Flüchtling Baitullah: Zwischen Gast und grossem Bruder - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Flüchtling Baitullah: Zwischen Gast und grossem Bruder

Lesedauer: 6 Minuten
Den Esstisch, das Bad und die Küche mit einem Fremden zu teilen, fällt in unserer individualisierten Gesellschaft schwer. Bringt der Gast noch eine andere Kultur oder eine traumatische Vergangenheit mit, lässt das viele zusätzlich zögern. Dennoch gibt es schätzungsweise 200 Gastfamilien in der Schweiz, die Flüchtlinge bei sich aufgenommen haben. Der 18-jährige Baitullah aus Afghanistan bekam so einen neuen kleinen Bruder.
Wer zu Familie Häuselmann nach Bäriswil möchte, muss S-Bahn und Bus aus Bern nehmen und dann noch einen steilen, kiesigen Fussweg emporsteigen. Oben steht ein altes Riegelhaus mit viel Holz, niedrigen Decken, ein paar Bauernmöbeln und Ölgemälden an den Wänden. Der Blick geht ins Grüne, es gibt ein Gemüsebeet, Hühner und Küngel gehören zum Haushalt. Der Achtjährige Sohn Thomas hüpft gerne im Garten auf dem Trampolin und trägt ein rotes T-Shirt mit weissem Kreuz darauf. Sein Vater Philipp ist im Gemeinderat und seine Hose wird von einem Appenzeller-Gürtel mit Kuh- und Edelweiss-Applikationen gehalten. Und dann räumt Mama Anamaria bei der Begrüssung sofort mit allen Schweiz-Klischees auf: «Wir sind eine Multikulti-Familie», sagt sie mit leichtem Akzent und begrüsst die Gäste mit einem festen Händedruck. Sie sei aus Rumänien, lebe nun seit 10 Jahren mit ihrem Mann in der Schweiz. Einbürgern lassen habe sie sich aber erst vor kurzem. „Ich habe mich lange nicht so schweizerisch gefühlt“, sagt Anamaria Häuselmann. 

Die Nachbarn waren nicht begeistert – aber protestiert hat auch niemand

Die Sache mit Baitullah ist für die Familie auch eine politische Entscheidung gewesen: «Wir haben gesehen, dass die Politik sich oft anders entscheidet, aber wir als Familie haben auch eine Stimme. Wir möchten helfen, wenn wir es können», sagt Anamaria Häuselmann. Und ausserdem sei das Haus sowieso viel zu gross für drei Personen. «Ich bin das anders gewöhnt: Wenig Platz, viele Leute, viel Lachen», sagt Anamaria. 
«Flexibilität ist gefragt: Fast alle Gastfamilien wünschen sich eine Frau oder Familie. Die meisten Flüchtlinge sind aber junge Männer.»
Julia Vielle, Schweizerische Flüchtlingshilfe
Im vergangenen Oktober hat sich die Familie bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe als Gastfamilie beworben. Voraussetzungen um einen Gast aufzunehmen, sind «ein möbliertes Zimmer für mindestens ein Jahr, Zeit, dem Gast im neuen Land auch etwas unter die Arme zu greifen, Flexibilität und Offenheit», sagt Julia Vielle, die das Gastfamilien-Projekt bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe für vier Kantone leitet. Die Flexibilität sei schon bei der Auswahl des Gastes gefragt: «Hier wünschen sich viele eine Frau oder eine Familie. Aber die meisten Flüchtlinge, die eine Bleibe suchen, sind nun einmal junge Männer.» Auch Familie Häuselmann hätte gerne eine Mutter mit Kind bei sich aufgenommen, «damit die Kinderkleider von Thomas noch einmal getragen werden.» Als sie hörten, dass es wohl eher ein junger Mann würde, sei ihnen das aber auch recht gewesen. «Man muss sich halt einfach die Person ansehen.»

