«Frau Fredrich, wie leben arme Kinder in der Schweiz?» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Frau Fredrich, wie leben arme Kinder in der Schweiz?»

Lesedauer: 8 Minuten

In der Schweiz gelten rund 270 000 Kinder als arm oder von Armut bedroht.
Wie kann das sein, in einem so reichen Land? Bettina Fredrich von Caritas Schweiz über ein unsichtbares Phänomen, prekäre Lebensverhältnisse und einen Staat, der Familien besser unterstützen sollte. 

Ein moderner Bau unweit des mondänen Art Deco Hotels Montana in Luzern. Besucher gelangen hier nur bis zur Anmeldung. Wer weiter in die Räumlichkeiten von Caritas Schweiz vordringen möchte, muss eine verschlossene Glastür passieren. Bettina Fredrich, Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik, führt die Besucher in einen Besprechungsraum im obersten Stock: Fensterfronten bis zum Boden, der Blick schweift weit über das Luzerner Seebecken. «Ich dachte, wir führen unser Gespräch in einer angenehmen Atmosphäre», sagt Bettina Fredrich und lacht.

Frau Fredrich, die Schweiz gehört zu den reichsten Ländern der Welt. Trotzdem gibt es hierzulande Kinder, die als arm gelten. Wie geht es diesen Kindern? 

Natürlich ist die Armut in der Schweiz eine andere als beispielswei­se im Südsudan. Armut ist bei uns als Phänomen unsichtbar. Kinder leben hier nicht auf der Strasse und leiden selten Hunger. Daher spre­chen wir von einer relativen Armut. Rund 76 000 gelten hierzulande als arm und können an unserem gesell­schaftlichen Leben nicht teilhaben. 
Bettina Fredrich ist Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bern.   
Bettina Fredrich ist Leiterin der Fachstelle Sozialpolitik bei Caritas Schweiz. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von Bern. 

Wann gilt eine Familie als arm?

Die Armutsgrenze richtet sich nach dem Bedarf und wird von der Schweizerischen Konferenz für Sozi­alhilfe berechnet. Als arm gelten nach diesen Berechnungen zum Bei­spiel Eltern mit zwei Kindern, die weniger als 4900 Franken im Monat zur Verfügung haben – oder Allein­erziehende mit zwei Kindern, die über weniger als 4000 Franken monatlich verfügen. Das ist der Betrag, den man braucht, um über die Runden zu kommen. Er deckt die Wohnkosten, die Krankenkasse, die Kosten für den Grundbedarf – mehr nicht.

Mit anderen Worten: Eine von Armut betroffene Familie muss mit weniger als 20 Franken pro Tag und pro Person auskommen?

Das ist korrekt. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Familien, die knapp über dieser Grenze leben und jederzeit in die Armut abrutschen können. Rund 190 000 Kinder sind von solchen prekären Verhältnissen betroffen. Statistisch gesehen gibt es demnach in jeder Schulklasse ein von Armut betroffenes und zwei armutsgefährdete Kinder.

«Von Armut betroffene Kinder haben selten ein eigenes Zimmer. Ihnen fehlt ein ruhiger Ort.»

Bettina Fredrich von Caritas Schweiz

Welche Folgen hat es für Kinder, in solchen Verhältnissen aufzuwachsen? 

Die Konsequenzen sind vielfältig und betreffen oft verschiedene Lebensbereiche. Betrachten wir beispielsweise das Wohnen. Von Armut betroffene Kinder wohnen häufig sehr beengt. Selten haben sie ein eigenes Zimmer. Dadurch fehlt ihnen nicht nur ein ruhiger Ort für die Hausaufgaben, sondern auch ein Rückzugsort, an dem sie sich ausru­hen und entspannen können. Das fehlende Zimmer mag ausserdem ein Grund dafür sein, warum diese Kinder seltener Freunde einladen. Oft liegen preisgünstige Wohnungen zudem an verkehrsreichen Strassen und es gibt keine Möglichkeit, draussen frei zu spielen.

Mit welchen Folgen?

Kleine Kinder sind von Natur aus neugierig und lernen über das Spiel. Wer draussen spielt, erfährt zum Beispiel, dass Wasser im Kessel auf­gefangen werden kann, im Sand aber versickert. Wer keine Möglichkeit hat, solche Erfahrungen zu sammeln, gerät in einen Rückstand. Der Boden für Grundkompetenzen, die im späteren Leben wichtig werden, fehlt.

Bleibt diesen Kindern schon früh eine gesellschaftliche Teilhabe verwehrt? 

