Herr Hodgkinson, warum sind faule Eltern bessere Eltern? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Herr Hodgkinson, warum sind faule Eltern bessere Eltern?

Lesedauer: 5 Minuten

Der britische Autor Tom Hodgkinson ist Profi in Sachen Entschleunigung: Er schreibt Bestseller über Müssiggang. Der Vater von drei Teenagern sagt, dass faule Eltern die besseren Eltern seien.

Interview: Virginia Nolan

Herr Hodgkinson, was machen faule Eltern besser als andere?

Sie lassen ihre Kinder in Ruhe. Oder versuchen es zumindest.

Jetzt müssen Sie etwas präziser werden.

Mich dünkt, Elternschaft kennt zwei Extreme: Auf der einen Seite haben wir Typen wie die «Tigermutter» aus den USA, die den Kindern mit ihrem Ehrgeiz das Leben vergällen, sie in die Richtung drängen, wo sie das erfolgreiche Leben vermuten. Auf der anderen Seite sind die sogenannten modernen Eltern. Sie sehen es als natürliche Tatsache an, dass Elternschaft bedeutet, sich aufzuopfern. Sie sind in geradezu lächerlichem Mass besessen von der Idee, gute Eltern zu sein. Mit der «Tigermutter» haben sie eines gemeinsam: Sie sehen das Kind als ihr Projekt an. Ich als fauler Vater sage: Lasst eure Kinder in Ruhe!

Tom Hodgkinson ist Journalist und Buchautor. Er gibt das Magazin «The Idler» («Der Müssiggänger») heraus. Zu seinen Bestsellern gehören die «Anleitung zum Müssiggang» und der «Leitfaden für faule Eltern». Zusammen mit seiner Partnerin und den drei Kindern – 15, 13 und 10 Jahre alt – lebt er in London.  
Tom Hodgkinson ist Journalist und Buchautor. Er gibt das Magazin «The Idler» («Der Müssiggänger») heraus. Zu seinen Bestsellern gehören die «Anleitung zum Müssiggang» und der «Leitfaden für faule Eltern». Zusammen mit seiner Partnerin und den drei Kindern – 15, 13 und 10 Jahre alt – lebt er in London.

Was heisst das, die Kinder in Ruhe zu lassen?

Nehmen wir meine Eltern als Beispiel. Heute sind sie 70. Das waren ganz schön egoistische Zeitgenossen. Sie interessierten sich zu sehr für ihr eigenes Leben, als dass sie ständig um uns herumkreisten. Das hat meinem Bruder und mir nicht geschadet, im Gegenteil. Wir wurden selbständige, unabhängige Menschen. Es mag paradox klingen, aber faule Eltern sind gerade deswegen verantwortungsvolle Eltern, weil das Vertrauen in das Kind und der Respekt vor seinen Bedürfnissen den Kern ihrer Erziehungsphilosophie darstellen. Heute opfern wir uns zwar auf für die Kinder, aber wir respektieren sie nicht. Wir wollen sie formen und haben ständig Angst, wir täten nicht genug dafür. Doch das Gegenteil ist der Fall. Es ist zu viel! Darum schrieb ich damals die «Anleitung für faule Eltern».


Online-Dossier Achtsamkeit und Entschleunigung

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Dort steht: Ignoriert eure Kinder – je mehr, desto besser.

Dafür gibt es so eine Art Schlüsselerlebnis: Unser ältester Sohn war fünf, als er uns lautstark in den Ohren lag: «Ich will Unterhaltung!» Da wusste ich, dass wir ein paar Dinge ändern müssen. Immer heisst es: Gebt dem Kind etwas zu tun, sonst wird ihm womöglich langweilig. So wächst das Kind aber zu einem Erwachsenen heran, der stets andere braucht, die ihm sagen, was er als Nächstes tun soll. Das sind keine guten Voraussetzungen für ein Leben in Unabhängigkeit. Im Nichtstun steckt kreatives Potenzial: Das Kind lernt, mit sich selbst etwas anzufangen.

Erst mal wird das Kind maulen.

Selbstverständlich. Ich behaupte nicht, dass dies leicht auszuhalten ist. Gerade die Kleineren lassen sich nicht so leicht abwimmeln. Als wir noch auf dem Land lebten, habe ich die Kinder dann für Arbeiten rund ums Haus eingespannt. Jetzt, wo wir wieder in der Stadt und sie Jugendliche sind, hängen sie vor der Kiste herum oder spielen am Computer, wenn ihnen langweilig ist. Manchmal ist es mir zu mühsam, sie da wegzuscheuchen. Gelangweilte Kinder sind anstrengend – wir sollten uns trotzdem davor hüten, ihre Tage mit Programm vollzustopfen. Aktivitäten sind die Geissel der modernen Kindheit.

Wie meinen Sie das?

Die moderne Kindheit ist durchorganisiert. Nach der Schule fahren wir die Kinder zu allen möglichen Kursen. Das scheint besser, als sie nach draussen zu schicken, wo sie von Bäumen fallen oder entführt werden könnten. Wir haben das Spiel kommerzialisiert – wo Kinder auch hinkommen, stehen schon Erwachsene mit ihrem pädagogischen Konzept parat. In meiner Kindheit waren die besten Spielplätze jene, die wir selbst ausfindig gemacht hatten. Etwa eine ehemalige Mülldeponie, wo wir lauter Interessantes fanden. Wir spielten dort, statt in Sportvereine zu gehen.