Nur einer in der Familie war nicht so begeistert von der Idee: Sohn Thomas. Er wollte eigentlich niemand anderen im Haus haben. «Wir haben uns dann hingesetzt und ihm erklärt, dass diese jungen Menschen keine Ruhe und keine Familie hätten. Dass er aber natürlich mitentscheiden dürfe, und wir das nur machen, wenn er den Gast mag.» 

Der Achtjährige war beim ersten Treffen mit Baitullah also das Zünglein an der Waage. Nach wenigen Minuten setzte sich der sonst so schüchterne Junge wie selbstverständlich neben den Teenager. 

Das ungeschriebene Gesetz der Gastfamilien

Dass die beiden sich mögen, sieht man auch, als Baitullah an diesem Tag von der Schule kommt. Thomas strahlt ihm vom Esstisch aus entgegen – und stopft dann eine Hand voll Popcorn in den Mund.

Baitullah war etwa ein halbes Jahr in einem Heim für unbegleitete Minderjährige, bevor er volljährig wurde. Dann wollte er in eine Gastfamilie. «Weil man da viel besser Deutsch lernt und kochen», sagt er. Er hatte Glück, denn auf der Seite der Bewerber stehen viel mehr Menschen als auf der Seite der Gastfamilien. 

Wo kann man sich über ein Engagement als Gastfamilie informieren und sich bewerben? Lesen Sie dazu die Box auf Seite 3 dieses Artikels.

Bei dem Gastfamilienprojekt der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gibt es ein ungeschriebenes Gesetz: Die Gastgeber fragen den Flüchtling nicht nach seiner Vergangenheit. Wenn er möchte, kann er selbst davon erzählen. «Das soll die ständige Retraumatisierung verhindern», sagt Projektleiterin Vielle. 

Baitullah möchte nicht viel erzählen. Es mache ihn schon traurig, dass er die Geschichten bei der Immigrationsbehörde erzählen müsse, sagt er. Seine Gasteltern verstehen das. «Es geht ja hier auch nicht mehr um das, was er erlebt habt, sondern um seine Zukunft», sagen sie. 

Trotzdem taucht hin und wieder ein Vergangenheits-Fragment auf, das die Familie erschaudern lässt. Zum Beispiel, als sie plötzlich festgestellt haben, dass Baitullah sehr gut klettern kann und er nur schulterzuckend kommentierte, dass er ja über die Felsen musste, wenn er in Gefahr war. Auch wissen die Häuselmanns, dass Baitullah nie eine Schule besuchen konnte, weil der Weg dorthin über  gefährliches Al Quaida-Gebiet führte. Neben Deutsch lernt Baitullah jetzt in der Schule also auch das erste Mal Mathematik, Chemie und Physik. 

Bei den Hausaufgaben hilft der 8- dem 18-Jährigen

Seine grösste Hilfe dabei: Thomas. Bei den Hausaufgaben fragt er oft den Achtjährigen um Rat und der ist unheimlich stolz, dass er helfen kann. Inzwischen sagt der Häuselmann-Sohn auch ganz  klar: Er würde jederzeit wieder einen Flüchtling aufnehmen! Vielleicht kommt das daher, dass Baitullah gern mit ihm auf dem Trampolin tobt. Jeden Tag. Nur heute nicht fürs Bild, sagt Baitullah und streicht sich besorgt durchs gestylte Haar. «Da ist er halt ganz Teenager», meint die Gastmutter.

Von spätpubertären Allüren merkt man ansonsten überhaupt nichts. Beitullah helfe, oft auch ungefragt, im Haushalt mit. Er ist höflich, zurückhaltend, lacht über jeden Scherz seiner Gasteltern, kommt oft mit zu Veranstaltungen mit und hat schon Basketball-Freunde in der Nachbarschaft gefunden. 

