche Intervention oder die Sensibilisierung von Fachstellen.

Anders als in anderen europäischen Ländern ist in der Schweiz das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung nicht im Gesetz verankert.

Die Schweiz hat sich den UN-Kinderrechtskonventionen angeschlossen und darin ist das Recht des Kindes auf eine gewaltfreie Erziehung enthalten. Es gibt in der Schweiz aber kein Gesetz, in dem steht, dass man seine Kinder nicht schlagen darf. Es gibt aber irgendwann in der Gewaltausübung einen Punkt, an dem die Strafverfolgung aktiv wird, dann, wenn das Kindeswohl gefährdet ist. Dies greift nicht bei jeder Ohrfeige, aber auch nicht erst, wenn das Kind grün und blau geschlagen wird. Der Punkt, an dem gehandelt wird, ist stark kontextabhängig. Hat das Kind aus dem Affekt eine Ohrfeige bekommen? Wurde dies mit dem Kind besprochen? Ist es eine systematische Gewalt? Sind Schläge Mittel zur Züchtigung, die ganz bewusst eingesetzt werden?

Also ist eine Ohrfeige aus dem Affekt heraus okay?

Das möchte ich nicht so verstanden wissen. Auch marginale Gewalt hat eine Auswirkung auf Kinder. Aber weil man sein Kind mal fest am Arm gepackt hat, wird es nicht gleich ein Kindesschutzverfahren geben und auch kein Strafverfahren.

Was würde belasteten Familien ­helfen?

Sie bräuchten mehr Unterstützung und Bewältigungsstrategien bei den Stressfaktoren, die sie haben. In Beratungsgesprächen müssten Fragen wie «Was gibt es für Alternativen zu Gewalt in der Erziehung?», «Was passiert da mit mir, wenn ich das tue?», «Was hat mein Verhalten für Auswirkungen?» besprochen werden. Viele Eltern erzählen beispielsweise, dass es mit der Gewalt angefangen hat, als sich die Situation zu Hause geändert habe. Das kann die Geburt des dritten Kindes sein, die die Eltern ans Limit brachte. Trennungsphasen sind in Bezug auf Gewalt auch sehr gefährlich. Dann ist der Stress oder die Belastung sehr gross. Auch die Situation während des Lockdowns und vor allem die Schliessung der Schulen im vergangenen Frühling stellte für viele Eltern eine erhebliche Belastung dar. In dieser Zeit gingen die Fallzahlen nach oben.

Ist das betroffenen Eltern bewusst?

Die meisten Eltern haben schon ein Gefühl dafür, dass ihr Verhalten für die Kinder nicht gut ist, aber meistens ist dieses Gefühl diffus. Sie sagen uns Sachen wie «Die Kinder sind nicht auffällig, denen macht das nichts» oder «Sie haben geschlafen, als die Gewalt passiert ist, und gar nichts mitbekommen».

Was sagen Sie diesen Eltern?

Wir zeigen diesen Müttern und Vätern auf, was die Gewalt mit einem Kind macht, und versuchen mit ihnen gemeinsam zu erarbeiten, wie man die Kinder stabilisieren oder begleiten kann. Es ist sehr wichtig, das Tabu zu brechen, einfach mal darüber zu reden, ohne ihr Verhalten gleich zu verurteilen, und sie dafür zu sensibilisieren, dass die Kinder oft sehr viel mehr mitbekommen, als wir unmittelbar erkennen können oder sie uns mitteilen.

Nun gibt es Eltern, die aus einer ­Überforderung heraus zuschlagen. Diese Mütter und Väter sind für ein Hilfsangebot sicher empfänglich. Was ist mit den Eltern, die Gewalt als Erziehungsinstrument gutheissen?

Das sind sehr anspruchsvolle Gespräche. Wir haben Eltern, meist aus patriarchalisch geprägten Gesellschaftsstrukturen stammend, die sagen, dass es sie sehr irritiere, wie hoch Kinderrechte in der Schweiz gewertet würden, dass man hier so sehr auf die Kinder schaue. Es gibt aber auch gute Möglichkeiten, diesen Eltern die Folgen ihres Verhaltens aufzuzeigen, ohne ihre Erziehungskompetenzen in Frage zu stellen. Die schulischen Leistungen sind da oft ein guter Ansatz: «Ein Gehirn, das gestresst ist, kann nicht lernen.» Es geht darum, Alternativen mit ihnen zu erarbeiten, ohne ihre guten Absichten in Frage zu stellen.

Aber diese Einstellung betrifft doch nicht nur Migrantenfamilien. Den ­Leitsatz «Ein Klaps hat noch ­niemandem geschadet» würden auch einige Schweizer Mütter und Väter nach wie vor unterschreiben.

