Wege in die Sucht
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Wege in die Sucht

Lesedauer: 11 Minuten

Alkohol, Tabak, Cannabis, Ecstasy – Rauschmittel auszuprobieren, gehört für viele Teenager dazu. Der Markt an Substanzen ist in den letzten Jahren allerdings rasant gewachsen. Dazu kommen neue Formen von Suchtverhalten in der digitalen Welt. Wann müssen Eltern hellhörig ­werden?

Süsse Cocktails oder Wodka-Cola im Ausgang am Wochenende, dazu ein paar Zigaretten und vielleicht auch mal einen Joint. Nach Schulschluss wird mit einem Bier abgehängt und am Abend lädt die beste Freundin zum Shisha-Rauchen ein. Die Verlockungen, die sich jungen Menschen heutzutage bieten, sind gross und zahlreich. Viele geben ihnen nach, probieren sich aus. Rauschmittel im Geschäft oder im Club zu bekommen, stellt kein grosses Problem dar. 

Bei den meisten Jugendlichen bleibt es bei einem Ausprobieren, sie konsumieren eine Weile und hören dann ganz auf. Einige jedoch nicht, sie werden abhängig. Wieso ist das so? Warum können manche Jugendliche ohne gravierende Folgen zwei- oder dreimal auf Ecstasy tanzen oder Kokain schnupfen, während andere nach immer mehr, immer stärkeren Rauschmitteln verlangen? Ab wann wird aus einer Gewohnheit eine Sucht? Und was können Eltern tun, um ihre Kinder vor solchen Erfahrungen zu schützen? Sollten sie es überhaupt? 

Die Marketingmassnahmen der Alkoholindustrie richten sich auffällig an die jüngere ­Generation. 

Der Fokus dieses Dossiers liegt auf sogenannten substanzgebundenen Süchten, also der Abhängigkeit von Alkohol, Tabak, Cannabis, ­Ecstasy, Kokain, LSD, Heroin, Medikamenten oder anderen Mitteln. Darüber hinaus gibt es aber auch nichtsubstanzgebundene Süchte. Ganz oben steht in dieser Tabelle seit einigen Jahren das Internet, dicht gefolgt vom Gaming, darunter  fallen aber auch etwa Glücksspiel, Arbeitssucht oder Kaufzwang.

Der Konsum wird verharmlost 

Seit etwa fünf, sechs Jahren sind die Konsumraten bei Alkohol, Zigaretten und Cannabis in der Schweiz konstant, sagt Sucht Schweiz, und warnt gleichzeitig vor neuen Entwicklungen. Zum einen würden sich bestimmte Konsummuster wie das Rauschtrinken verfestigen. Zum anderen steige die Produktevielfalt derart rasant an, dass keiner mehr den Durchblick habe. Im Anfang Februar veröffentlichten Suchtpanorama Schweiz 2020 betonen die Fachpersonen von Sucht Schweiz, dass sich die Marketingmassnahmen gerade auffällig an die jüngere Generation richten und den Konsum verharmlosen. 

Die Alkoholindustrie setzt demnach auf Lightdrinks, aromatisierte Drinks und bunte, wie Schleckzeug verpackte Shots, um für jeden Geschmack etwas zu bieten. Gleichzeitig suggerieren Tabakproduzenten, mit den neuen Tabakerhitzern sei quasi ein cleanes Rauchen möglich und mit E-Zigaretten könne man die Freude am Qualmen ohne das gesundheitliche Risiko haben. Tatsächlich weckt die E-Zigarette die Neugierde der 15-Jährigen.

Mehr als die Hälfte der Buben und mehr als ein Drittel der Mädchen haben schon einmal «gedampft» und an einer E-Zigarette gezogen. Das ist ein höherer Anteil als bei der klassischen Zigarette. Zudem haben in den vergangenen 30 Tagen vor der Befragung rund 14 Prozent der 15-jährigen Buben Shisha geraucht. 

«Natürlich wäre es optimal, wenn wir Kinder und Jugendliche komplett vor dem Konsum süchtig machender Substanzen schützen könnten», sagt Florian Ganzer, «doch das ist praktisch unmöglich: Dieses Ausprobieren dessen, was die Eltern einem verbieten wollen, ist ja quasi entwicklungstypisch für die Adoleszenz.» 

