Legasthenie: Förderung bereits im Kindergarten notwendig

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Mithilfe von Gehirnscans untersucht Neurowissenschaftler John Gabrieli, was Kinder mit einer Lese-Rechtschreib-Störung von anderen unterscheidet. Das könnte den Weg für neue Interventionen ebnen.
Herr Gabrieli, was weiss die Neurowissenschaft über Legasthenie und wie hat sich das Wissen über die Jahre verändert?
Und heute?

Neben seiner Forschungstätigkeit lehrt er im Department of Brain and Cognitive Sciences und ist Grover Hermann Professor in der Harvard-MIT Division of Health Sciences and Technology. Ausserdem ist er in der Abteilung für Psychiatrie am Massachusetts General Hospital und an der Harvard Graduate School of Education tätig und leitet die MIT Integrated Learning Initiative. Im Rahmen seiner Arbeit nutzt John Gabrieli Neuroimaging – die bildliche Darstellung von Struktur und Funktionsweise des Gehirns beim lebenden Menschen –, um grundlegende Fragen zu Emotionen, Alterung und Erinnerungsvermögen zu erforschen.
Geht diese mangelnde phonologische Bewusstheit mit wahrnehmbaren Unterschieden in der Struktur oder Funktionsweise des Gehirns einher?
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass diese Hirnbereiche bei Kindern und Erwachsenen mit Legasthenie anders funktionieren. Ausserdem wurde nachgewiesen, dass sich die Anatomie des Gehirns bei legasthenischen Kindern in manchen Aspekten von anderen unterscheidet. Diese Unterschiede treten schon vor dem Schuleintritt auf, teils bereits im ersten Lebensmonat.
Ihr Forschungslabor hat kürzlich eine Studie zur Gehirnplastizität bei Menschen mit Legasthenie veröffentlicht. Was haben Sie herausgefunden?
Und bei Personen mit einer Leseschwäche?
Überrascht hat uns, dass die geringere Plastizität auch Aspekte betraf, die mit dem Lesen nichts zu tun haben, wie das Erkennen von Gesichtern und Objekten. Da man Menschen mit Legasthenie bisher nicht mit Schwierigkeiten bei der Gesichts- oder Objekterkennung in Verbindung gebracht hat, ist uns dieses Resultat ein Rätsel.
«Lehrer können sich oft nicht entscheiden, ob ein Schüler tatsächlich ein Leseproblem hat, bis er soweit hinterher hinkt, dass das Problem zur Krise wird. Das ist tragisch.»
Ein Jahr zuvor haben Studien gezeigt, dass Legastheniker es schwieriger finden, Stimmen zu erkennen. Hat das ebenfalls mit einer geringeren Gehirnplastizität zu tun?
Welche Frühinterventionen gibt es für Kinder mit Legasthenie?
Helfen diese überhaupt?
Wohlmeinende Lehrer können sich nicht entscheiden, ob ein Schüler tatsächlich ein Leseproblem hat, bis er so weit hinterherhinkt, dass das Problem zur Krise wird. Das ist tragisch, denn so verpassen diese Kinder nicht nur die Chance auf frühzeitige Unterstützung, sondern bekommen auch das Gefühl, in der Schule zu versagen. Schüler, die weit hinter der Leistung ihrer Klassenkameraden zurückliegen und mit dem Unterrichtsstoff kämpfen, verlieren ihren Optimismus und ihr Selbstvertrauen in Bezug auf die schulische Leistungsfähigkeit.
«Je schneller wir Legastheniker identifizieren und unterstützen, desto besser ist das für sie.»
Glauben Sie, dass Ihre Forschungsergebnisse zu einer Verbesserung der aktuellen Interventionen beitragen könnten?
An Tieren erforscht man derzeit die spannende Möglichkeit, Medikamente zur Förderung der Plastizität zu entwickeln – das ist allerdings für den Einsatz beim Menschen noch nicht geeignet. Es ist schwer vorstellbar, dass es einmal Arzneimittel geben könnte, die sich direkt auf die Sprachkompetenz auswirken, doch Medikamente zur Förderung der Plastizität sind durchaus denkbar. Bevor eine derartige Behandlung beim Menschen in Betracht gezogen werden kann, müssten allerdings zunächst einige ethische Fragen geklärt werden.
Dieser Text erschien zuerst in englischer Sprache auf BOLD – Blog on Learning and Development.
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- «Eine Legasthenie kann man nicht wegtherapieren. Man kann aber dem Kind helfen, das Beste aus seinen begrenzten Lesekompetenzen zu machen und sollte es dabei nicht überfordern», sagt Remo Largo im grossen Fritz+Fränzi-Monatsinterview.