Lernen im Ausnahmezustand - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Lernen im Ausnahmezustand

Lesedauer: 4 Minuten

Rund eine Million Kinder in der Schweiz bleiben derzeit dem Unterricht fern. Eltern jonglieren mit der Beschäftigung und Beschulung ihrer Kinder zuhause und ihren eigenen Jobs. Wie sieht der schulische Alltag ohne Schule aus? Wie können und müssen Eltern ihre Kinder schulisch unterstützen? Gibt es denn überhaupt Hausaufgaben und Prüfungen? Zehn Antworten auf die zehn drängendsten Fragen.

Wie sieht die Situation an den Schulen derzeit aus?

Momentan befinden wir uns in der ersten Phase der Umsetzung der bundesrätlichen Verordnung, wonach die Schulpflicht temporär ausgesetzt ist, also kein Unterricht stattfindet. Diese Phase dauerte bis zum 17. März 2020, wie Alex Hürzeler, Erziehungsdirektor des Kantons Aargau sagt. Die Schulen seien jetzt in der Pflicht, ein Betreuungsangebot aufzubauen für Kinder, die nicht zuhause betreut werden können. Dieses ist für Schülerinnen und Schüler gedacht, deren Eltern die Betreuung Zuhause nicht übernehmen können, weil sie beispielsweise im Gesundheitswesen, in der Logistik oder der Grundversorgung arbeiten und deshalb die Betreuung der Kinder nicht übernehmen können oder diese einer Person einer Risikogruppe übertragen müssten. Das Angebot darf nur von gesunden Kindern und Jugendlichen besucht werden. Deren Eltern stehen weiterhin in der Pflicht, die Schulen über die An- beziehungsweise Abwesenheit ihres Kindes zu informieren. Die Schule kommuniziert gegenüber den Eltern die entsprechenden Bedingungen.

Wann beginnt der Fernunterricht?

In einer zweiten Phase können die Schulen beziehungsweise die Lehrpersonen den Kindern und Jugendlichen ab sofort bis zu den Frühlingsferien Arbeitsmaterialien zur Verfügung stellen und auch Aufträge erteilen, sofern sie über die entsprechenden Möglichkeiten und Personalressourcen verfügen. Die Aufgaben und Aufträge sollen dem Üben und Festigen des bisherigen Schulstoffs dienen. Es findet jedoch weiterhin kein systematischer Unterricht nach Lehrplan statt. Alex Hürzeler betont zudem: «Es werden keine Prüfungen geschrieben oder Noten vergeben». Die dritte Phase beginnt Ende April, falls das Verbot von Präsenzunterricht über die Frühlingsferien hinaus verlängert werden muss, heisst es im Kanton Aargau. Dann wäre der Unterricht nach Lehrplan wiederaufzunehmen, und zwar in Form von «Fernunterricht». Die entsprechenden Rahmenbedingungen werden noch festgelegt, ebenso die Umsetzungshilfen. Diese werden unter anderem auch Antworten auf Fragen zur Promotion, zum Übertritt in die Oberstufe oder in die Mittelschulen beinhalten.

Was beinhaltet der Fernunterricht im Kindergarten?

Während die Schülerinnen und Schüler im Zyklus 2 (3. – 6. Klasse) selbständiger arbeiten können, braucht es im Zyklus 1 (Kindergarten + 1. – 2. Klasse) spezielle Aufgaben, sagt Jörg Berger, Schulleiter in Kanton Zürich und Geschäftsleitungsmitglied des Deutschschweizer Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH. Er schlägt zum Beispiel vor:

  • Einrichten und Betreiben einer Ludothek; 2-mal pro Woche können (Lern-)Spiele im Kindergarten und in der Schule ausgeliehen werden.
  • Das lässt sich auch gleich für textiles und technisches Gestalten, Handarbeit, einrichten.
  • Bewegungsaufgaben, von Spielen und Übungen mit Körperkontakt ist abzusehen.
  • Leseaufgaben
  • Podcasts und Videos erstellen, in denen Geschichten erzählt werden, zu denen die Kinder Zeichnungen oder Kurzberichte kreieren.
  • Bastelanleitungen
  • Lieder
  • Verse 

Wie werden Aufgaben digital übermittelt?

Momentan sind die Schulen noch dabei, sich einzurichten – das Betreuungsangebot aufzustellen, die Materialien bereit zu stellen. Dabei werden den Lernenden weniger Hausaufgaben als viel mehr Arbeitsmaterialien zur Verfügung gestellt. In welcher Form das passiert, ist wiederum nach Altersklasse und Schule ganz unterschiedlich. Manche Klassen funktionieren über Whatsapp – die Lehrperson übermittelt Materialien an die Eltern oder direkt an die Kinder, sofern dies erlaubt wurde. Andere stellen über eine App, zum Beispiel Microsoft Teams, Sofatutor, Schulnetz von Centerboard, Materialien und Aufgaben bereit. Andere wiederum über Mail, je nach Altersklasse über die Eltern, diese müssen dann die Arbeitsblätter ausdrucken. Auch postalisch werden Materialien verschickt – denn nicht alle Kinder haben ein eigenes Handy, einen Zugang zu einem eigenen Computer oder dem ihrer Eltern.