Ganzer ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und hat lange in Hamburg auf einer Jugendsuchtstation gearbeitet, ehe er an die Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich wechselte. Deren Tagesklinik in Winterthur betreut einen Teil ihrer Patienten mit verschiedenen psychischen Störungen und einer Sucht­erkrankung. 

Wie wird aus einem pubertären Ausprobieren eine gefährliche Sucht?

Wie schnell aus einem pubertären Ausprobieren ein gefährlicher Substanzkonsum werden kann, macht Ganzer auch am Entwicklungsstand und am Leistungsniveau fest. Einmal an einer Party mit Gleichaltrigen Alkohol zu trinken oder Cannabis zu probieren, sei in diesem Sinn weniger riskant für einen 17-Jährigen, der seinen Alltag auf die Reihe bekommt, regelmässig in die Schule geht, dort gute Noten erhält und Hobbys pflegt, als für einen 14-Jährigen, der die Schule nicht mehr regelmässig besucht und bereits sozial verkümmert, weil er zum Beispiel in der Welt der sozialen Medien und Computerspiele lebt.

Je früher jemand mit dem Konsum süchtig machender Substanzen beginnt, desto schwieriger ist es, davon wieder loszukommen.

Damit Eltern hier als Seismo­grafen fungieren und mutmasslich riskante Entwicklungen rechtzeitig erkennen können, hilft ein wohl­wollender und wertschätzender Umgang mit dem Nachwuchs. Studien zeigen, dass auch Intelligenz und die sozioemotionale Reife Schutzfaktoren sein können. Doch eine Garantie gibt es nicht. Auch Kinder aus den behütetsten Familien werden drogensüchtig, während umgekehrt Jungen und Mädchen aus suchtbelasteten oder desolaten Elternhäusern zwar ein höheres Risiko haben, aber ebenso suchtfrei ins Erwachsenenleben starten können.

Es bildet sich ein Suchtgedächtnis 

Abhängig machende Substanzen zu konsumieren, ist generell schädlich für die körperliche und seelische Gesundheit, egal, wie alt der Konsument ist. Aber: Je früher jemand mit dem Konsum süchtig machender Substanzen beginnt, desto schwieriger ist es, davon wieder loszukommen. Und dabei gilt eine weitere Faustregel: Je früher im Leben damit begonnen wird, desto stärker greifen die Substanzen in den Entwicklungsprozess ein. 

«So ist Alkohol per se ein Zellgift und toxisch, das zeigt sich auf vielen Ebenen, von der Magenschleimhaut bis zur Funktion der Nervenzellen», sagt Ganzer. Zudem prägen sich gewisse Reaktions­muster ins Gehirn, ein sogenanntes Suchtgedächtnis bildet sich. Der Raucher lernt, dass ihn nach einem schwierigen Gespräch eine Zigarette entspannt, der Trinker weiss, dass ein paar Flaschen Bier ihn locker machen und Ängste verschwinden lassen. Aber auch indirekt hat ein Substanzkonsum Folgen. So kann es beispielsweise zu alkoholbedingten Stürzen und Unfällen kommen, oder Jugendliche gehen nicht in die Schule, weil sie verkatert sind. 

Der Alkoholkonsum von ­Jugendlichen ist in der Schweiz seit fünf, sechs Jahren konstant. Aber es verfestigen sich Muster wie das Rauschtrinken. (Bild: GettyImages)
Der Alkoholkonsum von ­Jugendlichen ist in der Schweiz seit fünf, sechs Jahren konstant. Aber es verfestigen sich Muster wie das Rauschtrinken. (Bild: GettyImages)

Eine Abhängigkeit ist immer eine dysfunktionale Form der Problembewältigung. Einer der wichtigsten Ansätze, wenn man den Weg in die Sucht als Option ausschliessen möchte, ist es daher, Kindern und Jugendlichen so früh wie möglich beizubringen, wie sie mit Problemen umgehen können.

«Bezugspersonen sollten ihnen zeigen, wie man Emotionen regulieren kann, sie annimmt, reflektiert und mit ihnen umgeht», sagt Ganzer. Wer gelernt hat, dass es absolut okay ist, wenn man bei Liebeskummer eine Weile lang traurig ist und es einem vielleicht hilft, mit Freunden zu reden oder sich beim Sport auszupowern, der greift weniger wahrscheinlich zu Suchtmitteln. Das Problem aktiv angehen, statt vor den unangenehmen Gefühlen zu fliehen und zu resignieren, lautet das Motto.

