Eltern auf Zeit? - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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Eltern auf Zeit?

Lesedauer: 7 Minuten

In der Schweiz leben rund 15 000 Kinder in Pflegefamilien und Heimen. Warum wachsen sie nicht bei Vater und Mutter auf? Und wie fühlt sich das an: Eltern auf Zeit? Eine Spurensuche.

Wer Familie hat, weiss: Es läuft nicht immer alles rund. Das Kind entwi­ckelt seine eigene Persönlichkeit, wächst den Eltern über den Kopf. Der negative Einfluss von Freunden bereitet Probleme, die Schule, die Berufswahl. Meistens jedoch gelingt es Eltern, ihren Kindern ein gutes Zuhause zu bieten.

Wann greift der Staat ein?

In der Schweiz haben alle Min­derjährigen ein Anrecht darauf, von den Menschen, die sich um sie küm­mern, gut versorgt, gefördert und geschützt zu werden. Sind Mama und Papa mit dem Elternjob der­massen überfordert, dass das Wohl eines Kindes gefährdet ist und es sich nicht angemessen entwickeln kann, ist der Staat verpflichtet, ein­zugreifen.

Der Begriff «Gefährdung» ist in diesem Zusammenhang weit gefasst. In den meisten Fällen finden sich auf Seiten der Eltern mehrere Faktoren, die zusammengenommen eine Kri­se auslösen können: Überforderung, psychische Labilität, Krankheit, niedriges Bildungsniveau, kein so­ziales Netzwerk am Wohnort, Tren­nung vom Partner, von der Partne­rin, Verschuldung, Alkohol­ und Substanzmissbrauch, Kriminalität und so weiter.

Ein Teil der Mütter und Väter hat einen Migrationshintergrund, aber oft genug sind die strauchelnden Eltern auch Schweizer. Im schlimmsten Fall entlädt sich die Wut über das eigene Scheitern am Kind, manch­mal muss es auch mit ansehen, wie beispielsweise der Vater die Mutter schlägt. Eine weitere Form der Ver­nachlässigung liegt vor, wenn das Kind keinen geregelten Tagesablauf hat, wenn es häufig alleine gelassen wird und niemand an seinem Bett sitzt, wenn es krank ist. Vorausge­setzt, da ist überhaupt ein Bett.

Was sind die Folgen?

Falls die Herkunftsfamilie ihren Auftrag nicht erfüllen kann, über­nimmt der Staat symbolisch die Sor­ge für den jungen Menschen, steht ihm bei und nimmt seine Interessen wahr. Vertreten wird er in dem Fall durch die Kindes­ und Erwachse­nenschutzbehörde (KESB). Dort arbeiten Pädagogen, Psychologen, Sozialarbeiter und Juristen Seite an Seite. Geht eine Meldung ein, ist die Behörde verpflichtet, dieser nachzu­gehen. Die Fachleute klären nicht nur ab, sie beraten, begleiten und unterstützen die Mütter und Väter auch, damit diese ihren Alltag mit den Kindern besser meistern kön­nen. In vielen Fällen gelingt die Intervention durch die KESB und die sozialen Dienste. Denn: Die meisten Eltern wollen das Beste für ihre Kleinen.

Manchmal fruchten die Hilfsmassnahmen aber nicht oder nur teilweise. Dann kann es passieren, dass die Behörden zum Schluss kommen, dass es besser ist, ein Kind vorübergehend oder dauerhaft aus der Herkunftsfamilie herauszunehmen. Bis eine solche Fremdunterbringung vorgenommen wird, vergeht Zeit. Nur, wenn Gesundheit und Leben des Kindes akut gefährdet sind, wenn es misshandelt oder missbraucht wird oder wenn es komplett sich selbst überlassen ist, muss es schnell gehen.

Sorge um das Wohl des Kindes

Auch der umgekehrte Weg ist denkbar. Nicht selten wenden sich Eltern, die am Anschlag sind, an die Behörden und bitten um Hilfe. Das erfordert nicht nur Mut und die Fähigkeit, über die eigene Situation nachzudenken. Es ist auch ein eindrücklicher Beweis dafür, dass Mama und Papa sehr wohl um ihr Kind und sein Wohl besorgt sind.

