«Eltern brauchen ein Extra-Reservoir an Energie» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Eltern brauchen ein Extra-Reservoir an Energie»

Lesedauer: 4 Minuten

Die Familienforscherin Annette Cina weiss, unter welch grossem Druck heute viele Eltern stehen. Sie müssen besser für sich selber sorgen, sagt die Psychogin, damit es auch den Kindern gut geht.

Frau Cina, im Alltag vieler Familien nehmen die Interessen der Kinder einen nicht unerheblichen Raum ein. Verlieren Eltern dabei nicht die eigenen Bedürfnisse aus dem Blick?

Die Selbstfürsorge der Eltern ist ­tatsächlich eines der wichtigsten Themen in der Erziehungsproblematik. Dieser Punkt wird von vielen Vätern und Müttern vernachlässigt. Mit gravierenden Konsequenzen.

Von welchen Konsequenzen sprechen Sie?

Alle Eltern stehen vor der Herausforderung, überhaupt zu erkennen, wie es ihrem Kind geht, in welcher Entwicklungsphase es ist – und entsprechend zu reagieren. Wenn ich als Elternteil ruhig bin, gelingt mir das besser. Bin ich gestresst, überfordert oder ringe mit etwaigen Konflikten, habe ich nicht genügend Ressourcen, um auf das Kind einzugehen. Kinder reagieren aber sehr schnell darauf, wenn sie nicht bekommen, was sie benötigen. Dann treten Probleme auf oder verstärken sich. Das Thema der elterlichen Selbstfürsorge ist für das Wohlergehen der Kinder also extrem wichtig.

Jetzt gibt es aber in der kindlichen Entwicklung immer wieder Phasen, in denen Eltern meinen, gar keine Zeit fürs eigene Wohlergehen zu haben.

Gerade am Anfang, in der Säuglingsphase, ist das Kind natürlich darauf angewiesen, dass die Eltern prompt reagieren. Wenn es schreit, braucht es schnell eine Rückmeldung. Wesentlich ist dann, ob ich mich als Elternteil auf den Rhythmus des Kindes einlassen kann und seine Ruhephasen nutze, um mir selbst etwas Gutes zu tun – und nicht beispielsweise dafür, die Wohnung aufzuräumen oder anderes Liegengebliebenes zu erledigen. Aber mit diesem Kontrollverlust haben viele Eltern ein Problem.

Müssen Eltern lernen, mehr Chaos zu akzeptieren?

Kinder stören die gewohnten Ab­läufe. Weil Eltern oft unerwartet auf sie reagieren müssen, können sie ihre Routinen nicht aufrechterhalten. Wir sind aber Gewohnheits­tiere. Wir wollen Struktur und Kontrolle. Elternschaft bedeutet, dass vieles anders läuft, als man es geplant hat. Je nachdem, wie gut man mit diesem Kontrollverlust umgehen kann, ist man mehr oder weniger gestresst. Wer Zuversicht bewahrt, wer sich sagen kann: «Okay, das ist jetzt schwierig, aber wir kriegen das hin», dem geht es auch in anstrengenden Phasen besser.

Umgekehrt raten aber viele Pädagogen, Kinder frühzeitig an die vertrauten Abläufe zu gewöhnen. 

Flexibel zu agieren, bedeutet nicht, unstrukturiert in den Tag zu leben. Es hilft, in der Familie einen bestimmten Rhythmus zu etablieren. Wenn Eltern Abläufe und Grenzen vorgeben, weiss ein Kind: «Aha, so läuft das bei uns». Das gibt ihm Sicherheit. Wenn ein Kind weiss, was von ihm erwartet wird, wird es in der Regel ruhiger. Vielleicht nicht sofort, aber mit der Zeit adaptiert es die Struktur. Das wiederum gibt den Eltern Halt. Wenn sie wissen, wann zum Beispiel die Kinder ins Bett gehen, können sie ihre Pausen, ihre Selbstfürsorge einplanen.

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Dieser Artikel gehört zum Online-Dossier Erziehen ohne Schimpfen. Lesen Sie mehr zum Thema, wie: Kinder verlangen ihren Eltern viel Geduld ab. Ruhig zu bleiben lohnt sich, denn schimpfen bringt nichts. Wie aber funktioniert Erziehung, ohne laut zu werden?