Eltern haben eine wichtige ­Vorbildfunktion

Ein Risikofaktor, der von vielen Eltern übersehen wird, ist der eigene Substanzkonsum. Gerade legale Drogen wie Alkohol und Zigaretten sind sozial akzeptiert, Wein und Bier gehören in geselligen Runden fast schon standardmässig dazu. «Eltern sollten kritisch betrachten, wie viel Alkohol sie selbst trinken», sagt Ganzer, «sie haben eine wichtige Vorbildfunktion.

Für viele ist es ganz normal, abends zur Belohnung nach einem harten Tag oder zur Entspannung Alkohol zu trinken. Da sind die ganzen schädlichen Folgen zwar meist nicht sichtbar, doch man sollte sich durchaus fragen, wieso man kaum einen Tag ohne Alkohol hinbekommt.»

Der Weg zur Abstinenz ist für junge Süchtige besonders schwer. Denn die Drogen haben einen wesentlichen Teil ihrer Identitätsbildung ausgemacht.  

Die Pubertät ist eine Phase der Identitätsfindung. Wer bin ich? Wohin will ich im Leben? Welcher Weg führt dorthin? Das ist eine Zeit höchster Verletzlichkeit, jeder noch so kleine Einfluss kann hier gravierende Folgen haben: eine zurückgewiesene Liebe, ein «falscher» Freundeskreis, ein wohlgemeinter, aber als Kritik empfundener Ratschlag. «Vor allem männliche Jugendliche sondieren hier, testen Stärke und Dominanz und geben gerne mal den harten Kerl, der Alkohol und Drogen probiert», sagt Ganzer. 

Während Mädchen sich auf der Suche nach dem eigenen Ich lange Zeit eher zurückhaltend und introvertiert gegeben haben, verändert sich auch das seit einigen Jahren: Es sind nicht mehr nur Buben, die volltrunken und zugedröhnt von Partys heimkehren, weiss Ganzer aus der klinischen Erfahrung.  Etwa zwei Drittel männlich und ein Drittel weiblich schätzt der Oberarzt das Geschlechterverhältnis bei den jungen Substanzkonsumenten. 

Den Schritt zum Entzug machen Jugendliche meist nicht selbst

Liegt eine klinisch diagnostizierte Abhängigkeit vor, kann oft nur ein Entzug helfen. Das A und O in der Suchtbehandlung, da sind sich alle Experten einig, ist die Motivation des oder der Süchtigen. «Den Schritt zum Entzug machen meist die Eltern oder Behörden, so dass ich mit den Jugendlichen in der ersten Zeit hauptsächlich an ihrer Motivation arbeite», erzählt Ganzer. 

Der Weg zur Abstinenz ist gerade für junge Menschen sehr schwer. «Wer mit 16, 17 Jahren süchtig ist und schon einige Jahre lang konsumiert hat, für den ist der Gedanke ‹Ich muss für immer aufhören› schier unerträglich», sagt Ganzer. Die Drogen haben einen wesentlichen Teil des Lebens und – in der eigenen Wahrnehmung – der Identitätsbildung des Jugendlichen ausgemacht. 

Was bleibt, wenn diese weggenommen werden? Wer bin ich dann noch? Die Angst, das entstehende Loch zu füllen, lähmt und erschwert den Weg. «Hier raten wir immer zu einem Zwischenschritt und sagen: Reduziere doch erst mal den Konsum», sagt Ganzer, «das ist weniger angsteinflössend.» Wenn dies dann scheitert, steige oft auch die Problemeinsicht.

Lernen Kinder nicht, Gefühle zu regulieren, weil die Eltern das auch nicht können, entsteht ein Defizit, das sie füllen müssen.

Verlässliche Beziehungen sind für die Jugendlichen eine enorme Stütze auf dem Weg aus der Sucht. In der Tagesklinik Winterthur wird daher viel Wert auf die Eltern- und Familienarbeit gelegt. Mit einer systemischen Therapie lernen beispielsweise alle Familienmitglieder, welche Bedeutung Regeln, Strukturen und Verlässlichkeit in den Beziehungen untereinander spielen.