Diese Bagatellisierungen sind ein grosses Problem. Werden wir in unseren Gesprächen damit konfrontiert, konzentrieren wir uns auf die Folgen körperlicher Strafen: Auch wenn sie jetzt nicht auffällig scheinen, tragen diese Kinder an jedem Punkt in ihrem Leben ein erhöhtes Risiko, auffällig zu werden, psychische und körperliche Folgeerkrankungen zu entwickeln.

Untersuchungen zeigen, dass viele Babys und Kleinkinder von häuslicher Gewalt betroffen sind, zum einen als Zeugen von Paargewalt, aber auch am eigenen Leib. Warum ist das so?

Weil kleine Kinder die meiste Zeit zu Hause bei ihren Eltern sind. Buben und Mädchen dieses Alters sind massiv abhängig von ihren Eltern, auch körperlich. Die basalen Fertigkeiten, mit denen wir auf Stress reagieren, Kampf oder Flucht, haben diese Kinder überhaupt nicht. Sie haben keine Chance, sich abzuwenden oder irgendwie einen aktiven Einfluss zu nehmen. Viele dieser Kinder reagieren mit einer Art Erstarrung. Sie schalten einen Teil ihrer Wahrnehmung ab, was chronisch werden und in Stress­situationen immer wieder auftreten kann.

Man kann die Situation mit so kleinen Kindern auch nicht besprechen.

Genau. Das macht die ganze Situation für Babys unberechenbar. Sie wissen nicht, ist es gleich vorbei oder geht es noch drei Stunden? Das ist Dauerstress.

Und ältere Kinder? 

Ältere Kinder haben mehr Möglichkeiten, sie sind meist viel aktiver, manche gehen dazwischen, wollen das betroffene Elternteil beschützen. Aber auch dieses Aktivsein schützt sie leider nicht vor den Folgen von Gewalt. Sie tragen ein erhöhtes ­Risiko, selbst verletzt zu werden, und sie übernehmen eine Rolle innerhalb der Familie, die eigentlich nicht kindgerecht ist. Man kann aber die Gewalt mit älteren Kindern besser besprechen, was ihnen bei der Verarbeitung des Erlebten enorm hilft. Oft sind es die Eltern selbst, die die Polizei rufen. Das ist dann etwas, was wir bei ihnen als gute Strategie ansprechen, denn im Akutfall muss auf jeden Fall die Sicherheit des Kindes gewährleistet werden. Man weiss nie, wie sich eine Gewaltsituation weiterentwickelt. Kinder sind so stark darauf angewiesen, dass Hilfe von aussen kommt.

Sie kommen nicht in dieser ­Akutsituation?

Nein, die Polizeiberichte werden der KESB (Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde, Red.) zugestellt. Diese prüft, ob Kinder involviert sind und ob das Kindeswohl gefährdet ist. Wir bekommen dann von der KESB den Auftrag, einen Hausbesuch zu absolvieren, über den Gewaltvorgang zu reden und einzuschätzen, ob tatsächlich eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, der nachgegangen werden muss. Wir versuchen dann das Kind ins Zentrum zu stellen, herauszufinden, wie es ihm geht. Immer mit dem Wissen, dass die Gefahr besteht, dass es nichts dazu sagt. Die Bereitschaft der Eltern, ­Hilfe anzunehmen, ist sehr wichtig, denn von allein hört es meistens nicht auf. Die Not der Eltern, die hinter der Gewalt steht, sollte man gut anschauen.

Die Anforderungen an Eltern sind ­heute sehr, sehr hoch: Man soll sein Kind nicht anschreien, man darf nie richtig wütend werden, sollte ­möglichst geduldig bleiben. Was, wenn man das nicht schafft? Wann ist im Erziehungsalltag der Punkt ­gekommen, an dem ich mir als Mutter oder Vater Hilfe holen sollte?

Wenn man das Gefühl hat, man verliere die Kontrolle über das eigene Verhalten, wenn in einer Stresssituation die ganze Palette an möglichen Reaktionen ausgeschöpft ist und nur noch Schreien oder körperliche Gewalt bleibt. Das Gefühl «Ich kann mein Verhalten nicht mehr kontrollieren» ist ein wichtiges Alarm­signal. Wir haben in der Schweiz übrigens ein sehr gut ausgebautes Hilfsnetz an Beratungsstellen.

Oder man spricht mit einer vertrauten Person, einer Nachbarin oder ­Freundin.

