«Ein Familienmitglied ist kein Suchtexperte» - Das Schweizer ElternMagazin Fritz+Fränzi
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«Ein Familienmitglied ist kein Suchtexperte»

Lesedauer: 4 Minuten

Suchtspezialistin Vanessa Brandestini rät dazu, einen übermässigen Alko­holkonsum mit dem betreffenden Familienmitglied direkt anzusprechen. Die Ansicht, das Problem in der Familie regeln zu müssen, könne jedoch fatal sein.

Vanessa Brandestini, realisieren Betroffene überhaupt, wenn der Umgang mit dem Alkohol problematisch geworden ist? 

Bei sich selbst merkt man das oftmals zuletzt. Man möchte möglichst lange den Glauben aufrechterhalten, dass der eigene Umgang mit dem Alkohol nicht problematisch ist. Deshalb nimmt in der Regel zuerst das Umfeld wahr, dass etwas nicht stimmt. 

Und woran kann der Partner festmachen, dass der Umgang problematisch wird?

Alkoholsucht ist eine psychische Erkrankung wie zum Beispiel die Depression. Es gibt definierte Kriterien wie zum Beispiel den Kontrollverlust über die Menge des Alkoholkonsums, das starke Verlangen nach Alkohol oder die Einschränkung des Lebens durch den Alkoholkonsum – zum Beispiel, wenn der Partner immer häufiger bei der Arbeit fehlt oder Alltägliches nicht mehr erledigen kann. Der Einstieg in eine Sucht ist ein schleichender Prozess.

Wann ist der Punkt gekommen, an dem es wirklich kritisch wird?

Wirklich kritisch kann es dann werden, wenn jemand anfängt, regelmässig alleine zu trinken. Wenn es etwas Heimliches wird. Ein Zeichen für den Beginn einer Sucht ist auch der Einsatz von Alkohol als Problemlösungs- oder als Entspannungsmittel: Wenn man anfängt, nach der Arbeit eines oder mehrere Gläser Wein zum Entspannen vom beruflichen Stress zu trinken. Oder wenn man beginnt, schon tagsüber an Alkohol zu denken und sich darauf freut, dass man am Abend endlich trinken kann. 

Wann ist der richtige Moment für Ange­hörige, das Thema anzusprechen?

Im Grunde wenn man findet: «Mit deinem Alkoholkonsum fühle ich mich nicht mehr wohl.» 
Dieses Interview erschien zusammen mit der Reportage: «Wenn Papa trinkt»
Dieses Interview erschien zusammen mit der Reportage: «Wenn Papa trinkt»

Stösst man damit nicht einfach auf Ablehnung?

Ja, das kann tatsächlich so sein. Der alkohol­abhängige Partner wird meistens so lange wie möglich an einem gesunden Selbstbild festhalten. Für die Partner von Betroffenen kann das sehr schwierig sein. Man muss eine Balance zwischen den Bedürfnissen des Partners und den eigenen finden. Man möchte einerseits versuchen, für den Partner da zu sein – andererseits muss man für sich auch Grenzen ziehen und sagen: Jetzt reicht es.

Wie können Partner helfen?

Darüber zu sprechen, ist immer ein guter Weg. Das heisst, nicht zuzuschauen, den Betroffenen zu decken oder in der Verleugnung zu bestärken. Das würde die Suchtdynamik nur unterstützen. Ich rate dazu, externe Beratungsstellen zu kontaktieren, ein Familienmitglied ist kein Suchtexperte. Eine Alkoholkrankheit ist eine psychische Erkrankung, die professionelle Unterstützung braucht. Viele Partnerinnen und Partner denken, das müssen wir in der Familie regeln, das darf nicht nach aussen gelangen. Das kann eine fatale Selbstüberschätzung sein. Deshalb rate ich Angehörigen, sich zum Beispiel an eine Suchtberatungsstelle zu wenden: Diese können dabei helfen, einen Weg zu finden. Gleichzeitig sind sie so auch Vorbild für ihre betroffenen Partner: Sie sehen, dass man sich Hilfe holen kann.

Wie können Eltern damit umgehen, wenn ein Elternteil süchtig wird? Und wie schlimm ist es für die Kinder?

Schwierig ist für die Kinder vor allem, dass ­ ihr Alltag durch die Suchterkrankung eines Elternteils unberechenbar und instabil wird. Sie wissen nicht mehr, woran sie sind: In welcher Stimmung ist der Vater oder die Mutter heute? Sie fangen an, ihre Umwelt ständig zu beobachten, um wenigstens ein bisschen Berechenbarkeit oder Kontrolle herzustellen. Das ist darum problematisch, weil das viel Unsicherheit auslöst. Vorhersehbarkeit und Verbindlichkeit sind für Kinder wesentlich. Und gleichzeitig ist man als Elternteil immer auch Vorbild – Kinder von Alkoholabhängigen übernehmen später vermehrt selbst die Strategie, Probleme mit Alkohol zu lösen.

