«Wir leben freiwillig in einer Art Lockdown» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Wir leben freiwillig in einer Art Lockdown»

Lesedauer: 4 Minuten

Serie: Familien und Corona weltweit – Teil 3

Wie geht es Familien im Ausland in der Corona-Zeit? Was wünschen sie sich und wie werden sie Weihnachten verbringen? Wir haben uns auf die Suche gemacht und einige Familien in anderen Ländern befragt. Hier berichtet Meesha Chang, wie die Situation in den USA aussieht.
Meesha Chang, 42, kreative Beraterin, lebt mit John Witherow, 39, Art Director und ihren beiden Töchtern Lucia, 3.5, und Morgan, 1.5, in Pleasantville NY. Die Familie hat bis vor kurzem in Brooklyn gewohnt und ist im November upstate nach Pleasantville gezogen. 

Wie ist aktuell die Situation mit dem Coronavirus in Ihrem Land? 

Bei uns gelten die Regeln je nach Anzahl Fälle in der jeweiligen Region nach Postleitzahl. Die Situation ist in ganz Amerika dramatisch, ich schildere aber lediglich meine Eindrücke aus der Stadt New York und unserem neuen Wohnort rund eine Stunde nördlich von Manhattan. Je nach Anzahl der Fälle werden die Regeln angepasst, wie viele Personen gleichzeitig in einem Laden sein oder sich treffen dürfen. Mit verschiedenen Farben wird uns aufgezeigt, wie dramatisch die aktuelle Situation ist: Rot ist schlimm, grün OK. 

Bei uns in der Nähe gibt es ein paar Orte, die orange sind, die versuchen wir zu vermeiden. Viele Läden zeigen online an, wie stark frequentiert sie sind, so dass man Besuche planen kann. Überall muss Abstand gehalten werden. Inlandreisen sind erlaubt, man muss aber oft nach einer Reise in Quarantäne gehen, je nach Bundesstaat. 

In New York muss in allen Innenräumen eine Maske getragen werden. Ich sehe immer wieder Leute, die keine oder sie falsch tragen, beides regt mich extrem auf. Parks und andere öffentliche Anlagen werden desinfiziert. 

Ich bin grundsätzlich sehr vorsichtig, wir sind unter anderem auch wegen Corona aus New York weggezogen. Hier haben wir mehr Platz, können mehr in die Natur.

Wie ist die Arbeitssituation bei Ihnen und Ihrem Mann?

John arbeitet die meiste Zeit von zuhause aus. Wenn er im Büro ist, dann nur mit Maske und offenen Fenstern. Ich bin selbständig und seit wir umgezogen sind, habe ich noch keine Aufträge gesucht. Ich kümmere mich Vollzeit um die Kinder und den Haushalt. Durch den fehlenden Austausch mit anderen Kindern und weniger sportlicher Betätigung sind meine Mädchen oft nicht müde abends und unser Familienalltag ist sehr kräfteraubend für mich. Am Wochenende versuche ich mir eine Stunde «Me-Time» herauszunehmen. 

Wie geht es Ihren Kindern? Sind Sie noch in der Schule oder in der Kita?

Vor allem meine grössere Tochter vermisst ihre Freunde. Sie ist noch nicht in der offiziellen Preschool. Die Schulen im ganzen Land sind vielerorts schon lange zu und Freundinnen von mir sitzen stundenlang vor dem Computer mit ihren Kindern und betreiben «virtual learning». 

Wir spielen viel zuhause, machen Rollenspiele und treffen uns mit Freunden virtuell. Auch Babyshowers und Thanksgiving haben wir via Zoom gefeiert. Selten treffen wir uns auch mit Leuten draussen, vor allem wenn die Zahlen schlechter werden, halte ich mich zurück. Auch durch den Umzug sind meine Mädchen grad recht durcheinander und brauchen viel Aufmerksamkeit und Nähe. 

Warum sind Sie umgezogen?

