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Nun sei doch mal dankbar!

Lesedauer: 5 Minuten

Masslos und egoistisch statt wertschätzend: So erleben Eltern ihre Kinder immer wieder. Eine Frage der Erziehung? Oder können Kinder vielleicht gar nicht anders?

Text: Sandra Markert
Bild: Justin Paget / Getty Images

Da hat man bis spät abends den Kuchen mit grünen Marzipan-Dinos verziert. Geschenke hübsch eingepackt, den Tisch schön gedeckt. Und dann reisst das Geburtstagskind das Papier am frühen Morgen ratzfatz in Stücke. Schaut enttäuscht, weil ein anderes Präsent im Papier vermutet wurde. Und der Kuchen? Bäh, Marzipan!

Eltern schiesst in so einer Situation schon mal durch den Kopf: Was für ein undankbares Pack! Von früh bis spät ackert man für die Kinder, und dann scheinen sie nie zufrieden. «Warum muss ich in die Schule?» «Warum zum Fussballtraining?» «Wozu brauche ich eine Mütze?» Irgendetwas passt immer nicht. Und das Mass ist selten voll.

Dankbar sein bedeutet, dass der Mensch den Wert von etwas versteht und begreift, wer oder was zu diesem Wert beigetragen hat.

Mirja Kekeritz, Erziehungswissenschaftlerin

«Warum gibt es nur ein Eis?» «Warum kann Sophie morgen nicht noch mal bei uns übernachten?» Eine typische Eltern-Antwort: «Wir ermöglichen und erlauben euch so viel. Seid doch mal ein bisschen dankbar, dass ihr überhaupt zur Schule gehen dürft. Oder ein Eis bekommt!» Aber können Kinder das überhaupt, dankbar sein?

Dankbarkeit ist ein hochabstraktes Konstrukt

«Bis ins Jugendalter hinein eher nicht», sagt Karin Fasseing Heim, Leiterin des Studiengangs Kindergarten-Unterstufe und Dozentin für Pädagogik, Psychologie und Philosophie an der Pädagogischen Hochschule Thurgau in Kreuzlingen. Der Grund: Dankbarkeit ist ein hochabstraktes Konstrukt mit einer stark kognitiven Komponente.

«Dankbar sein bedeutet, dass der Mensch den Wert von etwas versteht und begreift, wer oder was zu diesem Wert beigetragen hat», erklärt Mirja Kekeritz vom Institut für Erziehungswissenschaften der Universität Osnabrück, die zum Thema Wertebildung im Grundschulalter forscht.

Dankbarkeit ermöglicht es Menschen, in eine anerkennende soziale Verbindung zu treten, weshalb sie auch als soziales Bindemittel gilt. «Im Dankbar-Sein erkennt der Mensch an, dass er auf anderes und andere angewiesen ist. Deshalb fördert Dankbarkeit auch das Wohlbefinden», so Mirja Kekeritz. Kein Wunder also, dass sich Eltern nach kindlicher Dankbarkeit sehnen.

Dankbarkeit entsteht aber nicht nur als Wert im Kopf. Sie ist durchaus auch als Gefühl wahrnehmbar. Und dazu sind auch schon jüngere Kinder in der Lage. «Die Wahrnehmung und Regulation von Emotionen beginnt mit der Geburt und entwickelt sich in vielfältigen sozialen Situationen. So lernen Kinder das, was sie fühlen, in Worte zu fassen und zu reflektieren», sagt Fasseing Heim.

Dankbarkeit ist eine Erwartung der Eltern, die für die Kinder aus entwicklungspsychologischer Sicht eine Überforderung darstellt.

Karin Fasseing Heim, Dozentin für Pädagogik, Psychologie und Philosophie

Dadurch fällt es ihnen dann im Primarschulalter auch leichter, ihre eigenen Gefühle zu kontrollieren, sich in andere hineinzuversetzen, Rücksicht zu nehmen oder Verantwortung zu tragen. Alles Dinge, die Fasseing Heim zufolge in der sozialen Entwicklung in diesem Alter zentraler und fassbarer sind als die Sache mit der Dankbarkeit.

«Man kann sich als Eltern ja durchaus mal kritisch fragen, wann im Leben man selbst schon echte Dankbarkeit empfunden hat. Mir fallen da vor allem existenzielle Situationen ein wie die Geburt eines gesunden Kindes oder das Überstehen einer schweren Krankheit», sagt Fasseing Heim.

Muss man sich als Eltern damit abfinden, kleine Egoisten grosszuziehen? Nein, sagt Karin Fasseing Heim.

Situationen also, in die Kinder gar nicht unbedingt geraten. Ihr Fazit: «Dankbarkeit ist eine Erwartung der Eltern, die für die Kinder aus entwicklungspsychologischer Sicht aus mehreren Gründen eine Überforderung darstellt.»

Kinder sollten früh lernen, sich zu bedanken

Muss man sich als Eltern also damit abfinden, kleine Egoisten grosszuziehen, die immer nur fordern, statt auch mal zu geben – und sei es nur ein «Danke»? «Nein. Gerade dieses kleine Wörtchen können Kinder ja schon ganz früh lernen, weil es mit einer klaren Situation verbunden ist: Ich bekomme etwas und im Gegenzug sage ich danke», sagt Karin Fasseing Heim.