Baitullah bewegt sich so bedacht durch das Haus, dass das Wort «Gast» passender erscheint, als «Familienmitglied».
Baitullah bewegt sich so vorsichtig und bedacht durch das Haus der Häuselmanns, sein Zimmer ist so ordentlich, dass das Wort «Gast» passender erscheint, als «Familienmitglied». Und das obwohl er jetzt schon seit einem halben Jahr bei den Häuselmanns lebt. «Das ist vermutlich auch ein Kultur-Unterschied», sagt Julia Vielle von der Flüchtlingshilfe. Ein anderer afghanischer Gast, den sie bei einer Seniorin untergebracht hätten, würde sich strikt weigern, seine Gastgeberin zu duzen. Aus Respekt

Wer Dankbarkeit erwartet, begegnet seinem Gast nicht auf Augenhöhe

Zu hohe Erwartungen an den Gast sind das häufigste Problem bei der Vermittlung einer Wohngemeinschaft. «Oft wollen die Flüchtlinge vor allem zur Ruhe kommen. Die Gastfamilien versuchen fast zu motiviert, sie überall hin mitzunehmen und wie ein Familienmitglied zu behandeln» , erzählt Vielle. Andere erwarteten grosse Dankbarkeit – auch das sei schwierig, weil so keine Begegnung auf Augenhöhe stattfinden könne. Die Gäste zahlen Miete und bringen vom Sozialamt Geld für Essen mit – alle weiteren Hilfen und Vereinbarungen seien nicht selbstverständlich, sondern müssten individuell abgesprochen werden.

Tatsächlich sind es die Herzlichkeit und die Fröhlichkeit, die Gasteltern Philipp und Anamaria Häuselmann bei Baitullah am meisten überrascht haben. Etwas schwierig sei bisher eigentlich nur der Ramadan gewesen. «Da war Baitullah für alles zu müde und nicht so gut gelaunt», erinnert sich Philipp.

Ansonsten falle der junge Mann vor allem dadurch auf, dass er immer selbständiger werde: Bald wird er sogar allein auf das Haus aufpassen, wenn die Familie verreist. Lieber noch würden sie ihn mitnehmen, versichert Gastmutter Anamaria, aber mit seinem Flüchtlingsstatus darf Baitullah das Land nicht verlassen.

Und die Nachbarn im idyllischen Bäriswil? Was haben die zu der ungewöhnlichen Entscheidung gesagt? Philipp Häuselmann zuckt mit den Schultern: «Keiner war wirklich begeistert von unserer Idee einen Flüchtling als Gast aufzunehmen. Aber wirklich protestiert hat auch niemand.» Als Baitullah dann da gewesen sei, hat es ein Abendessen mit dem ganzen Gemeinderat im Hause Häuselmann gegeben und Baitullah kam dazu. Jetzt sei das alles kein Thema mehr.

Während die Familie ums Haus geht und nachsieht, ob die Wespennester noch an den Jalousien hängen, hält Baitullah sanft seine Hand an die Schulter des kleinen Thomas und schiebt ihn unauffällig ein Stück den Wespen weg. Diese Schutzgeste eines grossen Bruders ist gelernt: Baitullah hatte in Afghanistan selbst drei kleine Brüder. Wo diese heute sind, wissen die Häuselmanns nicht. Und vermutlich weiss es auch Baitullah nicht, denn zu seiner Heimatfamilie hat er nur sehr selten Kontakt.

«Komm doch auch, Baitullah.» Thomas Häuselmann auf dem Trampolin.

«Komm doch auch, Baitullah.» Thomas Häuselmann auf dem Trampolin.

Wo sich Gastfamilien bewerben können

Denken auch Sie darüber nach, einem Flüchtling ein Zuhause zu geben? An folgende Stellen können Sie sich für weitere Informationen wenden:


Bianca Fritz war tief beeindruckt von Engagement der Familie Häuselmann und Baitullahs Lebensfreude. Nicht nach der Vergangenheit eines Mitbewohners zu fragen, wäre für sie aber sehr schwer.
Bianca Fritz war tief beeindruckt von Engagement der Familie Häuselmann und Baitullahs Lebensfreude. Nicht nach der Vergangenheit eines Mitbewohners zu fragen, wäre für sie aber sehr schwer.


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