8 Fragen und Antworten rund um Mutterschaft

Müssen Mütter all ihre Kinder gleich lieb haben? Erziehen Mütter anders als Väter? Diese und weitere Fragen beantworten ausgewiesene Expertinnen und Experten.
1. Was braucht ein Kind von seiner Mutter?
Liebe, Sicherheit und Aufmerksamkeit; eine klare Haltung; Regeln, die einen Rahmen vorgeben, genauso wie die Möglichkeit zur Autonomie. Was ein Kind nicht braucht: Perfektion. Im Gegenteil, es ist wertvoll für Kinder, wenn Eltern Fehler machen und diese auch zugeben. Sie können eine Menge lernen, wenn wir sie daran teilhaben lassen, wie wir mit eigenen Unzulänglichkeiten und negativen Emotionen umgehen; erst recht, wenn sie an unserem Beispiel miterleben, dass man sich vom Scheitern nicht entmutigen lässt, nach neuen Lösungen suchen und aus Fehlern lernen kann.
Moritz Daum, Professor für Entwicklungspsychologie, Universität Zürich
2. Erziehen Mütter anders als Väter?
Ja und nein. Väter sind nach wie vor seltener zu Hause als Mütter. Sie haben weniger Zeit mit den Kindern und nutzen diese dann meist intensiver, zum Beispiel mit aktiven, körperorientierten Spielen. Väter werfen ihre Kinder hoch, raufen oder toben mit ihnen herum. So erlebt das Kind die Beziehung zum Vater als aufregend. Dies hat weniger mit dem männlichen Geschlecht zu tun als mit der Tatsache, dass Väter die knappere Zeit mit den Kindern attraktiv gestalten wollen.
Prägend für ein Kind ist, wie wir die Zeit mit ihm verbringen, nicht wer sie mit ihm verbringt.
Moritz Daum, Entwicklungspsychologe
Untersuchungen zeigen, dass auch Mütter, die Vollzeit arbeiten, zu dieser Art von Spiel neigen. Zum Raufen etwa, bei dem sich die Kinder in Empathie üben: Sie lernen, Impulse zu regulieren und mit dem Gegenüber so umzugehen, dass das Spiel für beide Seiten angenehm bleibt. Es sind vor allem Väter, die mit den Kindern raufen, aber das hat wie gesagt mehr mit den Umständen als mit dem Geschlecht zu tun. Aus 40 Jahren Forschung wissen wir, dass es zwischen Müttern und Vätern in der Elternrolle mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede gibt.
Wassilios Fthenakis, Familienforscher und emeritierter Professor für Entwicklungspsychologe und Anthropologie an der Freien Universität Bozen
3. Auf welche Entwicklungsbereiche haben Mütter einen besonders starken Einfluss?
Die Zeiten, in denen Geschlechterrollen und familiäre Zuständigkeiten klar definiert waren, sind vorbei. Sicher beeinflussen biologisch bedingte Unterschiede zwischen den Geschlechtern, etwa der Hormonhaushalt, unser Verhalten mit. Geht es darum, wie Eltern Kinder prägen, sind andere Aspekte vermutlich entscheidender: Es kommt darauf an, wie wir die Zeit mit dem Kind verbringen, auf die jeweilige Persönlichkeit und ihre Zuständigkeiten dem Kind gegenüber.
Da lässt die heutige Vielfalt an Rollen- und Familienmodellen keine Pauschalaussagen zu. Zum Beispiel leisten die meisten Mütter und Väter sowohl Care- als auch Berufsarbeit. Kinder erleben beide als häusliche Bezugsperson sowie als Tor zur Aussenwelt, das früher eher der Vater war. Dessen Perspektive galt denn auch als kognitiv stimulierend, weil sie über das Familiäre hinausging.
Moritz Daum
4. Müssen Mütter alle ihre Kinder gleich lieb haben?
Das ist der Anspruch, aber nicht die Realität, wie Studien belegen. Den meisten Eltern steht ein Kind näher als das andere, zumindest phasenweise. Ein Kind ist eine individuelle Persönlichkeit, deren unverwechselbares Aussehen, Verhaltensweisen und Eigenschaften in uns etwas auslösen. Sie treffen dort auf eigene Prägungen, auf unbewusste Erwartungen und Sehnsüchte, Vorlieben und Abneigungen.
So erkennt man in der sanften Art des Sohnes vielleicht die geliebte Grossmutter wieder, während die Wutanfälle der Tochter Erinnerungen an den cholerischen Vater wecken. In der Regel bringen Mütter und Väter für dasjenige Kind am meisten Sympathie auf, das ihnen am ähnlichsten ist. Oder man bewundert ein Kind gerade deshalb, weil es über Eigenschaften verfügt, die man selbst nie hatte. Wenn Eltern sich bewusst machen, woran die engere Beziehung zum einen Kind liegt, und sich auch um den Zugang zum anderen wirklich bemühen, ist das okay.
Jürg Frick, Zürcher Psychologe, Forscher und Buchautor, unter anderem zu Geschwisterthemen
5. Was unterscheidet die Mutter-Sohn-Beziehung von der Mutter-Tochter-Beziehung?
Die meisten Kinder verbringen in den ersten Lebensjahren mehr Zeit mit der Mutter. Vermutlich ist deshalb die Beziehung zu ihr meist enger und sie die erste Ansprechperson fürs Emotionale. Mit der Pubertät gehen vor allem Söhne auf Abstand. Dabei spielen Identifikationsaspekte eine wichtige Rolle: Die Mutter hat ein anderes Geschlecht, ihr bleiben Veränderungen, die Jungs in dieser Zeit durchlaufen, weitgehend fremd. Dafür weiss sie aus erster Hand, was die Pubertät für ein Mädchen bedeutet, und als engste Bezugsperson desselben Geschlechts ist ihre Vorbildwirkung ungleich stärker.