Sie können offensichtlich nur eingeschränkt teilhaben. So wird die Wahl des Hobbys zum Beispiel nicht von Interessen bestimmt, sondern den finanziellen Möglichkeiten untergeordnet. Oft ist eine Vereinsmitgliedschaft nicht finanzierbar. 

Es fragt sich, ob eine kostenpflichtige Freizeitbeschäftigung für ein erfülltes Kinderleben entscheidend ist?

Es geht nicht um Tanz- oder Reitstunden. Der Verzicht fängt auf einer ganz anderen Ebene an. Das Geld fehlt bereits für ganz alltägliche Dinge wie passende Winterstiefel, die Landschulwoche, das Geschenk für die Klassenkollegin oder das Klassenfoto. Ein dringliches Thema für armutsbetroffene Familien sind die Zahnarztkosten, die noch immer nicht Teil der Grundversicherung sind. Viele Familien schränken ihre Ausgaben zudem auf Kosten einer gesunden Ernährung ein. Dies hat direkte Auswirkungen auf die körperliche Entwicklung der Kinder. 

Besteht zwischen Krankheit und Armut eine Wechselwirkung?

Ja. Armut führt nicht selten zu Krankheit, da einerseits der Zugang zu Krankheitsleistungen sowie gesundheitsfördernden Leistungen wie beispielsweise Sport fehlt. Andererseits rutscht man als kranker Mensch aber auch leichter in die Armut ab.

Gibt es psychische Auswirkungen?

Grundsätzlich zeigt sich eine starke Wechselwirkung von Armut, Gesundheit und Widerstandskraft. So sind armutsbetroffene Kinder öfter übergewichtig und chronisch krank, und sie leiden häufiger an psychosozialen Beschwerden. Auch die Möglichkeit, Resilienz zu entwickeln, also psychische Widerstandskraft gegenüber Krisen, ist bei ihnen eingeschränkt. Sie erleben ihre Eltern oft ohnmächtig.

Inwiefern?

Wenn nach monatelangem Suchen noch immer keine angemessene Wohnung gefunden werden konnte oder alle Bewerbungen um eine neue Arbeitsstelle mit Absagen enden, wird die Perspektivlosigkeit für die Eltern erdrückend. Das schlägt sich auf die Psyche der Kinder nieder. Ihr Selbstvertrauen sinkt. Nicht selten entwickeln sie Scham- und Schuldgefühle. Die Erfahrung, nicht teilhaben zu können, prägt armutsbetroffene Kinder.

Leiden diese Kinder?

Verschiedene Studien weisen darauf hin. So wissen wir, dass die Suizidraten bei von Armut betroffenen Kindern und Jugendlichen höher sind. Von den Eltern wissen wir, dass die Belastungen häufig weit über die Erziehungsphase hinauswirken und dauerhafte Prekarität verursachen. Insbesondere bei alleinerziehenden Müttern und Vätern kann die grosse Last zu Ängsten, Depressionen und gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.

Gibt es das typische arme Kind?

Armut hat viele Gesichter. Aber die Erfahrung, dass Eltern immer Nein sagen müssen, ist eine, die von Armut betroffene Kinder mit anderen Kindern in dieser Situation teilen. Grundsätzlich sind in der Armutsstatistik zwei Gruppen von Familien überrepräsentiert. Zum einen sind das Alleinerziehende. Dies deshalb, weil das Risiko Scheidung in der Schweiz zu wenig gut abgesichert ist. Wir haben keine existenzsichernden Alimente. Wenn der Mann wenig verdient, zahlt er auch wenig. Dies bestätigen auch die Haushaltsquoten in der Sozialhilfe. Knapp ein Viertel aller alleinerziehenden Haushalte wird von der Sozialhilfe unterstützt. Regional spitzt sich diese Situation zu: In Biel beispielsweise ist jede zweite allein- erziehende Familie auf Sozialhilfe angewiesen.

Und die andere Gruppe?

Das sind die Familien, bei denen die Einkommen nicht ausreichen, die sogenannten Working Poor – häufig mit Migrationshintergrund, noch häufiger mit niedrigem Bildungsabschluss. Dann entscheiden nicht selten Faktoren wie der Zugang zu günstigem Wohnraum oder die Frage, ob Kitaplätze subventioniert oder Krankenkassenprämien verbilligt werden, ob die Familie in die Armut abrutscht oder nicht. Das ist je nach Wohnort unterschiedlich. Rund 50 000 Kinder wachsen in Working-Poor-Haushalten auf, das sind zwei Drittel aller armutsbetroffenen Kinder.

