Wenn Kinder ihre Eltern bedrohen und schlagen - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Wenn Kinder ihre Eltern bedrohen und schlagen

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Vor zwei Jahren rief Elternnotruf Schweiz das Beratungsangebot «Dranbleiben» ins Leben. Es richtet sich an Eltern, die sich von ihren Kindern bedroht fühlen. «Parent Battering» nennt sich das Phänomen. Wer sind die Täter und wer die Opfer?

Das 9-jährige Mädchen, das seiner Mutter in voller Absicht das Gesicht blutig kratzt; der 13-Jährige, der die ganze Wohnung für sich in Anspruch nimmt und sich weigert, zur Schule zu gehen; die 17-Jährige, die als Druckmittel den Vater der sexuellen Belästigung bezichtigt – das sind nur drei Fälle von vielen, in denen sich Eltern im vergangenen Jahr beim Elternnotruf gemeldet und das Beratungsangebot «Dranbleiben» in Anspruch genommen haben.
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Dieser Artikel ist Teil des Online-Dossiers Aggression bei Kindern.Hier finden Sie eine Übersicht mit allen relevanten Artikeln zum Thema. -> zum Dossier Aggression bei Kindern

Gut 20 Prozent der Anrufe, die beim Elternnotruf eingehen, kommen mittlerweile von Müttern und Vätern, die Angst vor ihren Kindern haben. «Man geht davon aus, dass in jeder zehnten Familie Eltern schon einmal körperlich von einem Kind angegriffen wurden. Und wir reden hier nicht von Kleinkindern, die durch Schlagen oder Haarereissen ihre negativen Emotionen körperlich ausdrücken», sagt Britta Went vom Elternnotruf. Es geht um Kinder, die bewusst Druck sowie verbale und körperliche Gewalt anwenden, wenn ihnen etwas nicht passt.

Laut US-Studien sind gut 14 Prozent der Eltern von «Parent Battering» betroffen. Eine Untersuchung der Technischen Universität Darmstadt spricht von 16 Prozent aller 14- bis 17-Jährigen, die verbale, psychische oder physische Gewalt gegen ihre Eltern ausüben. Ab 18 Jahren sinkt dieser Anteil auf 5,2 Prozent, dafür werden die Gewalttaten schwerer.
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Dieser Text stammt aus unserem grossen Dossier zum Thema Aggression aus dem Magazin 05/18. Die Ausgabe ist mittlerweile leider vergriffen. Im Online-Dossier Aggression bei Kindern finden Sie die einzelnen Artikel aus dieser Ausgabe und weitere Texte zum Thema. 

Weshalb kommt es zur Gewalt gegen die eigenen Eltern?

Gemäss einer Studie der amerikanischen Brigham Young University sind 57 Prozent der Attacken auf die eigenen Eltern körperlich. 82 Prozent richten sich gegen Mütter – fünfmal mehr als gegen Väter –, am meisten betroffen sind Alleinerziehende. 11 Prozent der Kinder sind unter 10 Jahren. Was das Alter angeht, gibt es allerdings unterschiedliche Aussagen. Laut US-Studien gehen am häufigsten die 15- bis 17-Jährigen auf ihre Eltern los, kanadischen Untersuchungen zufolge sind es eher die 12- bis 14-Jährigen.

Unter den Betroffenen sind Familien mit Migrationshintergrund genauso oft vertreten wie Schweizer Eltern, niedrig Qualifizierte genauso oft wie gut ausgebildete Eltern aus sozioökonomisch starken Schichten. «Was die meisten Opfer verbindet, ist ein Erziehungsstil, bei dem eine klare und liebevolle Führung fehlt und das Kind somit zu wenig Halt und Orientierung bekommt», so Britta Went. «Oft haben diese Kinder von klein auf alles bekommen, was sie sich wünschen, und die Eltern haben den Überblick verloren.»

 «Die veränderten sozialen Bedingungen ist unter anderem ein Grund warum Eltern vermehrt das Ziel von kindlichen Aggressionen werden.»

Haim Omer, Professors der Psychologie  an der Universität in Tel Aviv

Was in diesen Familien fehlt: liebevolle, elterliche Präsenz. Dieser Begriff wird häufig mit dem gleichnamigen Konzept des israelischen Autors und Professors der Psychologie Haim Omer von der Universität in Tel Aviv in Verbindung gebracht. Er sieht die veränderten sozialen Bedingungen als einer der Gründe, warum Eltern vermehrt das Ziel von kindlichen Aggressionen werden, gegen die sie sich kaum mehr wehren können. «Eltern sollen heute ihre Kinder gestalten, nicht bloss erziehen. Das ist nichts Schlechtes, macht die Erziehung aber um einiges schwieriger», sagt Omer. Er setzt der traditionellen Autorität von Eltern, die auf Distanz, Kontrolle, Gehorsam und strikter Hierarchie basiert, die «neue Autorität» entgegen, welche auf Nähe und entschlossene elterliche Präsenz setzt.