All dies kann dazu führen, dass die Mutter-Tochter-Beziehung inniger, aber auch konfliktreicher ist. Die Gemeinsamkeiten als Frau können verbindend wirken, bergen aber auch die Gefahr, dass Unterstützung zur Bevormundung wird. Manchen Töchtern fällt die Abgrenzung von der Mutter noch im Erwachsenenalter schwer, andere fordern sie im Teenageralter lautstark ein – nicht selten mit Vorwürfen, die den Lebensentwurf der Mutter infrage stellen und deutlich machen: Ich bin nicht wie du.
Moritz Daum
6. Welchen Einfluss hat die Berufstätigkeit der Mutter auf ihre Beziehung zum Kind?
Die Forschung zeigt: Ist die Mutter ihrem Job gegenüber positiv eingestellt und wird darin von ihrem Partner unterstützt, dann hält sich ihr schlechtes Gewissen darüber, dass die Zeit mit den Kindern begrenzt ist, diesen gegenüber in Grenzen. Verbindet die Mutter ihre Schuldgefühle jedoch mit einer negativen Sicht auf ihre Erwerbstätigkeit, weil sie diese als emotional belastend und stressig erlebt, sind die Kinder kritischer eingestellt und klagen eher über ihre eigene Befindlichkeit.
US-Forscher befragten Kinder, was sie sich von ihrer Mutter wünschen. Fast 70 Prozent sagten, dass diese weniger müde und gestresst sein sollte. Man hatte geglaubt, dass sich die Kinder in erster Linie mehr Zeit mit der Mutter wünschten, doch war für diese vor allem das Wohlbefinden der Mutter entscheidend. Der Eindruck, dass diese zufrieden und ihrer Lage gewachsen ist – nicht primär mehr Zeit mit ihr –, war der Schlüsselfaktor, mit dem Kinder die Qualität der Beziehung zur Mutter bewerteten.
Margrit Stamm, emeritierte Professorin für Erziehungswissenschaft an der Universität Freiburg und Leiterin des Forschungsinstituts Swiss Education
7. Wie verändert Mutterschaft das emotionale Wohlbefinden einer Frau?
Im Rahmen einer Studie für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung untersuchten wir diesen Zusammenhang 2018 mithilfe repräsentativer Längsschnittdaten. Und stellten fest: Rund jede fünfte Frau, die Mutter geworden war, fühlte sich in den darauffolgenden Jahren besser als vorher. Ein Drittel erlebte jedoch eine substanzielle Verschlechterung, zeigte eine Zunahme von Belastungssymptomen wie mentalen Stress, depressive Verstimmungen oder Angstgefühle.
Die widersprüchlichen Leitbilder einer idealen Mutterschaft sorgen bei vielen Frauen für Stress.
Marco Giesselmann, Soziologe
Bemerkenswert ist, dass diese Beschwerden in den Jahren nach der Geburt eher zu- als abnahmen. Als Grund dahinter vermuten wir, was Untersuchungen aus den Gender Studies nahelegen: Frauen sehen sich mit widersprüchlichen Leitbildern idealer Mutterschaft konfrontiert. Da ist einerseits das Vorbild der allzeit verfügbaren Mutter, die ihr Kind immer an erste Stelle stellt. Kontrastiert wird es andererseits durch ein Leitbild von ebenfalls starker Prägekraft: das der erwerbstätigen und beruflich erfolgreichen Mutter, die nicht «nur» Hausfrau ist.
Mütter wollen beiden Idealen gerecht werden, merken aber, dass diese im Grunde nicht vereinbar sind. Zurück bleibt ein Gefühl von Unzulänglichkeit, das Schuldgefühle erzeugt – und die wiederum mentalen Stress.
Marco Giesselmann, Professor für Soziologie, Universität Zürich
8. Schulden wir unserer Mutter Dankbarkeit?
Die Frage fällt oft, wenn sich erwachsene Kinder und ihre Mütter in nicht enden wollenden Konflikten aufreiben. Sicher: Es gibt Mütter, die eine Annäherung schwer, fast unmöglich machen. Tatsache ist aber auch, dass eine Veränderung in der Beziehung zur Mutter eine Entscheidung voraussetzt: Wohin richten wir unseren Blick? Bleiben wir dabei, dass die Mutter unser Glück verhindert und deshalb den ersten Schritt zu tun hat? Oder öffnen wir den Blick auch dafür, was wir von ihr bekommen haben, selbst wenn es ganz wenig sein mag?
‹Was ist das Positive, das ich von meiner Mutter bekommen oder gelernt habe?› – das ist eine Frage, auf die man ein wenig Zeit verwenden kann. Ganz unabhängig davon, ob die Mutter noch lebt. Es geht um den inneren Frieden mit ihr – und damit auch mit uns selbst. Vielleicht resultiert daraus Dankbarkeit. Nicht im Sinne einer Schuldigkeit, sondern schlicht für dieses Leben.
Claudia Haarmann, Buchautorin und Therapeutin in eigener Praxis mit Fokus Bindungs- und Beziehungsdynamik in Familien