Jedes hundertste Kind in der Schweiz lebt im Heim oder bei einer Pflegefamilie.

In der Schweiz leben schätzungsweise 15 000 Kinder und Jugendliche in Pflegefamilien oder Heimen statt bei ihren leiblichen Eltern; mit anderen Worten jedes hundertste Kind. Während Teenager eher in Einrichtungen unterkommen, hat sich gerade bei jüngeren Kindern das Pflegefamilien-Modell bewährt. Dabei übernehmen andere Erwachsene im Alltag die Aufgaben, die eigentlich Elternsache wären.
Die Gründe liegen auf der Hand: Je jünger ein Mensch ist, desto eher ist er noch in der Lage, sich an weitere Personen zu binden. Ausserdem haben vor allem Kleinkinder ein anderes Zeitgefühl, ein Jahr fühlt sich wie eine Ewigkeit an. Von Fall zu Fall können ganz unterschiedliche Arrangements sinnvoll sein. Neben der Dauerpflege, bei der das Kind komplett in der neuen Familie lebt, gibt es auch die sogenannte Wochenpflege, bei der es samstags und sonntags in die Herkunftsfamilie zurückkehrt. 
Doris Python, 52, nimmt auf ihrem Hof Mädchen und Buben auf, die nicht in ihrem gewohnten Umfeld leben können. Mehr über Doris Python erfahren Sie in unserer Juni/Juli Ausgabe.
Doris Python, 52, nimmt auf ihrem Hof Mädchen und Buben auf, die nicht in ihrem gewohnten Umfeld leben können. Mehr über Doris Python erfahren Sie in unserer Juni/Juli Ausgabe.
Eine Kurzzeitpflege kann nötig werden, wenn die Eltern beispielsweise erkranken oder in ganz seltenen Fällen in Untersuchungshaft kommen. Weitere Modelle wie die Entlastungspflege zielen darauf ab, Mama und Papa in lange anhaltenden, belastenden Situationen je nach Bedarf stunden- oder tageweise regelmässig etwas Luft zu verschaffen.

Wo finden sich geeignete Pflegefamilien?

In der Stadt Zürich kümmert sich seit vielen Jahren die Fachstelle Pflegekinder als Teil der sozialen Dienste um die Suche, Abklärung, Vermittlung, Aufsicht und Begleitung von geeigneten Pflegefamilien. Stellenleiter Peter Hausherr weiss, dass eine Fremdplatzierung für die Mädchen und Buben immer ein einschneidendes Erlebnis ist: «Deswegen bemühen wir uns, die jeweils am besten passenden Pflegeeltern zu finden.»

Häufig gelingt dies auf Anhieb, vorausgesetzt, der Fachstelle stehen genügend Pflegefamilien zur Verfügung. Die «Ersatzfamilie» kann entweder klassisch aus einem Paar oder nur aus einer Person bestehen. Wer sich für die anspruchsvolle Aufgabe interessiert, muss einen standardisierten Abklärungsprozess durchlaufen, bei dem die zuständigen Sozialarbeitenden prü­fen, ob man sich grundsätzlich für ein solches Engagement eignet.
 
Wenn es zu einem späteren Zeit­punkt um die Vermittlung eines bestimmten Kindes geht, wird die Passung zwischen ihm und einer möglichen Ersatzfamilie nochmals genau geprüft. Das Kind und seine leiblichen Eltern werden – wann immer möglich – in den Auswahl­prozess miteinbezogen. Es ist ein schmerzlicher Gedanke, aber Mama und Papa müssen den Entscheid im Interesse ihres Nachwuchses emotional mittragen.

Nur jedes fünfte Pflegekind lernt seine neuen Eltern erst im Verlauf der Vermittlung kennen.

Aktuell begleiten die Mitarbei­tenden der Fachstelle 130 Familien im Stadtgebiet Zürich, die ein Mäd­chen, einen Buben oder Geschwister bei sich aufgenommen haben. Interessanterweise werden 60 Prozent der Kinder von nahen Verwandten wie Grosseltern, Tanten oder Onkeln betreut. Geschätzte 20 Pro­zent sind bei Menschen aus dem sozialen Umfeld der Herkunftsfamilie untergebracht, beispielsweise bei Paten, der guten Freundin der Mutter oder in der Nachbarsfamilie. Nur in etwa jedem fünften Fall hat das Pflegekind seine zweiten Eltern erst im Laufe der Vermittlung kennengelernt.