«Diese Eltern bemühen sich extrem: Ihre Kinder sollen auf nichts Grundlegendes verzichten müssen.»

Bettina Fredrich, Caritas Schweiz

Haben diese Eltern überhaupt die Möglichkeit, gute Eltern zu sein? Oder sind sie immer damit beschäftigt, den Mangel «an allem» auszugleichen?

Die Familien, die ich kennenlernte, habe ich als enorm engagiert erlebt. Sie bemühen sich extrem, auf allen Ebenen zu funktionieren. Die Kinder sollen – trotz allem – auf nichts Grundlegendes verzichten müssen, sie sollen nicht als arm stigmatisiert werden. Aber natürlich: Wer mehr finanzielle Ressourcen hat, kann Dinge nach aussen delegieren, sich mehr Zeit für die Familie verschaffen. Der finanzielle Druck, die Anspannung und die Angst vor neuen Rechnungen, die im Briefkasten liegen könnten, belastet Mütter und Väter sehr. Viele haben ihren Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen – Konsum gehört in unserer Gesellschaft zum Alltag.

Wie kann das sein, in einem so reichen Land wie der Schweiz? 

Kinder sind hierzulande weitgehend Privatsache. Und damit ein Armutsrisiko. Die Schweiz investiert zu wenig in Kinder und Familien. Mit 1,5 Prozent des Bruttoinlandprodukts liegt sie deutlich unter dem europäischen Durchschnitt von 2,3 Prozent. Auffallend ist insbesondere die geringe Subventionierung von Kitaplätzen. Schweizer Eltern zahlen verglichen mit den Nachbarländern einen doppelt bis dreifach so hohen Anteil an die Betreuungskosten.

Was müsste sich demnach ändern?

Meines Erachtens ist der Ausbau der frühen Förderung zentral. Jedem Kind muss der Zugang zu früher Bildung ermöglicht werden.
«Die Schweiz investiert zu wenig in Familien», sagt Bettina Fredrich. 
«Die Schweiz investiert zu wenig in Familien», sagt Bettina Fredrich. 

Sie sprechen unter anderem Krippen an. Diese stehen allen offen.

Aber es gibt sie noch längst nicht überall und sie sind für viele Familien schlicht nicht bezahlbar. Ein Kind kostet zwischen 7000 und 14 000 Franken pro Jahr, der grösste Anteil machen Wohnen und die Krippe aus. Dabei wäre eine frühe Förderung gerade für Kinder aus bildungsfernen Schichten angezeigt. So belegen internationale wie nationale Studien: Ungleichheiten, die beim Eintritt in das Schulsystem bestehen, können im Lauf der Jahre nicht wettgemacht werden. Im Gegenteil: Von Armut betroffene Kinder müssen wesentlich häufiger Schulstufen wiederholen und gelangen seltener ans Gymnasium. Teure Nachhilfestunden können sich die Familien nicht leisten. Damit sinken die Bildungschancen sowie die Aussichten auf ein höheres Einkommen. Frühe Förderung wäre der Schlüssel, um die Lücke zu schliessen.

Mit seinem Impulsprogramm hat der Bund in den letzten 15 Jahren knapp 55 000 neue Plätze im Kitabereich sowie in der schulergänzenden Betreuung geschaffen.

Das ist eine positive Entwicklung. Man darf aber zwei Dinge nicht aus dem Blick verlieren. Erstens verlief der Angebotsausbau regional sehr unterschiedlich. Nicht in allen Kantonen wurden neue Plätze geschaffen. Zweitens hat sich mit dem Impulsprogramm die Finanzierung nicht geändert. Diese Plätze wurden nicht subventioniert, sie kosten die Eltern nach wie vor viel Geld. Daher hat das Parlament 2016 100 Millionen Franken gesprochen, um die Betreuungsplätze einerseits zu vergünstigen und andererseits an die Bedürfnisse der Eltern anzupassen. Viele Eltern arbeiten beispielsweise in Schichtarbeit oder unregelmässig, sie brauchen ein anderes Angebot als die klassischen Kita-Öffnungszeiten von 7 bis 18 Uhr.

Was können von Armut bedrohte Familien konkret tun, um ihre Situation zu verbessern?