Wie wird in den höheren Schulstufen vorgegangen?

An den nachobligatorischen Schulen wie den Kantonsschulen, den Berufsfachschulen, den Höheren Fachschulen sowie der Fachhochschule geht das Lehren und Lernen digital weiter. Dort ist die papierlose Schule längst etabliert. Die Lernenden erhalten über die elektronischen Plattformen Aufträge von ihren Lehrerinnen und Lehrern beziehungsweise Dozierenden. Die Lehrpersonen stehen ihrem Arbeitgeber weiterhin zur Verfügung. Auf der Oberstufe, insbesondere im Gymnasium, werden direkt via Schulnetz Aufgaben und Stoff verteilt. Es wird einzeln und in der Gruppe geskypt und klar festgelegt, bis wann die Aufgaben fertig und eingereicht werden müssen.

Wie funktioniert die digitale Schule bei jüngeren Kindern?

Jüngere Kinder können sich nicht ebenso selbständig organisieren wie ältere Schülerinnen und Schüler im Zyklus 3 (Sekundarstufe). Sie brauchen Struktur. Deshalb können digitale Unterrichtsmaterialien nur beschränkt eingesetzt werden. Eltern sollten die Kinder mit Tools und Apps nicht ganz alleine lassen und deren Verwendung zeitlich limitieren, sagt Jürg Berger, Geschäftsleitungsmitglied des Deutschschweizer Verbands der Schulleiterinnen und Schulleiter VSLCH.

Wie schnell kann der Stoff beim Fernlernen vermittelt werden?

Laut Jürg Berger wird beim Fernlernen zuhause fast doppelt so viel Zeit für die Erledigung von Arbeitsaufträgen benötigt, wie in der Schule. «Es braucht klare Anweisungen und die Erwartungen müssen definiert sein», sagt der Pädagoge. Zum Beispiel: 2-minütige Audioaufnahme anhand einer Checkliste erstellen. Ausserdem sollten sich Online- und Offline-Sequenzen abwechseln, und es ist dafür zu sorgen, dass alle Schülerinnen und Schüler regelmässig um Feedback gebeten werden und so im Austausch mit ihrer Lehrperson stünden, so Berger. Er betont, dass dabei ein empathisches Verhalten der Lehrpersonen besonders wichtig sei.

Was, wenn fremdsprachige Eltern oder Eltern, die gleichzeitig arbeiten und/oder noch kleinere Kinder betreuen müssen, sich nicht vollumfänglich um Homeschooling kümmern können?

Der oberste Schulleiter der Schweiz, Thomas Minder, ruft zur Entspannung auf. Er erklärt in einem Interview mit srf.ch: Die Lehrperson gibt nicht einfach so den Auftrag: «Jetzt eignet euch das Wissen über den Pythagoras an». Lehrpersonen geben in einer ersten Phase sicher einfache Aufträge zu Inhalten und Sachgebieten, die bereits eingeführt sind. Wenn das länger dauert und man auch Instruktionen übers Internet machen muss, dann müssen wir uns allerdings etwas einfallen lassen.» Was genau Thomas Minder damit meint, ist noch offen.

Kann der Schulstoff in dieser Zeit überhaupt vollständig vermittelt werden?

Experten rechnen damit, dass allerhöchstens zehn Prozent des Schulstoffs in den kommenden Wochen überhaupt vermittelt werden kann. Deshalb werden primär Arbeitsaufträge vergeben, mit denen die Schülerinnen und Schüler täglich zwei bis drei Stunden beschäftigt sind», erklärt eine Schulleiterin aus dem Kanton Zürich. «Dabei geht es darum, dass bisher Erlernte zu wiederholen und zu vertiefen. Wir können von den Kindern in diesem Alter nicht erwarten, dass sie neuen Stoff erarbeiten.»

Wie lange bleiben die Schulen noch geschlossen?

In allen Schweizer Kantonen bleibt die Schule vorerst bis am 19. April geschlossen. Das bedeutet, dass die Schulen im Kanton Aargau beispielsweise vom Montag, 16. März 2020, bis zum Ende der Frühlingsferien geschlossen bleiben. Voraussichtlich wird der Schulbetrieb nach Ferienende am Montag, 20. April 2020 wieder aufgenommen werden, wenn es die Lage erlaubt, wie es heisst. Eltern müssen aber davon ausgehen, dass die Schulen länger geschlossen bleiben.


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