Ein anspruchsvoller Job

Aus der Perspektive der Mädchen und Buben ist es immer gut, wenn in dem Moment, in dem ihre vertraute Welt zusammenbricht, wenigstens ein paar Fixpunkte erhalten bleiben. Oft ist eine Platzierung im bekannten Umfeld besser, da die Kinder dann beispielsweise weiter ihre angestammte Schule besuchen können. Geschwister werden möglichst gemeinsam vermittelt. Aber selbst wenn sich im nahen Umfeld eine potenzielle Pflegefamilie findet, sind die Fachleute verpflichtet, den Platz erst sorgfältig abzuklären.

Auf die Pflegeeltern wartet ein anspruchsvoller Job: Sie sollen den Kindern einen geregelten Alltag ermöglichen, ihnen Geborgenheit geben und ihr Selbstvertrauen stärken, kurzum, sie müssen für sie sorgen. Auf diese Weise entsteht im Idealfall eine enge Bindung. Die Ersatzeltern müssen aber akzeptieren können, dass die neuen Familienmitglieder mitunter irritierende Verhaltensmuster an den Tag legen.

«In machen Fällen waren schon ganz junge Pflegekinder in ihrer ersten Familie für viele Dinge zuständig: Kleider auswählen, einkaufen, alleine essen, sich unter Umständen um die Eltern und kleineren Geschwister kümmern», erläutert Peter Hausherr. «Und jetzt sollen sie plötzlich wieder ein Kind sein, für das gesorgt wird und an dessen Alltagserlebnissen Anteil genommen wird?» Eine verunsichernde Situation, die auf beiden Seiten grosse Spannungen auslösen kann. Die Ankömmlinge brauchen viel Zeit, um sich an ihre Rollen zu gewöhnen, um zu verstehen, wie die neue Familie «tickt» – und umgekehrt. Viele Mädchen und Buben sind zudem traumatisiert und weisen Entwicklungsrückstände auf.

Fatima Walser gab ihre Tochter Shana in Pflege, als diese zwei Jahre alt war. Shanas Geschichte lesen Sie in unserer Juni/Juli Ausgabe.
Fatima Walser gab ihre Tochter Shana in Pflege, als diese zwei Jahre alt war. Shanas Geschichte lesen Sie in unserer Juni/Juli Ausgabe.

Finanzielle Unterstützung

Das alles kann nicht nur nervenaufreibend, sondern auch sehr belastend für die Pflegeeltern und allenfalls auch für mit im Haushalt lebende leibliche Kinder sein. Darum begleitet die Fachstelle «ihre» Familien intensiv, vermittelt und zahlt Beiträge an Fortbildungen und Supervisionen, um die Zweitmütter und -väter und «Geschwister» zu stärken.

Selbstverständlich erhalten die Ersatzeltern auch eine finanzielle Unterstützung von den leiblichen Eltern oder – an deren Stelle – von den Städten und Gemeinden, um ihre laufenden Kosten decken zu können. Hinzu kommt noch eine Entschädigung für die geleistete Erziehungsarbeit. Je nach Situation können so bei Dauerpflege auf den Kanton Zürich bezogen zwischen 900 und 2000 Franken pro Monat zusammenkommen.

Ein Pflegekind hat ein Recht darauf, möglichst viel über seine «echten» Eltern zu erfahren.

Ein zentraler Punkt ist die Beziehung zur Herkunftsfamilie. Die Kinder haben ein Recht darauf, möglichst viel über ihre «echten» Mamis und Papis zu erfahren. Sie sollten, wenn nichts Gravierendes dagegenspricht, auch weiterhin Kontakt zu ihren Eltern haben. Und zwar nicht nur, wenn die Rückkehr von Beginn an ein erklärtes oder zumindest wahrscheinliches Ziel ist. Es klingt absurd, aber viele Mädchen und Buben wollen mit eigenen Augen sehen, dass es ihren Eltern trotz allem gut geht. Es ist wichtig, dass die Pflegemütter und -väter die leiblichen Eltern wertschätzen. Auf diese Weise verhindern sie, dass die Kleinen in einen Loyalitätskonflikt geraten, und helfen ihnen dabei, ihre eigene Identität zu entwickeln.