Wissen Sie, ich kann einer Mutter sagen: «Bilde dich fort, steige nicht jahrelang aus dem Beruf aus, teile dir mit dem Vater die Betreuung deiner Kinder, lass dich nicht scheiden. So minimierst du das Risiko, in die Armut abzurutschen.» Aber damit würde ich die Verantwortung an die Betroffenen delegieren. Und das kann nicht sein. Letztlich muss sich das System verändern. Der Staat ist in der Pflicht. Die Existenzsicherung im Falle einer Scheidung muss gewährleistet werden, ebenso wie eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie eine qualitativ hochwertige Frühförderung der Kinder. Der Kanton Tessin geht dabei mit gutem Beispiel voran. 

«Das Tessin ist der einzige Kanton, in dem Kinder kein Armutsrisiko darstellen.»

Bettina Fredrich von Caritas Schweiz

Inwiefern?

Der Kanton bietet den freiwilligen, kostenlosen Ganztageskindergarten ab drei Jahren an. Er wird von über 90 Prozent der Eltern genutzt. Ausserdem gibt es Familienergänzungsleistungen für Familien mit geringem Einkommen. So kann verhindert werden, dass diese Sozialhilfe beziehen müssen. Der Tessin ist der einzige Kanton, in dem Kinder kein Armutsrisiko darstellen.

Sie sprachen die Stigmatisierung an. Worauf sollte man im alltäglichen Miteinander achten – als Lehrperson oder als nicht von Armut betroffene Mutter oder betroffener Vater?

Die Schule leistet sehr viel Integrationsarbeit. Und trotzdem ist das Bewusstsein für Armut nicht bei allen Lehrpersonen gleich ausgeprägt. Beispiel Klassenfoto: Jedes Jahr kommt ein Fotograf in die Klasse, macht Fotos und gibt den Schülerinnen und Schülern ein Portfolio mit nach Hause. Kostenpunkt: 60 Franken. Diejenigen Kinder, deren Eltern sich so etwas nicht leisten können, müssen die Mappe wieder zurücktragen. Dies kann stigmatisierend wirken. Man könnte sich fragen: Erfüllt ein selbstgemachtes digitales Klassenfoto, welches gratis per E-Mail versandt wird, den Zweck nicht ebenso?

Was können Eltern tun?

Sich vor allem bewusst machen, dass es Kinder gibt, die unter anderen Bedingungen aufwachsen als die eigenen, und sich mit anderen Eltern absprechen. Warum nicht gemeinsam die Grenze für das nächste Kindergeburtstagsgeschenk auf drei Franken festlegen? Damit sich die Unterschiede zwischen den Kindern nicht mehr auf dem Gabentisch manifestieren.

Wenn Sie eine Prognose geben müssten: Wie viele Kinder werden in fünf Jahren in der Schweiz von Armut betroffen sein?

Viele Faktoren begünstigen Kinderarmut. Neben den Gesundheitskosten oder den Wohnungskosten einer Familie sind auch die Möglichkeiten der Eltern, erwerbstätig zu sein, entscheidend. Im Zuge der Digitalisierung ist davon auszugehen, dass niedrig qualifizierte Eltern ihre Jobs eher verlieren und ihr Armutsrisiko tendenziell zunehmen wird. Geht es parallel dazu hinsichtlich der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, früher Förderung, Familienergänzungsleistungen etcetera im gleichen Tempo weiter, wird Kinderarmut künftig zunehmen. Die gute Nachricht dabei: Die Politik hat es in der Hand, Kinderarmut mit zielgerichteten Massnahmen nachhaltig zu reduzieren.

Das tut die Caritas

Caritas Schweiz setzt sich in ihrer politischen Arbeit für das Thema «Kinderarmut in der Schweiz» ein und fördert von Armut betroffene Familien mit verschiedenen Angeboten:

  • Caritas-Märkte: In 21 Läden in der Schweiz können armutsbetroffene Familien gesunde Lebensmittel wie Obst und Gemüse, Hygiene- und Alltagsprodukte stark vergünstigt einkaufen.
  • KulturLegi: Eltern in finanzieller Not erhalten Rabatte von 30 bis 70 Prozent auf über
    2550 Angebote wie Schwimmbad, Kino oder Pfadilager. Dadurch lernen sie neue Gspänli kennen, nehmen am gesellschaftlichen Leben teil und erweitern ihren Horizont.
  • Mit mir: Freiwillige Patinnen und Paten verbringen ein- bis zweimal im Monat Zeit mit Kindern aus schwierigen familiären Situationen. So können die Kinder ihre Freizeit kreativ gestalten, und ihr Selbstvertrauen wird durch die ungeteilte Aufmerksamkeit gestärkt. Dazu werden die Eltern entlastet.