Die kommen in Ihrem Buch nicht besonders gut weg.

Ja, sie sind ein Ärgernis. Als unser ältester Sohn fünf war, buchte meine Partnerin Tennisstunden für ihn – samstags um neun! Ich weiss nicht, was in sie gefahren war. Die meisten Eltern haben einen Job, da sollten sie am Wochenende nicht noch Taxifahrer spielen. Diese Tage sind zum Ausschlafen da. Darin wurden meine Partnerin und ich uns schnell wieder einig. Überhaupt haben wir eines Tages einfach damit aufgehört, jeden Sonntag aufzustehen, um das Familienfrühstück zu richten. Stattdessen dösten wir einfach weiter. Eines schönen Tages kam unser Sohn Arthur, damals acht, um zehn Uhr mit zwei Tassen Tee an unser Bett. Ist das nicht wunderbar?

Sportvereine sind doch ein Ärgernis. Wochenenden sind zum Ausschlafen da.

Sind Sie ein strenger Vater?

Ich würde schon sagen. Sonst werden die Kinder zu Nervensägen. Wir waren recht konsequent darin, sie mithelfen zu lassen, und vieles haben wir gemeinsam gemacht: Kochen, Backen, Gärtnern. Es sind die einfachen Sachen, die für Entschleunigung sorgen. Dazu gehören auch gemeinsame Mahlzeiten. Einmal stieg unser Geschirrspüler aus. Wir ersetzten ihn nicht – und entdeckten, was für ein Spass der Abwasch sein kann, wenn man ihn zu guter Musik erledigt. Darum geht es: Wir sollten Spass haben mit den Kindern. Wir vergessen, mit ihnen die Gegenwart zu geniessen, weil wir erpicht sind, sie auf die Zukunft vorzubereiten.

Wie entspannt sind Sie beim Thema Schule?

Auch mir liegt eine gute Ausbildung am Herzen. Nicht weil meine Kinder in der Teppichetage der Gesellschaft landen sollen, sondern weil Bildung uns ein Leben in Unabhängigkeit erleichtert. Mir selbst hat es ermöglicht, im Leben die Dinge zu tun, die ich gerne mache. Das wünsche ich mir für meine Kinder.

Und wenn sie beim Lernen nicht spuren?

Wir haben für die Älteren einmal Lateinnachhilfe via Skype gebucht. Sie haben es gehasst – aber es hat sich gelohnt. Sie sehen: Auch faule Eltern tun ihr Bestes. Eine gewisse Sorge um die Zukunft ihrer Kinder haben wohl alle Eltern. Aber wir sollten es damit nicht übertreiben.

Sie verdienen Ihr Geld mit dem Schreiben über Musse. Wie entspannt ist Ihr Leben?

So entspannt es eben sein kann. In den zehn Jahren, die wir auf dem Land lebten, half meine Partnerin ab und zu in der Schule aus, und ich schrieb jeden Morgen während vier Stunden. Das wars. Als wir 2011 zurück nach London zogen, eröffneten wir ein Büchercafé. Mein Vierstunden- wurde zu einem Sechzehnstundentag. Es war grauenhaft, aber wir mussten es zum Laufen bringen. Jetzt ist alles ruhiger geworden.

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Dennoch tönt es nach viel Betrieb für einen, der Müssiggang predigt.

Müssiggang bedeutet nicht, nur herumzuhängen. Es geht auch darum, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen, das Leben zu geniessen. Sicher, oft bin ich länger als vier Stunden bei der Arbeit. Aber immerhin halte ich fast täglich meinen Mittagsschlaf, und es gelingt mir meist, jeden zweiten Tag erst um neun aufzustehen. Meine Partnerin und ich wechseln uns ab. Ins Café gehen wir zu Fuss, das dauert eine Stunde. Spazieren entspannt!

Ist Musse etwas für Privilegierte?

Nein. Das Leben entspannter anzugehen, ist eine Entscheidung, die in einem mittelständischen Umfeld sehr vielen Menschen offensteht. Sie haben die Wahl.

Gilt das auch für Krankenschwestern und Bauarbeiter?

Müssiggang ist nicht so sehr eine Geldfrage. Ich verdiene etwa gleich viel wie eine Krankenschwester. Sie können Musse auf unterschiedlichen Levels ausleben. Sie müssen dafür nicht gleich den Job kündigen. Es fängt schon damit an, seine Freizeit nicht vor dem Fernseher zu vergeuden, sondern mit ihr etwas anzufangen, das uns Freude bereitet. Aber, es ist schon so: Der Müssiggänger ist sparsam. Das befreit ihn vom Druck, immer mehr verdienen zu müssen.

Wo sehen Sie als Familienvater Sparpotenzial?

Beim Wohnen. Die Leute bürden sich unheimlich hohe Mietkosten und Hypotheken auf, weil sie viel Platz haben wollen. Und dann sind sie kaum zu Hause. Dann das Geld, das sie für teure Autos verschwenden. Wir Müssiggänger halten stets Ausschau nach unkonventionellen Einnahmequellen.

Zum Beispiel?

Über die Internetplattform Airbnb können Sie Zimmer oder Ihre ganze Wohnung an Touristen vermieten. Das ist zurzeit sehr angesagt. Wenn wir knapp bei Kasse sind, werfen wir eines der Kinder aus seinem Zimmer, dann wohnt für ein paar Tage ein Tourist darin. Wenn wir über Ostern aufs Land fahren, vermieten wir gleich das ganze Haus.

Bild: Fotolia


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