Zwei hochbegabte Kinder erzählen aus ihrem Alltag - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Zwei hochbegabte Kinder erzählen aus ihrem Alltag

Lesedauer: 4 Minuten
Die Eltern von Ella wünschen sich für ihr hochbegabtes Kind eine möglichst normale Schullaufbahn. Juri ist höchstbegabt und stellt damit selbst in der Minderheit der Hochbegabten eine Ausnahme dar. 

«Ich muss kaum lernen»

Die Eltern von Ella, 9, wünschen sich für ihr hochbegabtes Kind eine möglichst normale Schullaufbahn. Kein leichtes Unterfangen. Jetzt steht in Ellas Klasse ein Lehrerwechsel an. Und alles soll besser werden.
Sie hätten dem Mädchen nichts mehr zu bieten, es solle in die Primarschule übertreten, befanden Kindergärtnerin und Heil­pädagogin in Ellas zweitem Kindergartenjahr. «Wir waren verunsichert, folgten jedoch der Empfehlung», sagt Ellas Vater Daniel Carniello. Eine Woche später sei Ella eingeschult worden. «Das war ein bisschen viel aufs Mal», erinnert sich Mutter Béatrice.

Ella machte der Sprung keine Probleme. Sie fand rasch Anschluss und meisterte die Schule mit Leichtigkeit. «Ich muss kaum lernen», sagt Ella heute, «ich spiele lieber Unihockey.» Bis zum Ende der dritten Klasse sei alles reibungslos gelaufen, «doch seit der Mittelstufe», sagt die Mutter, «ebbt Ellas Begeisterung für die Schule zusehends ab». Für Mathematik, in der sie stets brilliert habe, bringe die Neunjährige kein Interesse mehr auf, nach eigenen Angaben aus Langeweile. Auf die Frage, warum das so ist, zuckt Ella mit den Schultern.

Der Grund, weshalb die Eltern das Verhalten der Tochter nicht als vorpubertäre Erscheinung abtun, ist Ellas zwölfjähriger Bruder Cyril. Er hatte, damals in der zweiten Klasse, urplötzlich über Bauchschmerzen geklagt. Als die Beschwerden nicht aufhörten und der Arzt keine körperliche Ursache fand, suchten die Eltern Hilfe beim Psychologen. Dabei ergab sich ein Zufallsbefund: kognitive Hochbegabung. Schliesslich übersprang Cyril die dritte Klasse. «Sein Bauchweh», sagt der Vater, «löste sich in Luft auf.»

«Das hat uns wachsam gemacht», sagt Ellas Mutter, «und so suchten wir das Gespräch mit dem Schulleiter und Ellas Lehrerin. Diese sah keinen Anlass für eine Hochbegabtenabklärung. Unser Antrag blieb ergebnislos.» Daraufhin finanzierten die Eltern die Abklärung aus eigener Tasche. Die Diagnostik förderte auch bei Ella eine intellektuelle Hochbegabung zutage. Die Eltern klopften erneut bei der Lehrerin an. «Sie fühlte sich durch den Befund in die Ecke gedrängt», glaubt Ellas Mutter. «Wir bissen jedenfalls auf Granit.» Als Eltern werde man schnell den Überehrgeizigen zugeordnet, die ihr Kind pushten, sagt Vater Daniel: «Was wir für unsere Kinder wollen, ist eine möglichst normale Schullaufbahn.»

«Was wir für unsere Kinder wollen, ist eine möglichst normale Schullaufbahn.»
Ellas Vater Daniel Carniello
Nach den Sommerferien steht in Ellas Klasse ein Lehrerwechsel an. Ihre Eltern sind froh über diesen Zufall. Ellas Testresultate hätten nun auch den Schulleiter veranlasst, nach Lösungen zu suchen. Wie die aussehen könnten, bespreche man nach den Ferien. Bisher besuchte Ella zwei Lektionen pro Woche der schulinternen Begabungsförderung, die allen leistungsstarken Schülern offensteht. «Dort gehe ich gern hin», sagt Ella, «noch lieber mag ich Handarbeit und Turnen.» Und sie sei ein Plappermaul aus Leidenschaft: «Darum will ich Radiomoderatorin werden.»