Gerade Bezugspersonen der Jugendlichen erleben immer wieder Machtlosigkeit, das Gefühl, helfen zu wollen und es doch nicht zu schaffen. «Das kann eine äusserst frustrierende Erfahrung sein. Da ist es gut, wenn mal jemand von aussen mit Distanz und einer professionellen Haltung dazukommt», sagt Ganzer.

Ein gesellschaftliches Problem: Legale Drogen wie Alkohol und Zigaretten sind sozial akzeptiert. (Bild: Brian Finke / Gallery Stock)
Ein gesellschaftliches Problem: Legale Drogen wie Alkohol und Zigaretten sind sozial akzeptiert. (Bild: Brian Finke / Gallery Stock)

Wenn 16-, 17-jährige Süchtige bei Stephan Kupferschmid an der Integrierten Psychiatrie Winterthur – Zürcher Unterland in Behandlung sind, interessiert den Chefarzt Psychiatrie für Jugendliche und junge Erwachsene auch deren Vergangenheit: Wann sind die jungen Menschen zum ersten Mal mit Substanzen in Berührung gekommen?

«Wir sehen dann häufig, dass der Einstieg in die Suchtmittel, der Probierkonsum, schon recht früh begonnen hat. So fangen schon Elf- und Zwölfjährige an zu rauchen», sagt Kupferschmid. Auch wer seine Zeit gerne mit Konsolenspielen oder generell im Internet verbringt, erlebt oft eine Form der Abhängigkeit. «Die allermeisten Kinder können das gut kontrollieren, die zehn Prozent, die damit aber ein Problem haben, benötigen therapeutische Unterstützung», sagt Kupferschmid.

Mit Suchtmitteln werden die eigenen Emotionen stabilisiert

Den oft verwendeten Begriff der Suchtpersönlichkeit hören er und seine Kollegin Ulrike Sanwald, Leitende Ärztin und Co-Leiterin der Integrierten Suchthilfe Winterthur, allerdings überhaupt nicht gern. Denn das, was den Kindern und Jugendlichen Probleme macht, ist meist eine sogenannte Emotions­regulationsstörung. Suchtmittel können dann zur eigenen Stabilisierung benötigt werden.

«Ein anderer Mechanismus kann sein, dass man alles, was man gerne macht, auch exzessiv machen kann, ohne da ein gesundes Mass zu finden», erklärt Sanwald. Eltern, die wissen, dass ihr Kind in diesem Bereich anfällig ist, sollten entsprechend besonders aufmerksam sein, wenn sie merken, dass der Nachwuchs vielleicht erste Kontakte mit Substanzen aufnimmt.

Entwicklungspsychologen gehen davon aus, dass das Gehirn etwa bis zum 25. Lebensjahr reift. Teil dieses Veränderungsprozesses ist auch die Steuerung von Emotionen. «So sitzen im Frontalhirn auch exekutive Funktionen. Dieser Bereich ist also auch dafür verantwortlich, Stopp zu sagen und zu bewerten: Ist das eigene Handeln gerade vernünftig oder nicht?», erklärt Kupferschmid. Im nicht fertig gereiften Gehirn kleiner Kinder mangelt es entsprechend noch sehr an einer Impulskontrolle. Je jünger Kinder sind, umso schwerer fällt es ihnen, mit ihren Gefühlen umzugehen.

Wie viel ist zu viel?

Das grosse Problem bei allen Substanzen: Es gibt keine allgemeingültigen Angaben dazu, ab wann die Grenze vom Ausprobieren zur Sucht überschritten ist. Menschen reagieren unterschiedlich auf Substanzen, zudem spielen zahlreiche Faktoren wie Alter, Konsummenge, Konsumhäufigkeit, genetische Veranlagung und Geschlecht eine Rolle.

Experten weisen darauf hin, dass der Konsum von Substanzen nicht erst dann problematisch ist, wenn eine Abhängigkeit besteht. Alkohol oder Drogen können bereits bei einmaligem übermässigem Konsum schwere gesundheitliche Schäden verursachen.