Viele Eltern holen zu spät Hilfe!

Das bedeutet zum Beispiel, dass Mütter und Väter Grenzen setzen, bei deren Überschreiten Konsequenzen folgen. Dass sie sich nicht auf Diskussionen einlassen, sondern klar äussern, wenn etwas inakzeptabel ist – und dass sie dem Kind dabei klarmachen, dass man das tut, weil die Tochter oder der Sohn einem eben nicht egal ist. Aus dieser Präsenz leitet Omer ein konkretes Programm ab, das betroffenen Eltern helfen soll. Es nennt sich «Der gewaltlose Widerstand». Auf dieser Haltung beruht auch das Programm «Dranbleiben» des Elternnotrufs.

«Vorzeichen, dass etwas ausser Kontrolle geraten könnte, zeigen sich meist schon sehr früh», sagt Haim Omer. Dem pflichtet Britta Went bei: «Schon 4-Jährige greifen ihre Eltern an oder versuchen, sie zu erpressen. Einmal rief eine alleinerziehende Mutter an, deren kleiner Sohn immer, wenn ihm etwas nicht passte, aufs Sofa stieg und Salz ausleerte – sie hatte regelrecht Panik vor dieser Situation.» Die meisten Eltern warten viel zu lange, bis sie Hilfe holen. Zum einen, weil sie dem Nachwuchs bis zu einem gewissen Alter noch körperlich überlegen sind, zum anderen aus purer Scham. 

Britta Wents Appell an Eltern, die fürchten, die Kontrolle über ihr Kind zu verlieren: «Je früher man sich Hilfe holt, desto eher kann eine problematische Entwicklung gestoppt werden.» Viele Eltern erhoffen sich vom Elternnotruf ein Patentrezept, das sofort funktioniert. Sie muss Brent enttäuschen: «So geht das leider nicht. Aber es ist auf jeden Fall bedeutend einfacher, wenn sich nicht bereits eine Spirale aus seelischer und/oder körperlicher Gewalt entwickelt hat, aus der alle nicht mehr so leicht herauskommen.» 

«Je früher man sich Hilfe holt, desto eher kann eine problematische Entwicklung gestoppt werden.» 

Britta Went, arbeitet beim Elternnotruf

Ziel des Projekts «Dranbleiben» sei es, die Eltern zu befähigen, aus der familiären Gewaltspirale auszusteigen, wieder handlungsfähig zu werden und der Gewalt ihres Kindes gewaltlos und zugleich wirkungsvoll entgegenzutreten. In einem Erstgespräch legen Fachpersonen des Elternnotrufs daher die zu erreichenden Ziele mit den Eltern fest. Weitere Beratungsgespräche folgen.

Wie sieht die Reaktion der betroffenen Eltern aus?

Viele Eltern reagieren auf verbale oder physische Attacken ihrer Kinder, indem sie sich in Auseinandersetzungen hineinziehen lassen. Sie diskutieren, drohen, schreien. «Das führt immer wieder zur Eskalation», so Haim Omer. «Je öfter das passiert, je länger das andauert und je älter das Kind wird, desto feindseliger wird die Atmosphäre zu Hause.» Ein klares Nein sei besser als verbales Tauziehen und gehöre auch gemäss der «neuen Autorität» zu den elterlichen Pflichten, sagt Omer.

Belohnen und Strafen steht der Psychologieprofessor kritisch gegenüber – «sie beschleunigen solche Gewaltspiralen in den meisten Fällen.» Sie seien allerdings in keiner Gesellschaft ganz auszuschliessen. «Die Erziehung darf aber nicht ausschliesslich darauf basieren, sonst wird es kontraproduktiv», so der Autor.

Strafen und Loben sind kontraproduktiv

Weder Haim Omer noch Britta Went halten zum Beispiel Handyentzug für eine adäquate Erziehungsmassnahme, wenn Kinder verbal oder physisch «ausflippen». «Das löst kein einziges Problem», sagt Britta Went. Im Falle des 13-Jährigen, der nicht zur Schule wollte, riet sie allerdings dazu, während der Schulzeit das Internet abzustellen: «Ausserdem sollte man das Kind auf keinen Fall krankmelden, sondern der Schule sagen, was los ist.»

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