Wir hatten zwar in Brooklyn einen kleinen Garten, wo die Kinder während des Lockdowns zumindest etwas raus durften, aber ansonsten waren wir recht eingesperrt in der Stadt. Während des Lockdowns haben wir vier Monate lang unser Essen nach Hause bestellt und sind nie rausgegangen ausser eben in unseren kleinen Garten. Trumps Anfeindungen gegenüber Asiaten haben zu mehreren rassistischen Angriffen in der Stadt geführt, ich hatte wirklich Angst, rauszugehen.  

Da unser Mietvertrag Ende Oktober ausgelaufen ist, haben wir diese Tatsache gleich genutzt und sind aus New York weggezogen. Das Büro von John ist hier in Pleasantville und so war die Ortswahl recht schnell klar. Nun muss er nicht mehr pendeln, auch wenn er meist von zuhause aus arbeitet. Wir konnten hier das Haus von Freunden mieten und schätzen uns sehr glücklich, wieder einen kleinen Garten zu haben. Viele Leuten wollten raus aus New York und der Immobilienmarkt hier ist ausser Rand und Band. Jetzt wo wir nicht mehr in der Stadt wohnen, merken wir erst, wie stressig alles war und wie glücklich wir sind, mehr Platz für unsere Familie zu haben. 

Wie fühlen Sie sich und wie geht es Ihren Kindern?

Es sind klar keine einfachen Zeiten, aber mir geht es gut und ich bin dankbar. Ich versuche, im Moment zu leben und bin glücklich, dass wir gesund sind. Die Kinder sind recht resilient und sind glücklich, wenn wir glücklich sind. Manchmal mache ich mir Sorgen und male mir schlimme Szenarien in Zusammenhang mit Corona aus. Das hilft mir aber, weiterhin strikt und vorsichtig zu bleiben und so wenig Leute zu treffen, wie nur möglich. 

Die Kinder geniessen es, dass beide Eltern zuhause sind und sie vor allem auch John häufiger sehen. Wir leben sehr zurückgezogen in einer Art freiwilligem Lockdown, aber für uns macht es so am meisten Sinn angesichts der hohen Zahlen im ganzen Land. Über Portal von Facebook, ein Smart Video-Device, sehen wir Freunde und Familie und spielen virtuelle Spiele oder erfinden interaktive Geschichten zusammen. Manchmal verstecke ich ein altes Spielzeug, um es ein paar Wochen später wieder hervor zunehmen – die Kinder merken es nicht und freuen sich. So gehen die Tage dann doch schnell vorbei. Zusammen mit Lucia und Morgan habe ich das Upcycling entdeckt, wir versuchen, alte Gegenstände in neue umzuwandeln. Das macht uns allen Spass und wir basteln, schminken und kochen uns die Tage schön. 

Was haben Sie an Weihnachten und Silvester vor?

Wir haben beschlossen, dass es am sichersten ist, wenn wir an Weihnachten und Silvester zuhause feiern. Ich habe meine Familie in Kalifornien nun schon ein Jahr nicht gesehen, das ist hart. Die Geschenke für die Kinder haben wir alle online bestellt. 

Was wünschen Sie sich für 2021?

Ich vermisse meine Freunde und Familie. Zudem kann nicht alles online bestellt werden und ich freue mich, einfach mal in einem Laden einen bestimmten Pot rote Farbe kaufen zu können. Zudem freue ich mich auf einen neuen Präsidenten, der es hoffentlich schafft, das geteilte Land wieder zusammenzuführen und zu heilen. Und ich bin sehr hoffnungsvoll auf die Impfung, die in ein paar Wochen da sein soll. 

Ich wünsche mir vor allem für meine Kinder, dass sie wieder mit anderen Kindern spielen und auf den Abstand verzichten können. 

Lesen Sie in Teil 4 unserer Serie Familien im Corona-Alltag auf der ganzen Welt, wie die Situation in Deutschland aussieht. Alle bisher erschienen Familienporträts können Sie hier nachlesen: Familien und Corona weltweit. 

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