Ja. Und es wird oft unterschätzt, wie wichtig es für Kinder ist, dass man mit ihnen über diese Vorfälle redet und ihnen dadurch hilft, das Geschehene einzuordnen. Wenn Kinder diese Möglichkeit nicht haben, nehmen sie das Erlebte mit, und das kann unter Umständen problematisch werden. Kinder sind – gerade im Vorschulalter – so egozentrisch. Sie beziehen so viel auf sich und haben das Gefühl, die Welt drehe sich nur um sie. Daher müssen sie explizit hören, dass die Gewalt nicht in ihrer Verantwortung liegt. Sie haben keine Schuld. Egal wie blöd ein Kind tut – es hat trotzdem ein Recht darauf, nicht geschlagen zu werden.


Häusliche Gewalt während der Corona-Pandemie

Wie hat sich das Familienklima in der Schweiz in der Corona-Pandemie verändert? Kam es zu mehr häuslicher Gewalt? Das Departement Soziale Arbeit der Hochschule Luzern hat hierzu eine repräsentative Langzeitstudie lanciert und mit dem Umfrageinstitut gfs.bern schweizweit 1037 Personen nach ihrem Befinden während des Lockdowns im Frühling 2020 und während eines Zeitraums von vier Wochen im Sommer befragt. 

5,5 Prozent der Befragten gaben an, dass es bei ihnen während des Lockdowns zu innerfamiliärer Gewalt gekommen sei. Im Sommer ging der Wert leicht zurück auf 5,2 Prozent, allerdings wurde hier ein Zeitraum von nur vier Wochen betrachtet, im ­Vergleich zum doppelt so langen Lockdown. Eine deutliche Zunahme zeigte sich bei der Gewalt gegenüber Kindern: 4,5 Prozent der Befragten mit Kindern im gleichen Haushalt gaben an, während des Lockdowns Gewalt an einem Kind ausgeübt zu haben. Im Sommer waren es 5,6 Prozent. Am ­häufigsten wurde ­psychische Gewalt genannt – insbesondere wiederholte Beschimpfungen. Relativ wenige gaben an, Opfer körperlicher oder ­sexueller Gewalt geworden zu sein. 

Besonders betroffen waren Familien in schwierigen Einkommensverhältnissen und mit einem ­konfliktbehafteten Klima. Auch Personen, die ältere Angehörige pflegten oder während der Arbeit Kinder betreuen mussten, haben vermehrt von Gewalt berichtet. «Die Pandemie erzeugt keine neuen Risikofaktoren, sie wirkt bei bekannten ­Faktoren verstärkend», so Co-Studienleiterin Paula Krüger. Auch wenn es nicht so aussehe, als sei es im Frühjahr zum befürchteten starken Anstieg innerfamiliärer Gewalt gekommen, scheine die Krise Folgen für das Familienklima zu haben. «Die Resultate deuten darauf hin, dass die lange Dauer der Pandemie an den Nerven der Bevölkerung nagt, was zu mehr Spannungen und Konflikten bis hin zu Gewalt in den Familien führen kann.»

Quelle: www.hslu.ch


Lesen Sie mehr zur häuslichen Gewalt:

  • «Angststörungen bei Kindern haben wegen Corona zugenommen»
    Noch nie gab es so viele kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle wie seit Beginn der Coronakrise. Dr. Brigitte Contin-Waldvogel, Chefärztin der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrie Baselland, erklärt im Interview, wieso die Pandemie Kinder und Jugendliche besonders hart trifft und welche psychischen Langzeitfolgen daraus entstehen können.
  • Herr Staubli, wie gehen Sie mit Kindesmissbrauch um?
    Georg Staubli ist Leiter der Notfallstation des Kinderspitals Zürich und dort auch Leiter der Kinderschutzgruppe. Der Kinderarzt erzählt, was schwere Fälle von Kindsmisshandlungen in ihm auslösen und warum körperliche Züchtigung als Erziehungsmassnahme noch existiert.
  • Wenn Mütter zuschlagen
    Angriffe auf den Partner, Gewalt gegen die eigenen Kinder: Solche Taten werden auch von Frauen verübt – sind aber stark tabuisiert. Dabei würde eine vermehrte Thematisierung den Opfern helfen und wäre für die Prävention wichtig. Denn Müttergewalt hat oft andere Ursachen als Vätergewalt.
  • Unterwegs mit der KESB
    Sie gilt als das umstrittenste Amt der Schweiz: die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde KESB. Für das Schweizer ElternMagazin öffnete die KESB der Stadt Bern einen Tag lang ihre Türen. Ein Einblick in die Arbeit der Menschen, die es scheinbar niemandem recht machen können.