Wie gelingt diese Balance? Viele Eltern machen früher oder später die Erfahrung, dass ein Kind sich nicht so einfach in bestimmte Strukturen einfügen will. Für die meisten ist beispielsweise das Einhalten von Terminen ein ewiger Kampf.

In solchen Phasen lohnt es sich, gut zu überlegen, worauf man fokussieren will. Als Familie fügt man sich auch in eine gesellschaftliche Struktur ein. Da kommt ständig Bewertung von aussen. Wenn ein Kind konstant trödelt, kann man sich fragen, was es jetzt eigentlich braucht. Woher kommt das Problem? Was ist wichtig? Was soll das Kind lernen, was muss es leisten? Bei einem freiwilligen Nachmittagstermin kann man über die Notwendigkeit nachdenken. Über den Schulstart kann man nicht verhandeln. Da kann man nur früher aufstehen, damit man weniger drängeln muss. Druck produziert fast immer Widerstand. Man kann seinen Kindern auch einen Ausgleich dafür anbieten, dass manche Regeln nicht verhandelbar sind.

Was für einen Ausgleich?

Zeiten, in denen sie sich an wenige oder gar keine Regeln halten müssen. Das ist ein Angebot, das einem Kind Aufmerksamkeit und Wertschätzung vermittelt. Im Gegenzug kann man kommunizieren, welche Dinge nicht verhandelbar sind. Ein Satz wie «Das erwarte ich von dir, da gibt es keine Diskussion» ist absolut in Ordnung. Auch Kinder, die viel Freiraum brauchen, tun relativ viel, wenn man sie wahrnimmt und sie Anerkennung bekommen. Dafür müssen die Eltern ihre Kinder im Blick haben und darauf reagieren, was sie gerade bewegt.

Heisst das, Eltern müssen auf ihre Kinder eingehen, um auch zu ihren eigenen Bedürfnissen zu kommen?

Das hängt zusammen, ja. Eltern müssen ihre eigenen Grenzen spüren und berücksichtigen. Nur wenn sie sich selbst stark genug fühlen, können sie auch ihre Kinder stärken. Viele Eltern fokussieren zu stark darauf, was sie jetzt leisten müssen und wie sie sein sollen. Sie verlieren sich in den Erwartungen anderer und büssen dadurch Ruhe und ­Stärke ein. Der Fokus sollte auf der eigenen Familie liegen. Hierzu müssen die gesellschaftlichen Erwartungen manchmal ausgeblendet werden.

Theoretisch ist das einigen bewusst. In der Praxis schultern sich dann aber doch viele Mütter und Väter einiges auf, weil sie meinen, das müsste so sein. Was sagen Sie denen?

Da rate ich sehr deutlich zu weniger Perfektionismus. Sie müssen die Überforderung reduzieren. Manchmal frage ich Eltern, insbesondere Mütter, Dinge wie: Was sind die Prioritäten? Was ist wirklich wichtig? Dass Ihre Küche und Ihre Wohnung sauber sind? Alle T-Shirts gebügelt sind? Oder dass Ihr Kind mit Ihnen lernt, wie es sich selbst beruhigen kann, wenn es einen Wutanfall hat? Eltern brauchen Zeit für ihre Kinder, die kann man nicht an anderer ­Stelle wieder hereinholen. Es wird nie wieder so sein wie früher, als man noch für sich allein geplant hat. Diese Einsicht ist Teil der Selbstfürsorge. Eltern brauchen immer ein Extra-Reservoir an Energie.

Annette Cina, 49, arbeitet am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Fribourg. Die Psychologin und Psychotherapeutin hat drei Kinder und forscht u. a. in den Bereichen Prävention von kindlichen Verhaltens-störungen, Kindererziehung, Elternberatung und Stress.
Annette Cina, 49, arbeitet am Institut für Familienforschung und -beratung der Universität Fribourg. Die Psychologin und Psychotherapeutin hat drei Kinder und forscht u. a. in den Bereichen Prävention von kindlichen Verhaltens-störungen, Kindererziehung, Elternberatung und Stress.


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