Wenn sich herausstellt, dass die Treffen die Mädchen und Buben zu sehr belasten, müssen die Zusammenkünfte anders gestaltet oder eingestellt werden. Die Behörden prüfen – gemeinsam mit allen Beteiligten – in regelmässigen Abständen, ob eine Rückkehr des Kindes in seine Herkunftsfamilie möglich ist. Falls nichts dagegenspricht, wird auch dieser Schritt sorgfältig und mit Umsicht geplant.

Das Pflegekind im Zentrum

Ein Pflegekind ist wie ein kleiner Planet, um den drei Monde kreisen: Da wäre die Herkunftsfamilie, die trotz allem eine emotionale Bindung zu ihm hat, dann die Pflegeeltern, die die leibli­chen Eltern vertreten, und natürlich die Fachleute, Beistände, Behördenvertreter. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie dicht der Verkehr auf den Umlauf­bahnen werden kann. Kollisionen lassen sich fast nicht vermeiden. Solange aber alle Beteiligten akzeptieren, dass der kleine Planet das Zentrum des Universums ist und alle nur wegen ihm hier sind, kann es gelingen.

Die Zürcher Fachstelle Pflegekin­der ist ein öffentlicher Dienst. In manchen Fällen genügt es aber nicht, wenn die Sozialarbeitenden nur zu Bürozeiten erreichbar sind. Es gibt komplexe Pflegesituationen, bei denen sowohl die Kinder und Jugendlichen als auch die Pflege­eltern eine besonders engmaschige Unterstützung brauchen, damit die Fremdunterbringung gelingt und die Minderjährigen zur Ruhe kom­men können.

Bussola ist eines von verschiede­nen Unternehmen im Bereich der Familienpflege, das sich auf genau solche Situationen spezialisiert hat. Der in der Ostschweiz ansässige Anbieter begleitet rund 40 Pflege­familien im eher ländlichen Raum. «Wir sind an 365 Tagen im Jahr rund um die Uhr erreichbar, damit wir bei Krisen oder in Notlagen schnell und flexibel handeln kön­nen», erläutert Gabriele Buss, So­zialpädagogin und Mitglied der Geschäftsleitung. Heisst: Wenn sich in einer Herkunftsfamilie eine Situation zuspitzt, kann Bussola – mit dem Mandat der zuständigen Behörden – binnen 24 Stunden einen geeigneten Platz in einer Pflegefamilie bereitstellen. Und wenn es dort zu einer schwierigen Entwicklung kommt, sind die Bussola-Mitarbeiter auch schnell zur Stelle, um Konflikte zu entschärfen.

«Die Fremdunterbringungen sind rückläufig»

Gabriele Buss, Sozialpädagogin

Letztes Jahr hat Bussola insgesamt 103 Minderjährige fremdplatziert, zwei Drittel davon waren Teenager, und häufig ging es um eine Art Auszeit. «Wir beobachten, dass die Anfragen steigen; die definitiven Fremdunterbringungen sind aber rückläufig», so Buss. «Es gelingt den sozialen Diensten immer häufiger, mit ambulanten Massnahmen wie Erziehungsberatung, Schulsozialarbeit oder Familienbegleitung eine Fremdunterbringung zu verhindern.»

Die Fachfrau begrüsst diese Entwicklung ausdrücklich, zeige sie doch, dass man auf einem guten Weg sei. «Wir sind aber erst dann am Ziel, wenn alle Kinder in ihren Herkunftsfamilien aufwachsen können.»


Bettina Leinenbach hatte zu Beginn ihrer Recherche wenig Ahnung vom Pflegekindwesen – dafür viele Vorurteile. Die Journalistin und zweifache Mutter versteht mittlerweile besser, dass es sich niemand leicht macht, weder die Herkunftsfamilie noch die Pflegeeltern – und auch nicht der Staat.
Bettina Leinenbach hatte zu Beginn ihrer Recherche wenig Ahnung vom Pflegekindwesen – dafür viele Vorurteile. Die Journalistin und zweifache Mutter versteht mittlerweile besser, dass es sich niemand leicht macht, weder die Herkunftsfamilie noch die Pflegeeltern – und auch nicht der Staat.


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