Zwar sei es dann vielleicht erst einmal nicht mehr als eine Geste, weil dahinter eben nicht zwingend das Gefühl der Dankbarkeit stecke. «Aber ‹Danke› sagen ist in unserer Gesellschaft so wichtig, um positiv wahrgenommen zu werden, dass es sich trotzdem lohnt, es Kindern früh beizubringen. Die Dankbarkeit gesellt sich dann vielleicht über die Jahre dazu», sagt Fasseing Heim.

Tipps: Dankbarkeit in den Alltag holen

Die Erziehungswissenschaftlerinnen Mirja Kekeritz und Ulrike Graf haben für das niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung einige Ideen gesammelt, wie man Kindern das Thema Dankbarkeit näherbringen kann:

Tagebücher: Jeden Tag wird aufgeschrieben, gemalt oder fotografiert, worüber man sich heute gefreut hat, wer oder was einem wichtig ist, wofür man dankbar ist.

Geschichten: Bücher, in denen es um Themen wie Dankbarkeit oder Wertschätzung geht, schaffen Anlässe, um über diese Werte ins Gespräch zu kommen.

Briefe: Zum Geburtstag gab es ein Päckchen von der Patentante? Ein guter Anlass, um sich mit einem Brief zu bedanken. Dabei wird Dankbarkeit in Worte gefasst.

Baum: «Ich sage Danke für … » – kleine Zettel mit dieser Botschaft wurden in einem Experiment der Erziehungswissenschaftlerinnen bei einem Schulfest ausgeteilt, von den Anwesenden beschriftet und an einen Dankbarkeitsbaum gehängt. Das kann man so oder ähnlich auch in der Familie machen.

Also reicht ein kleines «Danke» und schon darf man sich auf die Geschenke stürzen oder den Geburtstagskuchen verschmähen? «Nein, aber das, was Eltern in solchen Momenten von ihren Kindern sehen möchten, ist vielleicht weniger Dankbarkeit. Ich würde es eher als Anerkennung und Wertschätzung, Respekt oder Achtsamkeit bezeichnen», sagt Fasseing Heim.

Wertschätzendes Verhalten sei für Kinder viel konkreter und auch nicht so komplex wie die Dankbarkeit und deshalb für sie leichter zu zeigen. Vorausgesetzt, die Kinder erleben Wertschätzung im Alltag.

Eltern sind Vorbilder

«Wie fast alles lernen Kinder auch Emotionen und soziale Umgangsformen vor allem durch das Beobachten von anderen Kindern und Erwachsenen», sagt Fasseing Heim. Nehmen diese sich beim Auspacken von Geschenken Zeit?

Sagen sie zu ihrem Partner, dass das Essen heute aber fein schmeckt? Dass sie sich über das geputzte Bad freuen? Oder versucht man sich als Vater oder Mutter gar mal mit Selbst-Wertschätzung? «Was spricht dagegen, sich laut darüber zu freuen, dass die Omeletten heute aber gut gelungen sind?», fragt Fasseing Heim.

All das sei besser, als darauf zu warten, dass die Kinder von sich aus mit anerkennenden Worten kommen. Im besten Fall schauen sie sich das erwünschte Verhalten ab. Erwarten aber können es Eltern nicht. «Ich würde Anerkennung und Wertschätzung mehr als Bonus sehen, den man an manchen Tagen eben obendrauf bekommt», sagt Fasseing Heim. Und manchmal zeigen Kinder das auch erst zeitversetzt.

Zum Beispiel bei einem Familienausflug oder in den Ferien. Was wird da manchmal gemeckert (lange Fahrt, zu heiss, zu langweilig!) und gequengelt (So weit laufen! Wann können wir wieder nach Hause?). Und dann schaut man sich irgendwann zusammen Fotos an und staunt, welche positiven Erinnerungen wachgerufen werden.

Und falls nicht? «Dann muss man sich als Eltern auch mal ehrlich fragen, wer eigentlich den Ausflug machen wollte. Und sich damit zufriedengeben, dass man zumindest selbst einen schönen Tag oder schöne Ferien hatte», sagt Fasseing Heim.

Auch der Dino-Kuchen war ehrlicherweise mehr so ein Selbstverwirklichungsprojekt. Er sah wirklich sensationell schön aus. Aber geschmacklich, all dieses künstlich-grüne Marzipan? Bäh!

Das Wichtigste in Kürze
  • Dankbarkeit ist ein sehr komplexer Wert, der erst ab dem Jugendalter wirklich verstanden und gelebt werden kann.
  • Das, was Eltern meinen, wenn sie Dankbarkeit fordern, ist häufig eher Respekt, Wertschätzung oder Achtsamkeit.
  • Kinder lernen solche Gefühle am besten, wenn Eltern sie im Alltag aktiv vorleben.
  • Statt darauf zu warten, dass die Kinder einem Wertschätzung entgegenbringen, kann man auch mal mit gutem Beispiel vorangehen und sich laut selbst wertschätzen. Vielleicht stimmt ja jemand in das Lob übers Mittagessen ein.
  • Manche Dinge, für welche Eltern Dankbarkeit oder Wertschätzung einfordern, wollten die Kinder selbst ­vielleicht gar nicht.

Sandra Markert
ist freie Journalistin und Mutter von drei Kindern im Kindergarten- und Primarschulalter. Sie lebt mit ihrer Familie am Bodensee.

Alle Artikel von Sandra Markert

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