Generell gilt: Es gibt keinen Konsum ohne Risiko. Je weniger man konsumiert, umso geringer ist die Gefahr, dass Probleme oder eine Abhängigkeit entstehen. Das trifft besonders auf Kinder und Jugendliche zu, deren körperliche und geistige Entwicklung vom Substanzkonsum beeinträchtigt werden kann. Auch bei substanzungebundenen Abhängigkeiten wie dem Gaming oder der Internetsucht gibt es keine allgemeingültigen Zeiträume, ab denen man von einer Sucht sprechen kann.

Experten raten hier, sich zu fragen, inwiefern das betreffende Verhalten das eigene Leben beziehungsweise das des Kindes beeinflusst. Werden andere ­Interessen und Verpflichtungen vernachlässigt, ist das problematisch. Ebenso, wenn beispielsweise das ständige Online-Sein dabei helfen soll, innere ­Spannungen abzubauen. Wenn Sie unsicher sind, lassen Sie sich individuell von Fachpersonen beraten.

Durch diesen Lernprozess müssen grundsätzlich alle Menschen durch. Mitunter jedoch wird das Gehirn bei der Reifung gestört. Das kann durch ganz unterschiedliche Faktoren geschehen. So wissen Mediziner inzwischen, dass frühkindliche Einflüsse wie beispielsweise die erlebte Bindung eine grosse Rolle spielen. Lernen Kinder nicht, wie sie ihre Gefühle regulieren können, weil das vielleicht die Eltern selbst nicht können, entsteht ein Defizit, das die Kinder selbst füllen müssen: Indem sie eigene Strategien entwickeln, weil das Vorbild fehlt. Oder es auch die Situation nicht erlaubt. 

«Wir erleben es häufig, dass Kinder, die sich dauernd zurücknehmen und überanpassen müssen, weil zum Beispiel ein Geschwisterkind schwer krank ist, psychische Probleme entwickeln. Diese können auch erst später, in der Adoleszenz oder dann im Erwachsenenalter, zum Tragen kommen», sagt Sanwald. Dabei ist es gerade in der Entwicklungsphase wichtig, dass Kinder und Jugendliche einen Rahmen haben, in dessen Grenzen sie sich ausleben und an Dingen abarbeiten können, um sich selbst intensiv kennenzulernen. 

Sucht. Bild: YAY Media AS / Alamy Stock Photo

Unbedingt vermeiden sollte man es, die Elternrolle zu verlassen und auf beste Freunde zu machen. Bild: YAY Media AS / Alamy Stock Photo

«Es braucht keine perfekten Eltern» 

Eltern, die sich mal vergessen, überreagieren oder rumbrüllen – das ist nicht schön, aber führt nicht gleich zu Entwicklungsstörungen beim Kind. «Es braucht keine perfekten Eltern», sagt Kupferschmid, «sondern solche, die ‹gut genug› sind. Auch bei ganz tollen Eltern funktionieren nicht alle Interaktionen gut und es kommt auch immer wieder zu Missverständnissen. Hier kommt es darauf an, auch nach einer nicht gelungenen Interaktion schnell einen guten Weg ins Miteinander zu finden.»

Erste Regel für Eltern: keine Panik. Dass Kinder konsumieren, heisst nicht, dass sie abhängig werden.

Experten sprechen von verschiedenen Faktoren, die die Gefahr, dass ein Kind oder Jugendlicher süchtig wird, vergrössern oder verringern können. So gelten etwa psychisch kranke Eltern oder eine desolate und instabile Umgebung als Risikofaktoren, aber auch häufige räumliche Veränderungen aufgrund von Umzügen oder Wechsel bei den Bezugspersonen wie zum Beispiel durch einen Schulwechsel oder einen neuen Freundeskreis bei Beginn einer Lehre.

Wichtige Schutzfaktoren sind stabile Bindungen zu Erwachsenen – die nicht zwingend die Eltern sein müssen – und Gleichaltrigen sowie das Erleben von Selbstwirksamkeit. 

Wann ist man abhängig?

Im wissenschaftlichen Sprachgebrauch verwendet man hauptsächlich die Begriffe Abhängigkeit, Abhängigkeitssyndrom und substanzgebundende Abhängigkeiten. Das soll verdeutlichen, dass es sich um Krankheiten handelt. Die Bezeichnung «Sucht» wird häufig als Stigmatisierung der Betroffenen gesehen, aber nach wie vor in offiziellen und inoffiziellen Zusammenhängen gebraucht.