Dossier: Hochbegabung

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Als hochbegabt gilt ein Kind, wenn es einen IQ von mehr als 130 Punkten hat. Was bedeutet dies für seine schulische Laufbahn? Und wie muss es gefördert werden? Antworten und ­Hintergründe zum Thema Hochbegabung in unserem grossen Dossier.  

«Wenn das Tempo nicht stimmt, werde ich kribbelig»

Juri, 11, ist höchstbegabt, er stellt selbst in der Minderheit der Hochbegabten eine Ausnahme dar. Eine Herausforderung für die Schule – und den Buben selbst.
Juri war fünf Jahre alt, als seine Intelligenz zum ersten Mal getestet wurde. Die Ergebnisse liessen die Eltern leer schlucken. «Wir waren aber auch erleichtert», sagt Juris Vater, «denn das Resultat war der Auslöser für so viele Bemühungen, welche die Schule für Juri unternommen hat.»

Die Eltern hatten rasch gemerkt, dass ihr mittlerer Sohn anders war als Gleichaltrige. Als knapp Zweijähriger löste Juri 100-teilige Puzzles, mit vier las er seinem kleinen Bruder Geschichten vor, die er simultan auf Mundart übersetzte. «Die Bücherwelle», sagt Juri, «ist bis heute nicht abgeebbt.» Der Elfjährige liest, was ihm in die Finger kommt: Disneys Lustige Taschenbücher, Romane, Zeitungen, Sachbücher.

Auch Zahlen findet Juri toll, und er kennt viele Tricks. Fragt man ihn nach einem Datum aus der Vergangenheit, ermittelt er im Handumdrehen den dazugehörigen Wochentag. Zahlen dienten Juri schon früh als Zeitvertreib. Während seine ­Mitschüler ihre ersten Buchstaben kombinierten, machte er Rechenspiele, später formte er Sätzchenaufgaben zu Gleichungen um.

«Als Schüler war Juri angepasst», sagt seine Mutter, «kaum zu Hause, fing er an zu schreien. Er vertrug keine weitere Fremdbestimmung und hatte das Gefühl, für seine eigenen Denkarbeiten bleibe ihm keine Zeit mehr.»

Die Schule bemühte sich um Lösungen: Fortan besuchte der Erstklässler Mathe und Begabtenförderung mit den Viertklässlern. «Das Schreien», sagt seine Mutter, «hörte dadurch auf.»

In der dritten Klasse tüftelten ein pensionierter Physiker und ein Gymnasiallehrer mit ihm. Irgendwann begann Juris Förderbedarf die Ressourcen der Schule zu übersteigen, und die Eltern beobachteten mit Sorge den Spagat, den der Bub zwischen den verschiedenen Lernorten meistern musste. Sie wünschten ihm einen festen Platz in einer Klasse. So fiel der Entscheid für die Hochbegabtenschule, die der Kanton Luzern über eine Sonderschulverfügung für Höchstbegabte finanziert.

«Ich hatte gehofft, dass die Lehrer auf unsere Inter­essen eingehen, stattdessen lief alles stur nach Schema.»
Juri, 11
Ende Monat kommt Juri aufs Gymnasium. Er wird seine alten Freunde vermissen. Von der Hochbegabtenschule ist er enttäuscht: «Ich hatte gehofft, dass die Lehrer auf unsere Inter­essen eingehen, stattdessen lief alles stur nach Schema.» Juri spricht wie aus der Kanone geschossen. «Wenn das Tempo im Unterricht zu langsam ist, werde ich kribbelig. Dann beginne ich laut zu denken und Sprüche zu machen.» Davon habe sich sein Lehrer provoziert gefühlt, «er dachte, ich mache das mit Absicht».

Juri eignet sich Wissen am liebsten im Alleingang an. Mit der Schule lasse sich dies schlecht vereinbaren, sagt seine Mutter: «Wir hörten eigentlich nur, was Juri schlecht macht – oder eben: nicht nach Plan. Von einer kleinen Privatschule hätte ich mehr Offenheit erwartet.»

Juri mag sehr gerne Tiere. «Ich esse sie auch nicht», sagt er, «das wäre doch schade.» Juri wollte schon Bauer werden, das Sachbuch «1000 Fragen an den jungen Landwirt» liegt im Regal. Eine Budgetrechnung brachte ihn von der Idee ab. «Vielleicht», sagt Juri, «werde ich lieber Programmierer.»


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