Die Partner von Alkoholabhängigen sind damit beschäftigt, mit ihren Partnern, den Kindern und dem Alltag irgendwie klarzukommen. Wie kann man in so einer Lage den Kindern Sicherheit bieten? 

Es ist tatsächlich viel verlangt. Es kann enorm schwierig sein, in so einem Moment eine Familie zusammenzuhalten und für die Kinder ein gutes Umfeld zu schaffen. Aber es kann auch etwas Positives haben: Wenn man es als Familie schafft, die Sucht eines Familienmitgliedes zu bewältigen und zu verarbeiten, dann kann das auch die Kinder positiv beeinflussen: Sie lernen, wie man sich in der Familie unterstützen kann, wie man gemeinsam einen schwierigen Weg gehen und ein Problem zusammen lösen kann. Das kann den Zusammenhalt einer Familie stärken. 

Und wenn das nicht möglich ist? Wenn sich der alkoholkranke Partner nicht mehr unter Kontrolle hat? Wenn er gewalttätig wird?

Das ist der Moment, in dem man sich selber und die Kinder schützen und Konsequenzen ziehen muss. Wichtig dabei ist, dass man keine leeren Drohungen ausspricht, sondern tatsächlich handelt. Auch hier kann professionelle Unterstützung  wertvoll sein, indem man zusammen nach Möglichkeiten sucht, wie Grenzen gezogen werden können.

Ist das der Moment, in dem der Partner mit den Kindern ausziehen muss?

Das kann eine Möglichkeit sein. Wichtig ist, dass kommuniziert wird, dass Hilfe von aussen geholt wird, sei es bei einer Opfer­beratungsstelle oder der Polizei. Das kann auch dazu führen, dass der gewalttätige Partner für einen gewissen Zeitraum aus der Wohnung verwiesen wird. 

In unserer Reportage war der Vater alkoholkrank. Die Mutter hat das aber nicht wahrgenommen. Stattdessen wurde sie depressiv und dachte, sie sei das Problem. Ist das eine typische Entwicklung?

Ja, es geschieht oft, dass Partner diese Problematik auf sich nehmen und Schuld­gefühle entwickeln. Die Alkoholsucht ist aber oftmals nicht das eigentliche Problem, sie ­ ist eine dysfunktionale Lösungsstrategie des Betroffenen. Für ihn ist der Alkohol in dem Moment das beste Mittel zur Lösung eines Problems. Unter Abstinenz können sich dann darunterliegende Probleme zeigen. Das, woran man tatsächlich arbeiten muss. Das können auch Themen sein, die beide in einer Partnerschaft betreffen. 

Sie arbeiten mit Alkoholkranken. Kann jeder seine Sucht überwinden?

Ich bin in meiner Arbeit noch nie einem Menschen begegnet, bei dem ich dachte: Da gibt es keine Hoffnung. Damit ein Weg aus der Sucht gefunden werden kann, muss der Betroffene merken, dass er Hilfe braucht, und er muss etwas verändern wollen. Wir arbeiten in der Alkoholkurzzeittherapie PSA am Spital Wattwil in kleinen Gruppen von sieben Patientinnen und Patienten während vier Wochen mit lösungsorientiertem Ansatz. Der Schwerpunkt unserer Behandlung liegt darin, mit dem Patienten Wünsche und Ziele im Hinblick auf die Zukunft zu definieren und konsequent zu verfolgen. Das Therapieprogramm baut auf den individuellen Ressourcen und Stärken der Patientinnen und Patienten auf. Dabei geht es vor allem um das Einüben konstruktiver Problemlösungsstrategien, die Förderung der Beziehungsfähigkeit und den Aufbau einer Abstinenzmotivation. Die Arbeit ist nach der stationären Therapie aber für den Betroffenen nicht erledigt. Wir gleisen bereits während der Behandlung eine geeignete Nachsorge auf. Das kann eine Selbsthilfegruppe, eine Einzelberatung oder eine ambulante Psychotherapie sein. Wichtig ist, dass die Betroffenen am Ball bleiben.

Zur Person: 

Vanessa Brandestini ist therapeutische Leiterin der Alkoholkurzzeittherapie PSA im Spital Wattwil SG.
Vanessa Brandestini ist therapeutische Leiterin der Alkoholkurzzeittherapie PSA im Spital Wattwil SG.


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