Eine Abhängigkeit liegt dann vor, wenn ein Mensch das Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand hat und dieses Verlangen nicht mit Hilfe seines Verstandes bändigen kann, sondern ihm nachgibt. Das beeinträchtigt in der Folge die freie Entfaltung der ­Persönlichkeit und das soziale Leben des Betroffenen.

Es wird unterschieden zwischen substanzgebundenen Abhängigkeiten wie Drogensucht, Nikotinsucht, Medikamentensucht und substanzungebundenen Abhängigkeiten wie Glücksspielsucht, Internetsucht, Kaufzwang, Arbeitssucht, Handysucht.

Das ist vor allem mit Hobbys möglich. «Sich selbst als Teil von etwas fühlen – einer Musikgruppe, eines Sportvereins, irgendeiner gemeinsamen Betätigung, die im öffentlichen Raum stattfindet – , das erzeugt eine positive Aktivität, bei der Endorphine ausgeschüttet werden, und stellt damit eine Alternative zu Suchtmitteln dar», so Sanwald.

Hinzu kommt, dass Jugendliche beim Sport sehr schnell merken, was ihnen die konsumierte Substanz nehmen kann: Sie fallen in der Leistung stark ab. Wer am Vorabend eines Spiels viel trinkt, ist nicht fit. Die Sucht wird als störend und hinderlich erlebt. Noch ein Pluspunkt in Vereinen: Die Trainer oder Gruppenleiter sind positive Vorbilder. 

Mein Kind nimmt Drogen – was tun?

Entdecken Eltern, dass ihre Kinder legale oder illegale Suchtmittel konsumieren, lautet die erste Regel: keine Panik. «Allein dass sie konsumieren, heisst nicht, dass sie abhängig werden», sagt Sanwald. «Hier bewegt sich vieles im Bereich des Ausprobierens.» Eltern sollten diese Phase dennoch ernst nehmen und eruieren: Was konsumiert mein Kind? In welchen Situationen tut es das? Wobei hilft ihm der Konsum vielleicht, welchen Effekt hat er? Dann gilt: In Beziehung und im Gespräch bleiben, dabei aber eine klare Haltung signalisieren. Im Sinne von «Du, ich finde das nicht gut und mache mir Sorgen». 

Unbedingt vermeiden sollte man es, die Elternrolle zu verlassen und auf beste Freunde zu machen, um an Informationen zu kommen, oder – das andere Extrem – drakonische Strafen auszusprechen. Was nicht heisst, dass Eltern keine Regeln setzen sollten. «Wenn man weiss, dass der Jugendliche regelmässig im Ausgang unter der Woche konsumiert und darunter Schule oder Lehre leiden, kann die Regel lauten: kein Konsum, wenn am nächsten Tag die Ausbildung ­wartet», sagt Sanwald. «Zugewandt, aber beharrlich ist in diesem Zusammenhang eine empfehlenswerte Kombination.»

Zahlen und Fakten

Das Bundesamt für Gesundheit erfasst in seinem Monitoringsystem «Sucht und nichtübertragbare Krankheiten», wie viele Jugendliche in der Schweiz Substanzen konsumieren. Demnach haben 2018 rund 32 Prozent der Jugendlichen zwischen 11 und 15 Jahren mindestens gelegentlich Alkohol getrunken. 1994 waren es 62 Prozent gewesen.

Auch der Tabak hat an Popularität ­verloren: Im Jahr 1994 hatten von den Jugendlichen zwischen 11 und 15 Jahren 18,1 Prozent geraucht, 2018 waren es nur noch 5,7 Prozent.

Beliebter geworden ist dagegen Cannabis: 12,5 Prozent der 14- bis 15-jährigen Mädchen haben es mindestens einmal konsumiert, bei den Jungen waren es 21,7 Prozent. Im Jahr 1994 hatte der Anteil bei 10,8 Prozent der Mädchen und 17,3 Prozent der Jungen gelegen.

Claudia Füssler
arbeitet als freie Wissenschaftsjournalistin. Am liebsten schreibt sie über Medizin, Biologie und Psychologie.

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