«Wer nie gelernt hat Probleme zu lösen, hat Mühe bei der Berufswahl»
Die Psychotherapeutin Ernesta von Holzen sagt, die Entwicklung des Gehirns erinnere während der Pubertät an eine Grossbaustelle. Die Laufbahnberaterin über die Berufswahl in einer Zeit, in der sich die Psyche von Jugendlichen stark verändert – und die Geduld der Eltern auf eine harte Probe gestellt wird.
Frau von Holzen, die Berufswahl fällt für viele mit der Pubertät zusammen. Wie wirkt sich das aus?
In dieser Entwicklungsphase geht vieles einher: Die Jugendlichen lösen sich von ihren Eltern, sie entwickeln ihre eigene Identität. Gleichzeitig findet ein kompletter Umbau des Gehirns statt, Tausende Synapsen werden gelöscht und neue gebildet. Die Jugendlichen haben deshalb einen Mangel an Selbststeuerung, sind impulsiv. Es können auch leichter psychische Schwierigkeiten entstehen.
Wie verändert sich das Verhältnis von Jugendlichen zu ihren Eltern in dieser Zeit?
Vorher haben die Eltern die Regeln definiert und das Kind musste sich daran halten. Mit Teenagern müssen sie viel mehr aushandeln. Die Eltern müssen aber weiterhin Leitplanken setzen, innerhalb derer sich ihre Kinder bewegen dürfen. Wenn die Eltern selber Mühe mit der Ablösung haben, überfürsorglich werden oder viel kontrollieren wollen, wird es für beide Seiten schwierig. Ebenso, wenn Vater und Mutter ihrem Kind schon zu viel Verantwortung geben, indem sie sagen: Das kannst du selber entscheiden, du wirst ja jetzt erwachsen. Zu viel Verantwortung überfordert Jugendliche.
Haben Sie eine Erklärung dafür, weshalb in dieser Phase der Ablösung die Eltern von den Kindern trotzdem als so wichtig angesehen werden?
Die Familie gibt Stabilität in einer Zeit, in der alles instabil geworden ist. Eltern, die ihren Kindern mit Rat und Tat zur Seite stehen und die Geduld haben, sie in ihrer Entwicklung zu begleiten, sind enorm wertvoll.
Die Gleichaltrigen sind für die Jugendlichen aber auch wichtige Bezugspersonen.
Ja, aber die haben keine Berufserfahrung. Auch im Jugendalter lernen die Kinder am Modell ihrer Eltern. Wie haben sie es gemacht? Wussten sie, was sie wollten? Haben sie ein Zwischenjahr absolviert? Wenn die Beziehung zu den Eltern gut ist, sind die Eltern auch wichtiger als alle anderen erwachsenen Bezugspersonen wie Lehrpersonen oder Berufsberatende.
Zur Ausbildungswahl und Lehrstellensuche gehört, dass man ständig beurteilt wird. Welche Folgen hat das für Jugendliche?
Es kommt hinzu, dass sich viele Jugendliche sowieso schon stark miteinander vergleichen. Für die Selbstsicheren mit guten Noten ist das kein Problem, denn sie erfüllen die Anforderungen. Für die anderen hingegen ist das schwierig, umso mehr, wenn sie immer wieder Absagen erhalten.
Einzelne sind noch nicht bereit für die Berufswahl. Wie merkt man das?
Bei vielen Kindern zeigt sich das schon sehr früh, etwa wenn Eltern sie lange in den Kindergarten begleiten müssen oder wenn sie eine Klasse repetieren. Bereitschaft für die Berufswahl zeigt sich darin, wie die Jugendlichen das Thema angehen. Da gibt es grosse Unterschiede. Es gibt immer wieder Jugendliche, die unter Druck eine Lehre beginnen und nach ein paar Monaten ständig Bauchschmerzen oder ein anderes Problem haben, für das es keine medizinische Erklärung gibt. Das kann ein Zeichen dafür sein, dass sie für den Wechsel von der Schule in die Lehre, der einen grossen Entwicklungsschritt bedeutet, noch nicht bereit sind. Für die Eltern ist das sehr schwer zu akzeptieren. Manchmal reicht dann ein zehntes Schuljahr, manchmal brauchen sie noch länger.
Das Interesse ist ein Zeichen für die Bereitschaft, die Berufswahl anzugehen?
Persönlich halte ich es für ein grosses Geschenk, wenn sich Jugendliche für die verschiedensten Dinge interessieren. Viele haben aber leider sehr eingeschränkte Interessen. Unter diesen Umständen ist es schwierig, herauszufinden, welchen Beruf man wählen soll.
Wie können Eltern ihre Kinder in dieser Phase unterstützen?
Das beginnt in der frühen Kindheit. Eltern, die weltoffen durchs Leben gehen, wecken bei ihren Kindern das Interesse für Neues, Unbekanntes. In der Berufswahl erhoffe ich mir von den Eltern, dass sie mit ihren Kindern thematisieren, welche Berufe es gibt, was die Bootsbauerin oder der Koch macht. Das kann man gut im Familienalltag besprechen.
Warum meistern viele Jugendliche die Berufswahl ohne grössere Probleme und andere tun sich so schwer?
Das ist eine Frage der Selbstsicherheit und der Ressourcen. Manche sind schüchtern oder geradezu ängstlich, trauen sich nicht, Erwachsene anzusprechen oder in einem Betrieb anzurufen. Eltern können mit ihren Kindern üben, wie man geschäftlich telefoniert, worüber man mit Erwachsenen reden könnte. Was wir auch beobachten, ist, dass oft Jugendliche Mühe mit der Berufswahl haben, die nie gelernt haben, Probleme zu lösen, weil das immer ihre Eltern für sie erledigt haben. Deshalb sollten Eltern spätestens in der Berufswahlzeit ablehnen, wenn ihre Kinder Aufgaben an sie delegieren. Sie sollen sie dabei unterstützen, es selbst zu tun. Nur so lernt das Kind, was es können muss, um in der Berufswelt zu bestehen.
Literaturtipps
Daniel Jungo: Elternratgeber Berufswahl
Daniel Jungo ist seit über zwei Jahrzehnten in der Berufs- und Laufbahnberatung tätig und Autor bzw. Co-Autor zahlreicher Bücher zum Thema Berufswahl. Der «Elternratgeber Berufswahl» beinhaltet viele praktische Tipps für alle, die Kinder und Jugendliche bei der Berufswahl begleiten und unterstützen. Das Buch liefert ausserdem viele Hintergrundinformationen, zum Beispiel zur gesellschaftlichen Bedeutung der Arbeit und zum Berufsbildungssystem der Schweiz.
Eigenverlag Daniel Jungo (www.danieljungo.ch) 2020, 180 Seiten, 24 Fr.
Reinhard und Simon Schmid: Berufswahl als Familienprojekt
Reinhard Schmid begann in den Siebzigerjahren die Familie in die Berufswahl einzubeziehen. 1987 gründete er das S&B Institut für Berufs- und Lebensgestaltung. Dieses gibt verschiedene Lehrmittel und Fachbücher zu den Arbeitsschwerpunkten des Instituts heraus. «Berufswahl als Familienprojekt» ist ein Arbeitsheft, das die Eltern während des Berufswahlprozesses ihres Kindes begleitet. Sie werden mit offenen und Multiple-Choice-Fragen zum Mitdenken angeregt. Besonders sinnvoll ist «Berufswahl als Familienprojekt», wenn das Kind in der Schule das Lehrmittel «Berufswahl-Portfolio» von Reinhard Schmid verwendet. S&B concept 2018, 36 Seiten, 12 Fr.
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